Das social Distel-Ding – Ein ganzes halbes Jahr und viele Vs

ID 104015
 
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Teil 56 der Kolumne aus dem social distancing - diesmal mit einer Halbjahresbilanz und einem Ausblick auf die Demo mit Nazis in Berlin
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mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 29.08.2020 / 18:34

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 29.08.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Mittlerweile sind wir social Distel-Dinger seit über einem halben Jahr im Ausnahmezustand. Genauer gesagt im weltweiten Ausnahmezustand. Alles dreht sich um den Virus, selbst die Argumentation derjenigen die die Pandemie an sich nicht anerkennen wollen. All die Themen von denen wir dachten sie würden das Jahr 2020 beherrschen sind in den Hintergrund gerückt. Wo sind sie nur hin, die Sondersendungen zum anstehenden Brexit, zum Klimawandel und zur viel zu deutlichen Verbreitung des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik.
Stattdessen hat das Virus uns viele Vs gebracht. Verbreitung, Verunsicherung, Vermittlung, Verantwortung, Vertrauen, Verschwörung, Verarschung und nicht zuletzt der Verbleib zuhause.
All diese Vs sind auch absolut nachvollziehbar. Eine neue, unbekannte Krankheit verbreitet sich rasend schnell um den Globus. Die Gefahren, die Ansteckungsmöglichkeiten und nicht zuletzt der Schutz vor ihr, all das war ungeklärt und führte zu Verunsicherung. Nicht nur die Frage bin ich sicher vor Ansteckung, nein auch die Frage, bin ich ansteckend, beschäftigten und beschäftigen uns social Distel-Dinger bis heute.
Die Folge daraus war die Vermittlung von dem was die Forschung und Politik als gesichertes Wissen glaubte verbreiten zu können. Und wie es eben so mit dem Wissen ist, das Nichtwissen überwiegt. Jede wissenschaftliche Feststellung steht nur so lange fest, bis sie widerlegt wurde.
Zusätzlich zu dieser unbequemen Position des nichts wirklich gesichert Wissens kam dann noch das Problem der Verantwortung, das vor allem die Politik betraf. Wie sollte damit umgegangen werden, dass die Verunsicherung so groß war, dass selbst Billiggüter ohne Schutzwirkung vor dem Virus, wie beispielsweise Klopapier, plötzlich massenhaft aufgekauft wurden und sich damit schon anzeigte, dass in der Krise sich scheinbar jede und jeder selbst der Nächste ist? Hätte eine frühe Maskenempfehlung zu einem besseren Schutz geführt, oder wären wir nach einer Empfehlung noch tiefer in die Krise gerutscht, weil dann Masken, wie schon Desinfektionsmittel, aus Krankenhäusern geklaut worden wären? Im nächsten Schritt wäre vermutlich das Klinikpersonal ungeschützt gewesen und erkrankt, was letztlich wirklich zu einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems geführt hätte.
Auf das Verantwortungsgefühl der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, der Politikerinnen und Politiker sowie auch der Medien zu vertrauen, war demnach notwendig, um zumindest den Glauben daran zu bewahren, dass wir schon irgendwie durch diese Pandemie kommen werden. Vertrauen hat immer einen passiven und naiven Anstrich, letztlich kann es ohne unser Wissen missbraucht und wir könnten hintergangen werden. Allerdings ist es nicht passives Gottvertrauen, wenn das social Distel-Ding darauf setzt, dass die beratenden wissenschaftlichen Koryphäen, die Ministerien, die fleißig arbeitende Opposition, die Gerichte, die zahllosen Journalistinnen und Journalisten sowie die aufgeklärte Öffentlichkeit den richtigen Umgang mit der Krise und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie vernünftig aushandeln.
Letztlich treffen auch uns social Distel-Dinger die Punkte Verantwortung und Vertrauen. Wir haben die Verantwortung auf uns genommen die Virusausbreitung zu stoppen, indem wir zuhause blieben und bleiben, Masken aufsetzen und auf Distanz achten. Wir haben unser bestes gegeben die Risikogruppen zu schützen und mussten einander vertrauen, dass jede und jeder alles dafür tut, sich selbst und andere nicht anzustecken. Was sehr anstrengend war und ist.
Die Verantwortung lastet schwer auf unseren Schultern. Die Verunsicherung ob man selbst nicht doch jemanden anstecken könnte und damit unwillentlich das Leben anderer gefährdet beschert uns manch eine schlaflose oder Alpträume durchseuchte Nacht. Das Vertrauen in die Institutionen fühlt sich zu passiv, zu ergeben an.
Der Ausweg aus dieser unangenehmen Situation ist das Wittern der Verschwörung. Die eigene Machtlosigkeit im Angesicht der globalen Ungewissheit, wie mit dieser Situation umzugehen sei, wird eingetauscht gegen die Position des Kämpfers, der Kämpferin, für das Gute, Schöne, Wahre, gegen die übermächtig böse, hässliche Lüge der dunklen Verschwörung.
Auf die Ohnmacht, die uns das Virus in Form der Zerbrechlichkeit und der Unplanbarkeit des menschlichen Lebens vor Augen geführt hat, folgt die Selbstermächtigung, alles besser verstehen zu können, als alle anderen. In jeder Äußerung des öffentlichen Diskurs wird eine Manipulation erkannt, die dank einer Online-Recherche aufgeklärt werden kann. Es ist für viele unvorstellbar geworden, dass sie manipuliert werden könnten, weil ihnen ja schon die Manipulation durch die Medien selbst aufgefallen ist. Anscheinend brauchen sie keine Wissenschaftler, Historiker, Mediziner, Politiker mehr, all das können sie sich im Internet selbst drauf schaffen. Die Leute verhalten sich in etwa so, wie dieses social Distel-Ding den Mathe-Unterricht wahrgenommen hat: Wieso sollte ich das lernen, ich kann doch später immer einen Taschenrechner mitnehmen.
Bildung und Erfahrung werden missachtet und gegen Gefühle und schnelle Google-Recherche ausgetauscht. Aber das Schlimmste ist die Ablehnung jeglicher Verantwortung für das eigene Handeln, Veröffentlichen und Aufrufen. Da ja angeblich niemand „an Corona“ sondern nur „mit Corona“ stirbt, ist jegliche Verantwortung für Todesfälle oder schwere Verläufe für viele „Querdenker“ abzulehnen. Da sich ja jeder im Internet selbst informieren kann, ist es auch kein Problem wenn neben den Zweifeln an Corona-Todes-Zahlen auch Zweifel an den Todeszahlen im Holocaust geäußert werden. Da man selbst ja alles durchdenken und gesichert in seinem Weltbild ist, ist es auch kein Problem gemeinsam mit Nazis von ultrarechten Kleinstparteien auf eine Demonstration aufzurufen und mit ihnen zu maschieren. Da man selbst ja nur Liebe und Frieden möchte, ist es auch kein Problem im Nebensatz rechte Parolen wie „Lügenpresse“ und „Antifaschismus ist der neue Faschismus“ durch die Gegend zu brüllen. Und über versteckte Wahlwerbung für ein autoritäres Regime unter Trump in den USA über die sogenannte Q-Anon-Bewegung, eine Selbstbaukasten-Verschwörungs-Erzählung in dem alles Böse einer Personengruppe zugeschrieben werden kann, wollen wir erst gar nicht reden.
Für alles was daraus entsteht oder entstehen kann, sehen sich die Verbreiter dieser „Erkenntnisse“ nicht verantwortlich, wollen gleichzeitig diejenigen, die die Verantwortung übernommen haben, zur Verantwortung ziehen.
Der politische Skandal ist für sie, dass ihre Großdemonstration, die wohl eher eine großes Zusammentreffen der Online-Freunde zum Austausch der neusten Erzählungen ist, verboten wurde. Dass zuvor andere Demonstrationen verboten wurden, interessierte sie nicht, außer als Begründung dafür, dass sie dadurch erst recht Recht haben mit ihrem Protest.
Dass die große Solidaritätsdemonstration in Hanau, wo den 9 Opfern eines rassistischen Terroranschlags gedacht werden sollte, wegen erneut steigender Corona-Ansteckungszahlen nur im kleinen Rahmen stattfinden konnte, war bei weitem kein so großer Aufreger, wie die Absage der für morgen in Berlin geplanten Demonstration. Die Aufforderung gegen dieses Unrecht doch in Berlin mitzudemonstrieren, neben den Nazis, die ganz bewusst den Nährboden für weitere rechtsterroristische Mordanschläge bereiten, und den Unterstützern der Demo, die in Widerspruch gegen ihre Theorien und Erzählungen den Weg zum Faschismus bereitet sehen, geht dabei gänzlich an der Realität vorbei, ist sozusagen eine Verarschung.
Und natürlich erleben wir noch mehr Verarschung unter dem Deckmantel der Pandemie. Dass das Wahlrecht, dass uns einen riesigen neuen Bundestag bescheren soll, immer noch nicht ausreichen reformiert wird, ist nur eine der zahlreichen Verarschungen, die aus den Führungsebenen der Politik gerade durchgedrückt werden. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Idee, gemeinsam mit Nazis für Freiheit demonstrieren zu wollen, die größte und gefährlichste Verarschung ist.
Die Folge daraus kann nur der Verbleib zuhause sein. Denn natürlich sind Demonstrationsverbote mit Verweis darauf, dass sie einem politisch nicht genehm sind, äußerst kritisch zu sehen. Nur sollte sich jede und jeder fragen, ob die eigene Meinung die Manipulation durchschaut zu haben und jetzt nicht mehr manipuliert zu werden, obwohl sich mit den Verschwörungsvideos im Internet gut Geld verdienen lässt, wirklich wahr sein kann.
Insofern verbleibt dieses social Distel-Ding zu Hause und fragt sich, was wir im nächsten halben Jahr Corona noch erleben werden. Und es bleibt eine wichtige Erkenntnis: Maske auf und‘s Maul aufreißen, gegen Nazis!

Kommentare
01.09.2020 / 18:05 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 1.9.. Herzlichen Dank!