"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ein Nato-Eingriff

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Es ist grundsätzlich peinlich, wenn man sich zum Kriegsgeschehen äußert, ohne über die relevanten Informationen zu verfügen, aber man kommt nicht drum rum, weder im Nahen Osten noch in der Ukraine: Man muss im Meer der polarisierten und Falschinformationen von allen Seiten ein paar Planken finden, auf denen man sich halten kann. Was die Ukraine angeht, so staune ich nach wie vor, wie gut sich deren Streitkräfte halten.
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10:49 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 29.03.2024 / 15:53

Dateizugriffe: 41

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 29.03.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Es ist grundsätzlich peinlich, wenn man sich zum Kriegsgeschehen äußert, ohne über die relevanten Informationen zu verfügen, aber man kommt nicht drum rum, weder im Nahen Osten noch in der Ukraine: Man muss im Meer der polarisierten und Falschinformationen von allen Seiten ein paar Planken finden, auf denen man sich halten kann. Was die Ukraine angeht, so staune ich nach wie vor, wie gut sich deren Streitkräfte halten.
Offensichtlich sind sie technologisch dem Gegner mindestens ebenbürtig, vielleicht nicht in allen Teilen, aber insgesamt eben doch; das ist mit Sicherheit die Frucht der nunmehr zehnjährigen Aufrüstung der ukrainischen Armee durch Nato-Ausbildner:innen und mit Nato-Kommunikations- und -Waffensystemen. Insofern stehen sich in der Ukraine tatsächlich Russland und die Nato gegenüber, was vor allem für die Nato ein fantastischer Testfall ist mit einer Kriegsübung, wie sie das beste Manöver niemals bieten könnte mit echten Soldaten und einem echten Gegner, nicht mit irgendeinem echten Gegner, sondern mit dem Gegner an und für sich mehr oder weniger seit Ende des Zweiten Weltkrieges.

Wenn sich die Ukraine nun seit über zwei Jahren dank dieser Nato-Unterstützung recht glorreich aus der Affäre gezogen hat, beginnt sich jetzt der über zweihundertjährige strukturelle Vorteil Russlands wieder abzuzeichnen, nämlich die Tiefe des Landes, aus welcher mehr oder weniger unerschöpfliche Reserven fließen, und zwar nicht in Bezug auf die modernste Waffentechnologie, sondern in Bezug auf den Nachschub mit Menschenmaterial. An den ukrainischen Frontlinien kämpfen seit zwei Jahren die gleichen Truppen, die dadurch einerseits kriegserfahren geworden sind, anderseits aber auch irgendwann mal die Schnauze voll haben. Ablösung und Ersatz können laut der aktuellen Kriegsdoktrin nur von der Ukraine selber gestellt werden, auch wenn immer ein paar Nato-Truppenteile in diesem Krieg im Einsatz sind, vor allem in der Erkundung des gegne­ri­schen Terrains und der gegnerischen Truppenbewegungen sowie bei den Kommunikations­mitteln, im Drohnenkrieg, bei der Luftabwehr und bei der elektronischen Zielerfassung an der Front und hinter den Linien des Gegners. Aber entschieden werden die Kämpfe nach wie vor im klassischen Format, also mit Vorstößen, ihrer Abwehr oder mit Durchbrüchen an der Frontlinie. Das ist schon mal etwas erstaunlich, wenn man sich zum Beispiel vorgestellt hat, dass der moderne Krieg je länger desto mehr ein Kampf zwischen verschiedenen Entwicklungsständen der Kriegstechnologie sei. Ganz so scheint es nicht zu sein, wobei wir vermutlich auch noch um Einiges entfernt sind von dem, was die Nazis seinerzeit den «totalen Krieg» genannt haben.

Ich weiß nicht, für wie viele Frühlings-, Sommer- und Herbst-Gegenoffensive die Ukraine noch Kraft hat, aber ich habe den Eindruck, dass sich die Waage langsam zugunsten von Russland neigt. Ob das weiterhin ein zähes Ringen um ein paar Kilometer Frontlinie bedeutet oder ob sich irgendwann einmal ein rascher Vorstoß der russischen Truppen ereignet, kann ich nicht sagen; und noch viel weniger kann ich sagen, wie sich das Nato-Hauptquartier in einem solchen Fall verhalten wird. Ein offizielles Eingreifen der Nato ins Kriegsgeschehen verwandelt alle Mitgliedländer dieser Nato zu Kriegsparteien, welche damit zum Ziel russischer Angriffe werden können. Das heißt nicht, dass Russland von einem Tag auf den anderen massive Raketenangriffe auf das gesamte Nato-Territorium lancieren würden, wenn auch ein paar symbolische Bombentreffer in den europäischen Hauptstädten wohl unvermeidbar wären. Aber das eigentliche Kriegstheater würde sich mindestens unmittelbar nach einem Nato-Eintritt in den Krieg weiterhin auf die Ukraine beschränken. Was danach folgt, ist großräumig und flächendeckend unabwägbar.

Ist umgekehrt die Ukraine in der Lage, diesen Krieg zu gewinnen und ihre Kriegsziele zu erreichen, also die Russen aus dem ganzen früheren ukrainischen Staatsgebiet hinaus zu werfen, von der Krim bis an die Nordgrenze zu Russland? Wie gesagt: Ich weiß es nicht, aber nach dem, was man sich aus der aktuellen Berichterstattung zusammen reimen kann, erscheint es ziemlich unwahrscheinlich. Damit dürfte sich die Situation mittelfristig auf jene Entscheidung zu bewegen, ob die Nato bereit ist, offiziell an der Seite der Ukraine ins Geschehen einzugreifen. Wobei schon jetzt feststeht, dass dies nicht weitere Waffenlieferungen bedeutet, denn das tut die Nato seit zwei Jahren so stark, wie sie kann; hier geht es dann tatsächlich um Nato-Truppen, die in der Ukraine an die Front gehen. Hier stellt sich zunächst die Frage, wie viele Nato-Soldaten wirklich bereit sind, für das von José Barroso angerichtete Schlamassel dann auch tatsächlich den Kopf hinzuhalten. Das ist dann doch noch einmal ein anderes Kaliber, als die einheimische Wirtschaft wieder stärker auf die Produktion von Waffen auszurichten, welche dann aber eben in einem anderen Land und von anderem Militärpersonal eingesetzt werden. Man wird das sehen. Wie immer gibt es überall Leute, welche die Chance auf einen Vernichtungsfeldzug gegen Russland wittern, und es gibt wie immer auch Leute, welche die Lage etwas besonnener einschätzen.

Da hat man es im Gazastreifen einfacher. Auf Seiten der Hamas stehen nur beschränkte technologische Kapazitäten zur Verfügung, es handelt sich um eine Art von verformtem Guerilla-Krieg, bei welchem die Guerilla weitgehend mit der Bevölkerung verschmolzen ist, aber grundsätzlich gar nicht im Land kämpft, sondern wie eine reguläre Armee gegen ein anderes Land. Bis im September letzten Jahres konnte man dies als weitgehend rituelle Kriegshandlungen ansehen, die vor allem aus dem Abschuss zahlloser Raketen bestanden, welche von der israelischen Raketenabwehr lückenlos abgefangen wurden. Mit dem Terrorangriff vom 7 Oktober erhielt dieser Krieg mit einem Schlag seine reale Dimension mit dem israelischen Kriegsziel, die Hamas zu zerstören. Dass dies angesichts der engen Verzahnung der Hamas mit der Zivilbevölkerung nicht ohne Opfer unter dieser Zivilbevölkerung zu bewerkstelligen ist, wussten alle Beteiligten, sowohl die israelische Armee als auch die Hamas, die sich auf die, nach ihrer Einschätzung mächtigste Waffe verließ, nämlich die internationale Betroffenheit und Solidarität, das humanitäre Entsetzen, das aus allen Stellungnahmen und Artikeln seit einem halben Jahr unüberhörbar hervor geht. Angesichts des barbarischen, notabene absolut un- oder antiislamischen Gemetzels vom 7. Oktober ist es schon ein bitterer Scherz, dass sich ausgerechnet die Verantwortlichen mit humanitären Argumenten gegen Israel verteidigen wollen; dass sie zudem die Geiseln als Wunderwaffe benutzen, ist zwar gegen jeden Kodex, fällt aber unter die gleiche Logik. So oder so: Wir sind nun mal in dieser Phase, und die Logik des israelischen Vorgehens ist ebenso klar wie verständlich: Hier wird für die nächsten, was soll ich sagen: fünfzig Jahre gezeigt, mit welchen Konsequenzen die Strategen des Terrors zu rechnen haben; vielleicht wichtiger noch als die Strategen ist die ganze Bevölkerung, welche trotz aller Propaganda eins und eins zusammen zählen kann und genau weiß, wem sie die aktuelle Katastrophe zu verdanken hat – es ist nicht die israelische Armee. Diese tut einfach das, was sie für unausweichlich hält und bemüht sich dabei, den Schaden möglichst in einer militärischen Dimension zu halten. Das tönt angesichts der sichtbaren, radikalen Zerstörungen im Gazastreifen zunächst schönrednerisch, aber ich denke, dass ein militärisches Vorgehen ohne jede Rücksichtnahme wohl das Zehnfache an Opfern produziert hätte. Man braucht das nicht gut zu finden oder kann sich darüber bitter lustig machen, aber so sieht das im Moment aus.

Dass die militärische Kampagne begleitet wird von scheinbar unnötigen Nebenhandlungen zur Schikanierung der Bevölkerung, vor allem mit der Behinderung von Hilfeleistungen, und dass in Westjordanien der israelische Staat die Besetzung von Ländereien und Dörfern eher noch beschleunigt als sie in Grenzen zu halten, ist eine Seite dieses Krieges, welche nicht direkt mit dem Gazastreifen zu tun hat, sondern mit der demokratisch gewählten Regierung, in welcher die Hardliner das Übergewicht haben; aber, soviel kann ich jetzt schon sagen, jede israelische Regierung in den letzten dreißig Jahren hat genau die gleiche Politik betrieben, das wird sich unabhängig vom Krieg nicht ändern.

Davon abgesehen bin ich etwas überrascht festzustellen, dass die Kampagne der israelischen Armee Aussichten auf Erfolg hat, dass also namentlich das Tunnelsystem als wichtigstes militärisches Netzwerk der Hamas demnächst einmal unter israelischer Kontrolle ist, ganz abgesehen von der Vernichtung der militärischen Schlagkraft der Organisation. Dieser Erfolg war nicht zum Vornherein klar. Nun bleibt nur zu hoffen, dass er möglichst schnell und vollständig eintreten werde; einen anderen Weg zum Ende der Kriegshandlungen gibt es offensichtlich nicht. Und wenn es dann soweit ist, dann warten wir gespannt auf die Ansätze, nicht der internationalen Gemeinschaft, sondern des israelischen Staates, wie der Gazastreifen in ein Gebiet mit funktionierenden Infrastrukturen und einer eigenen produktiven Industrie aufzubauen sei. Dies ist nicht nur die Schuldigkeit des israelischen Staates, sondern es ist auch das einzige Mittel, um auf dem Gebiet langfristig Frieden herzustellen. Es wäre naiv zu fordern, dass hier die palästinensi­sche Bevölkerung in völliger Autonomie mit den Mitteln der internationalen Staatengemeinschaft ihr eigenes Land aufbauen solle. Was daraus entsteht, haben wir bei der Palästinenser:innenbehörde in Ramallah gesehen. Nein, hier muss Israel zeigen, was es kann, unter anderem vermutlich mit gemischten oder gemeinsamen Behörden und auch mit ausgezeichneten Schulen, vielleicht auch einer Universität. Dies ist das absolute Minimum, um nicht den Gazastreifen, sondern den israelischen Staat vor dem Untergang zu retten. Denn ansonsten hat die Regierung Netanyahu jeglichen Kredit verspielt, auch für ihre Nachfolgeregierungen, die man dann so gemäßigt nennen kann wie man will, die aber trotzdem die bisherige Politik weiter schreiben.

Was mich angeht, so würde ich mich gerne der Forderung anschließen, dass auf dem Gebiet von Israel und Palästina, also zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan, ein einziger Staat entstünde, der modern wäre und im Kern laizistisch. Will sagen: den ultraorthodoxen Juden wäre in einem solchen Staat jegliche politische Betätigung untersagt. Ansonsten wäre der Ausübung der jeweiligen Religion vollkommen legal, einfach unter dem obersten Siegel der gegenseitigen Toleranz. Und eben, auch hier: moderne Infrastrukturen, moderne Universitäten, moderne Industrien. Ich habe das hier schon einmal erwähnt, aber es ändert nichts daran, dass sich in absehbarer Zeit kaum etwas in diese Richtung tun wird. Es sei denn, die Israeli machen einen Anfang auf dem Gazastreifen.