Die Militarisierung der Vereinten Nationen - "Peacekeeping", "Regionalisierung" und die Rüstungsindustrie

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IMI-Kongress 2011, Thomas Mickan: Beispiele, Modelle, Thesen zu "Peacekeeping", "Regionalisierung" und die Rüstungsindustrie

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39:23 min, 36 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 07.11.2011 / 17:26

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Klassifizierung

Beitragsart: Reportage
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Arbeitswelt, Kinder, Umwelt, Kultur, Politik/Info
Serie: sonar -aktuell-
Entstehung

AutorInnen: sonar aktuell
Radio: bermuda, Mannheim im www
Produktionsdatum: 07.11.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die neue IMI-Broschüre "Die UN und der neue Militarismus" beschäftigt sich umfassend mit der Instrumentalisierung und Umstrukturierung der Vereinten Nationen.

Die Broschüre (48S DinA4) kann zum Preis von 2,50 Euro (plus Porto) bei uns bestellt werden (ab 5 Ex. 2 Euro): imi@imi-online.de

Wie immer steht die Broschüre aber auch zum kostenlosen download zur Verfügung, und zwar hier:

http://imi-online.de/download/Mickan_UN_...


Zusammenfassung:

Die UN und der neue Militarismus. Von Krieg und UN-Frieden: Peackeeping, Regionalisierung und die Rüstungsindustrie


„Die Architektur der Welt ändert sich dramatisch, das muss sich auch in der Arbeit der Vereinten Nationen widerspiegeln.“[1] Diese Worte ließ Außenminister Guido Westerwelle verlauten, kurz bevor Deutschland am 1. Juli 2011 zum ersten Mal den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat übernahm. Dessen Reform ist in der Debatte um die UN gegenwärtig eines von zwei bestimmenden Themen. Das zweite Thema ist die so genannte Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P). Tatsächlich haben sich die UN bereits auf dramatische Weise verändert: Die Welt ist von einem neuen Militarismus ergriffen und so auch die UN. Schlagzeilen machten dabei vor allem der Krieg in Libyen, die Abspaltung des Südsudan und der Machtkampf in der Côte d'Ivoire, in denen die UN Legitimationsgrundlage für Herrschaft und Gewalt waren.

Die UN treten nicht selten als blaubehelmte Friedenstaube auf, einer vom Auswärtigen Amt genutzten Stilisierung, um schon Kindern die Friedens-Kriege im Namen der UN näher zu bringen. Sie erscheinen dabei als legitime Anwältin der Gewalt und in der Rede um die Schutzverantwortung wird Gewalt nicht nur als legitim erachtet, sondern sogar als verantwortungsvolles Handeln moralisch aufgewertet. Auch Kriegsgegner_innen in Teilen der Friedensbewegung,[2] der Linken[3] oder den Kirchen[4] haben ein gespaltenes Verhältnis zu den bewaffneten Blauhelmeinsätzen. Daraus spricht nicht selten der Mangel an umfassenden zivilen Alternativen[5] der Konfliktbearbeitung.

Die Fragestellung der von mir verfassten Studie ist, ob dieses Bild der legitimen Akteurin der Gewalt, sei es aus menschenrechtlicher Verantwortung, Alternativlosigkeit oder anderen Gründen, noch eine friedenspolitische Position ist, die in begrenztem Umfang mehr Gutes als Schlechtes befördert. Der Fokus liegt dabei nicht auf den einschlägigen Debatten um die Berechtigung und Folgen von „humanitären“ Interventionen bzw. der Schutzverantwortung, sondern auf den hierfür zu schaffenden und geschaffenen Bedingungen und Notwendigkeiten. Was bedeutet es, Blauhelmmissionen zu fordern und zu fördern und welche Dynamiken ergeben sich aus dem System Peacekeeping?



Die Studie gliedert sich hierzu in fünf Teile:

Im ersten Teil werden zentrale Konzepte der UN im Umgang mit dem Frieden untersucht. Dies beginnt mit der Betrachtung des Charakterwandels der Einsätze, sowie einer begrifflichen Bestimmung relevanter Peacekeeping-Formen und damit verbundener UN-Konzepte. Dabei wird neben Peacebuilding auch der ‚Schutz der Zivilbevölkerung‘ sowie die ‚Schutzverantwortung‘ mit einigen ihrer weitreichenden Implikationen, etwa für das Souveränitätsprinzip im Völkerrecht, betrachtet. Gesonderte Aufmerksamkeit ist im ersten Teil jedoch dem Treuhandsystem, den Sicherheitssektorreform(en) und den Zivil-Militärischen Beziehungen gewidmet.

Im zweiten Teil werden interne Strukturen der UN im Bereich der Friedensbemühungen untersucht. Dies erfolgt mit Schwerpunkt auf die relevanten Sekretariate: Das Department of Peacekeeping Operations (DPKO), das Department of Field Support (DFS) und die United Nations Procurement Division (UN-PD).

Im dritten Teil steht die Frage der Truppengenerierung für die Einsätze im Vordergrund: angefangen bei dem United Nations Standby Arrangements System (UNSAS), über die gescheiterte Militärinitiative SHIRBRIG bis hin zur Auslagerung an Regionalorganisationen, allen voran an NATO und Europäischen Union (EU) sowie die Afrikanischen Union (AU), deren Sonderrolle hierbei untersucht wird.

Im vierten Teil findet eine Beschäftigung mit weltweiten Ausbildungsprogrammen und der Schaffung von Schulungszentren für Peacekeeping im Globalen Süden statt. Im Mittelpunkt stehen dabei wiederum die AU und die Frage von „Ownership“.

Der letzte und fünfte Teil lenkt den Fokus auf die Rolle der Rüstungsindustrie im Peacekeeping und die sich neu erschließenden Märkte. Dabei werden sowohl die Dynamiken aus den direkten Gewinnen des Trainings als auch indirekte, durch Kunden-Akquise und Bluewashing gemachte Gewinne untersucht.

Vier zentrale Punkte können als Ergebnisse festgehalten werden:

Es kann gezeigt werden, welchen Charakterwandel durch die Etablierung neuer Konzepte und Strukturen die UN-Friedensbemühungen vollzogen haben. Dieser Wandel ist dabei sehr umfassend und beginnt bei der Legitimation der Einsätze mit Hilfe der Schutzverantwortung und endet bei der kompletten Übernahme ganzer staatlicher Strukturen durch eine Treuhandschaft. Peacekeeping wird zum Standardinstrument der Herrschaft durch militärische Stärke. Dies geht einher mit einer Institutionalisierung und Aufwertung des Militärischen sowohl durch die Zivil-Militärische Zusammenarbeit als auch insbesondere durch die Sicherheitssektorreformen, die eine besondere Gefahr für den zukünftigen Frieden darstellen und deren Folgen unabsehbar sind.

Die umfassende Neustrukturierung das DPKO und das DFS stützen diese Entwicklung weiter. Neben Strukturen zur Umsetzung der genannten Konzepte der Machtprojektion, wurde der militärische Schwerpunkt der Konfliktbearbeitung in den UN überproportional stark im Vergleich zum Zivilen ausgebaut. Die Untersuchungen zum UN-PD zeigen, welche wirtschaftlichen Interessen hinter den Friedensbemühungen auch stehen. In allen drei Sekretariaten sind die enge Verknüpfung untereinander sowie ihre personelle Besetzung auffallend. Dabei ist nicht nur die Überrepräsentanz von Vertretern des Globalen Nordens bedeutend, sondern insbesondere die Überbesetzung durch NATO-Personal und Militärs.

Wenn Blauhelme gefordert werden, wird dies zumeist an Bedingungen für die Entsendestaaten geknüpft. Insbesondere so genannte Regionalorganisationen rücken dafür immer mehr in den Mittelpunkt. Alternative militärische Modelle zur Truppengenerierung für die UN wie das Bereitstellungsarrangement UNSAS sind fast bedeutungslos oder wie SHIRBRIG sogar gescheitert. Die Verlagerung auf Regionalorganisationen ist dabei auch immer die Frage nach den Fähigkeiten für die Übernahme der logistisch, technisch und finanziell anspruchsvollen Aufgabe Peacekeeping. Gerade die NATO und die EU stehen dabei in der Kritik, obwohl sie durch jeweilige Vereinbarungen mit der UN großen Bedeutungszuwachs, vor allem für ihre Legitimität, erfahren haben. Die UN begeben sich durch die Auslagerung in Abhängigkeitsverhältnisse und verlieren trotz Legitimierung der Einsätze jegliche Kontrolle darüber.

Auch die Auslagerung an die Afrikanische Union ist eine der denkbar schlechtesten Alternativen. Die hier „entdeckten“ Fähigkeitslücken forcieren eine starke Ausbildungs- und Aufrüstungsdynamik, die auch von den UN getragen und gefördert wird. In zahlreichen Programmen und Schulungszentren werden dabei unter den Vorzeichen von Interoperabilität und einer vermeintlichen Ownership die Soldat_innen von morgen trainiert. Die Konzentration auf das Militärische verdrängt dabei nicht nur in der AU die Notwendigkeit, grundlegende zivile Strukturen des Zusammenlebens zu fördern.

Insbesondere die Rolle der Rüstungsindustrie ist alarmierend. Diese profitiert von den neuen Absatzmärkten durch die Ausbildung und Aufrüstung von Peacekeepern und öffnet sich gleichzeitig über die gewonnenen Kontakte den Zugang zu weiteren „robusten“ Rüstungsgeschäften. „Peacekeeping“ ist dabei neben Verteidigung und Sicherheit ein neues Marktsegment geworden. Die neuen Produkte wertet man mit Hilfe des so genannten „Bluewashing“ („Engagement für den Frieden im Rahmen der UN“) moralisch auf. Ebenso werden zahlreiche militärische Großübungen über das Peacekeeping legitimiert, welche gleichzeitig Messecharakter für die Rüstungsfirmen haben. Auch für zahlreiche Logistikaufgaben heuern die Regionalorganisationen und die UN verschiedene Militärdienstleister für blau-blühende Geschäfte an.

Die UN spielen bei all dem eine traurige und entscheidende Rolle. Sie sind auf die Beiträge ihrer Mitglieder angewiesen und damit deren Modus Operandi unterworfen. Sie schaffen es gleichzeitig nicht, die Ideen und Kräfte aufzubringen, sich von deren militärischen Machtprojektionen zu emanzipieren. Und sie sind entscheidende Legitimationsgrundlage für die Militäreinsätze. Das hohe moralische Ansehen, das die UN genießen, erodiert hierdurch. Die UN verlieren an Neutralität und Unabhängigkeit und nehmen dabei als Ganzes Schaden. Die sich ergebenden Konsequenzen, wenn die UN als verlängerter Arm der Mächtigen agieren und auch als solches wahrgenommen werden, sind nicht zu begrüßen.

Zentral kann festgehalten werden, dass diese Entwicklungen keine „Grand Strategy“ des Westens sind, sondern verschiedene Prozesse von Machtprojektion, wohlwollender Förderung und Alternativlosigkeit eine Eigendynamik militärischer Konfliktstrategien entfesselt haben. Ihre Prominenz verdrängt nicht nur die notwendige Debatte um zivile Alternativen und strukturelle Ursachen, sie führt gleichzeitig zu einer Militarisierung der Instrumente kollektiver Friedenssicherung. Die Rolle der UN mit ihren militärischen Aktivitäten und ihrer Legitimierung und Legalisierung von militärischer Gewalt müssen daher grundlegend neu bewertet werden. Peacekeeping gebietet nicht der Gewalt Einhalt, es fördert diese strukturell. Statt Gewalt zu Ächten, wird diese moralisch legitim. Statt gewaltfreie, zivile Konfliktbearbeitung zu praktizieren und zu fördern, legt dies den Grundstein für zukünftige Gewalt. Peacekeeper sind blaubehelmte bzw. tarnbehelmte Soldat_innen, die in ihren Jeeps, Sonnenbrillen und mit z.T. schwerer Bewaffnung als ausländische Militärs durch die Straßen von Kabul, Kinshasa oder Mogadischu patrouillieren. Als Zeichen von Macht demonstrieren sie, wie wir heute gedenken Konflikte zu lösen: mit Gewalt.


Anmerkungen:

[1] Auswärtiges Amt (2011): Vorsitz im Sicherheitsrat, URL: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussen...

[2] AG Friedensforschung (2011): Darf die Friedensbewegung "Blauhelme" denken? Eine Kritik der IMI e.V. an der Libyen-Erklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag - und eine Erwiderung, URL: http://www.ag-friedensforschung.de/regio...

[3] Dokumentation der Debatte um das Papier von André Brie, Ernst Krabatsch, Stefan Liebich, Paul Schäfer und Gerry Woop „Vorschläge für eine linke Positionierung“ unter URL: http://www.lafontaines-linke.de/2011/09/...

[4] Denkschrift des Rates der EKD (2007): „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“, URL: http://www.ekd.de/download/ekd_friedensd... (S. 70f).

[5] Die Polizei stellt keine zivile Alternative dar.

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Umbrüche und erhöhte Interventionsbereitschaft


Bericht zum 14. Kongress der Informationsstelle Militarisierung „Wendezeiten: Weltpolitische Umbrüche – Chance oder Gefahr?“


Am Wochenende des 5. und 6. November 2011 fand der mittlerweile 14. Kongress der Informationsstelle Militarisierung statt. Der diesjährige Kongress war mit über 120 Teilnehmern bei einzelnen Vorträgen und insgesamt mehr als 150 Interessierten aus dem ganzen Bundesgebiet sowie Teilnehmenden aus Belgien, den Niederlanden und Frankreich sehr gut besucht.

Im Mittelpunkt der zweitägigen Veranstaltung standen die zahlreichen gravierenden Umbrüche der letzten Jahre und die Frage, inwieweit sich durch sie Chancen für eine friedlichere und sozialere Welt eröffnen oder ob sie nicht auch die Gefahr einer weiteren Militarisierung und sich verschärfender Konflikte bergen. Diesem Spannungsverhältnis wurde in den einzelnen Beiträgen nachgegangen: Sie umfassten die Folgen der gegenwärtigen Machtverschiebungen im internationalen System, die Militarisierung der Weltmeere, die Revolutionen im arabischen Raum, den Auswirkungen der Interventionen im Irak und in Afghanistan, in Libyen und in der Elfenbeinküste, die Militarisierung der Vereinten Nationen sowie den Umbau der Bundeswehr. Dabei wurde deutlich, dass westlicherseits versucht wird, dem spürbaren Machtverlust durch einen verstärkten Rückgriff auf Gewalt und Militärinterventionen Einhalt zu gebieten. Deshalb wurden abschließend Perspektiven und Möglichkeiten der Friedens- und Antikriegsbewegung erörtert, wo die wichtigsten Ansätze liegen, dieser Entwicklung Widerstand entgegensetzen zu können.


Gefahr sich verschärfender Großmachtkonfrontationen?

Den Auftakt am Samstag-Mittag mit dem Titel „Abstieg des Westens, NATO gegen BRIC(s)? Neue Konfrontationslinien oder neue Allianzen?“ bestritten IMI-Vorstand Jürgen Wagner (er übernahm den Part Erhard Cromes, der leider kurzfristig absagen musste) sowie Uli Cremer von der Grünen Friedensinitiative. Jürgen Wagner warnte davor, dass der Machtverlust der westlichen Staaten, vor allem gegenüber den so genannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), eine große Gefahr in sich berge, zu neuen Blockbildungen sowie sich verschärfenden Großmachtkonflikten zu führen. Anstatt diese Veränderungen als Ausgangspunkt für eine Neuordnung der internationalen Beziehungen auf Basis einer faireren Verteilung von Macht- und Einfluss zu nutzen, würden die westlichen Staaten zunehmend versuchen, ihre Vormachtstellung mit Gewalt zu erhalten. Die Verschärfung von Konflikten sei leider die logische Konsequenz dieser Bestrebungen. Hinzu kämen jedoch auch noch sich verstärkende innereuropäische Rivalitäten, so Wagner, die mit dem deutschen Anspruch auf die alleinige Führungsrolle in der Europäischen Union zusammenhingen. Die Frage neuer Blockbildungen werde demzufolge nicht unwesentlich davon mit beeinflusst, inwieweit sich diese europäischen Binnenkonflikte zuspitzen würden. „Dann hat die Europäische Union andere Probleme, als sich einer Auseinandersetzung mit den BRIC-Staaten zu widmen. Gelingt es allerdings, diese Differenzen irgendwie beizulegen, besteht eine große Gefahr sich verschärfender Großmachtkonfrontationen“, so Wagner.

Uli Cremer ging vor allem auf die Veränderung der westlichen Militärallianz ein, die in drei Phasen erfolgt sei. Die NATO 1.0 von 1949 bis 1990 sei zumindest auf dem Papier noch ein „klassisches“ Verteidigungsbündnis gewesen. NATO 2.0 sei geprägt vom Umbau in ein globales Interventionsbündnis. Diese Phase sei mit dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien sowie der NATO-Beteiligung am Afghanistan-Krieg mehr oder minder abgeschlossen. Nun befinde sich die NATO 3.0 im Entstehen und richte sich darauf aus, dem machtpolitischen Abstieg der westlichen Staaten militärisch entgegenwirken zu können. Hierfür werde versucht, aus der NATO einen „Nordpakt“ zu machen, der nur bedingt gegen andere Großmächte, sondern vor allem gegen die Länder des globalen Südens gerichtet sei. Aus diesem Grund werde auch versucht, Russland in dieses Bündnis zu integrieren, um so die „Schlagkraft“ des Bündnisses zu vergrößern. Demgegenüber betonte Wagner, die NATO werde nicht nur auf Interventionen in südlichen Ländern, sondern zudem gegen China, insbesondere aber auch Russland in Stellung gebracht, wofür zahlreiche sich verschärfende Konflikte sprächen.


Die Waffengattung der Globalisierung

Andreas Seifert, Vorstandsmitglied der IMI, arbeitete im zweiten Vortrag heraus, wie diese Großmachtkonflikte und Rivalitäten derzeit buchstäblich aufs Meer überschwappen würden. Unter dem Titel „Umkämpfte Meere“ wurde dabei zunächst auf die grundlegend gestiegene Bedeutung des Seeverkehrs eingegangen. Die Globalisierung selbst zeichne sich wesentlich durch den extrem angestiegenen Handel mit Gütern aller Art aus, er habe zwischen 1960 und 2009 um 1200% zugenommen. Der Großteil dieses Handels werde über See transportiert, weshalb dem „Schutz“ von Handelswegen von Seiten der Politik mittlerweile große Bedeutung beigemessen werde. „See, Seewege, Seemacht werden als Begriffe verknüpft mit Globalisierung - die Marine, so legt eine solche Assoziationskette nahe, ist die Waffengattung der Globalisierung“, so Seifert.

Vor allem Deutschland rüste derzeit die Seestreitkräfte mit dem Argument auf, nur so die Sicherheit der Handelswege garantieren zu können. Dabei werde eine "Abhängigkeit" vom Export und der See vorgeschoben, um Kapazitäten für militärische "Lösungen" zu schaffen. Um zu illustrieren, welche Überlegungen und Ziele dabei im Zentrum stünden, zitierte Seifert den Marine-Vizeadmiral Axel Schimpf: "Mit ‚Protect‘ ist die Bedeutung des Schutzes von Deutschland, unserer Bürger und deutscher Interessen in der Welt angesprochen, während mit dem Begriff ‚Project‘ die Fähigkeit zur Präsenz und der Beteiligung an streitkräftegemeinsamen, multinationalen Einsätzen weltweit hinterlegt ist." Doch auch in anderen Ländern werde der militärischen Seepräsenz verstärkte Aufmerksamkeit gezollt. Dies betreffe viele Länder weltweit, wurde aber insbesondere anhand der asiatischen Staaten illustriert. Gerade dort verspüre man die gleiche "Abhängigkeit" vom Seehandel und entwickele den gleichen Anspruch, die Seewege zu sichern. Asiens Anteil am globalen Seehandel steige stetig. Dort führten die Versuche, die jeweilige militärische Seepräsenz auszubauen, zu einer regelrechten Aufrüstungsspirale und erhöhten damit die Gefahr regionaler Konflikte. Dies betreffe vor allem China, Indien und Japan. Damit nicht genug, würden vor allem die USA, aber auch die Europäische Union ihrerseits versuchen, ihre Präsenz in der Region zu vergrößern, um den wachsenden chinesischen Einfluss einzudämmen. Hierdurch würden bestehende Konflikte zusätzlich angeheizt. „Die Marine ist der Ausdruck offensiver Machtpolitik“, dies zeige sich immer deutlicher, so Seifert.

Schließlich sei mit der Zunahme der Piraterie ein Phänomen entstanden, welches vor allem dort auftrete, wo Länder und Menschen von den globalen Waren- und Handelsströmen abgehängt wurden. Armut und Perspektivlosigkeit seien wesentliche Triebfedern hinter dem Anwachsen der Piraterie, so Seifert. Doch anstatt sich diesen Ursachen zu widmen, werde mehr und mehr der Versuch unternommen, militärisch für den Schutz von Handelsrouten zu sorgen. Damit sei dem Phänomen jedoch nicht beizukommen, wie sich gerade vor der Küste Somalias zeige. Vielmehr werde an Somalia deutlich, wie die Politik das Phänomen Piraterie instrumentalisiere, um weitere Aufrüstungen und geostrategische Konzepte zu rechtfertigen. Dass sinnvolle Konfliktlösungsmöglichkeiten immer ziviler Natur sein müssten, wenn sie Erfolg haben wollen, werde unter anderem am Beispiel der Straße von Malakka sichtbar, wo erst zivile Maßnahmen an Land zu einem Rückgang der Piraterie geführt hätten.


Das Korrektiv der Strasse

Claudia Haydt und Christoph Marischka diskutierten anschließend, ob die „Umbrüche in Nordafrika und auf der Arabischen Halbinsel“ Chancen der „Emanzipation oder ein neues imperialistisches Einfallstor“ eröffneten. Marischka bezeichnete dabei das Mittelmeer als „Bernnpunkt des Nord-Süd-Verhältnisses“, das sich insbesondere in der Migration zwischen Afrika und Europa offenbare. Dieses Verhältnis werde durch ein komplexes Beziehungsgeflecht, die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen wie UNO und WTO, die Einbindung in Freihandelsregime, Finanzmärkte, Sicherheitsarchitekturen und Migrationsregime sowie die Unterwerfung unter Patentrechte, Standardisierungen etc. definiert, weshalb es einem einzelnen Staat kaum möglich wäre, aus diesem auszubrechen oder dieses Verhältnis nennenswert zu verändern. In der Anfangsphase der Revolutionen hätte jedoch die Möglichkeit bestanden, dass durch die grenzüberschreitenden Proteste gleich mehrere Regierungen gestürzt würden und ein neuer Block entstehe, der auch aus dem antikolonialen Impetus, der den Revolutionen zunächst innewohnte, die Bedürfnisse seiner Bevölkerung über internationale Gepflogenheiten, Abhängigkeiten und Verpflichtungen stelle. Nicht zuletzt sei dies durch „zwei Formen der militärischen Intervention“ verhindert worden: „die bedingungslose Unterstützung des Westens für den Militärputsch in Ägypten und die NATO-Intervention in Libyen“. Nun habe es die EU in ihrer südlichen Nachbarschaft zumindest mit Tunesien, Libyen und Ägypten mit drei geschwächten Staaten zu tun, die von massiven Finanz- und Legitimationstransfers abhängig seien.

Marischka verwies dabei auf den IMI-Kongress im vergangenen Jahr, bei dem herausgearbeitet wurde, dass die EU grundsätzlich bereit sei, gemeinsam mit der NATO widerspenstige Staaten militärisch zu zerschlagen, sich darüber hinaus jedoch ein breites Instrumentarium zugelegt hat, um schwächere Staaten einzubinden und zu gängeln. Entsprechend sei die Europäische Nachbarschaftspolitik bereits neu formuliert worden. „Während die alten strategischen Ziele und Grundsätze gültig bleiben, werden die Finanzhilfen nun nach dem Prinzip 'more for more' unmittelbarer an konkrete Fortschritte – etwa im Bereich des Freihandels – geknüpft.“ Zugleich sei in Tunesien, Ägypten und Libyen bereits europäische und auch deutsche Unterstützung beim Aufbau neuer Sicherheitskräfte geplant, wobei insebesondere auch der Grenzschutz eine zentrale Rolle einnehme. Abschließend beschrieb Marischka die massive Repression, mit der v.a. die säkularen Teile der Protestbewegung in Ägypten konfrontiert sei ohne dass die Bundesregierung oder die EU dies thematisiere. Es gelte, sich mit den Opfern dieser Repression zu solidarisieren und so dazu beizutragen, sie vor weiteren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, so Marischka abschließend.

Claudia Haydt forderte dazu auf, Abstand von einem neokolonialen Blick auf die Entwicklungen in Nordafrika und der arabischen Halbinsel zu nehmen. Die Umbrüche in Tunesien und Ägypten seien auch deswegen möglich gewesen, weil wichtige Informationen über Korruption und Folter über das Internet (z.B. WikiLeaks) erstmals für einen größeren Kreis von Menschen zugänglich waren und da konkrete Aktionen wie Demonstrationen und Blockaden durch virtuelle soziale Netzwerke besser hätten organisiert werden können. Der Kampf um Informationsfreiheit und gegen Kontrolle des Internets ist folglich eine gemeinsame Aufgabe in Europa und weltweit. Die Referentin wies außerdem darauf hin, dass die Bundesregierung versuche, in den Ländern, die sich erfolgreich ihrer Diktatoren entledigt haben, die zukünftigen Prozesse zu beeinflussen. Andererseits jedoch habe die Bundesregierung kein Interesse an Veränderungen in den repressiven Staaten, die sich als Bündnispartner bewährt hätten. Folglich unterstütze die Bundesregierung Regime wie etwa in Saudi-Arabien mit Waffenlieferungen und Ausbildungshilfen für Polizei und Militär. Genau diese Unterstützung werde von Oppositionellen als problematisch bezeichnet.
Haydt warb auch dafür, auf eine Dämonisierung islamischer Parteien zu verzichten und sich dagegen auf die Auseinandersetzung um konkrete politische Inhalte zu konzentrieren. Interessant seien hierbei z.B. die Forderungen der meisten in Tunesien gewählten Parteien nach Neuverhandlung der Assoziierungsabkommen mit der EU, nach einer sozialeren Politik sowie deren antikolonialer Konsens gegenüber NATO-Machtansprüchen. Ob emanzipatorische Kräfte sich tatsächlich längerfristig durchsetzen können, hänge v.a. davon ab, wie sehr die Freiräume, die sich die Menschen erkämpft haben, nun wieder mit „Schützenhilfe“ der EU und Deutschlands eingeschränkt werden. Claudia Haydt war sich sicher, dass zumindest in Tunesien und abgeschwächt auch in Ägypten, die eigentliche politische Macht immer noch bei der Bevölkerung liege, die ihre Angst verloren habe. Dieses „Korrektiv der Straße“, könne von den jeweiligen Machthabern nicht ungestraft ignoriert werden. Schwierig sei es jedoch, tragfähige und überzeugende politische Alternativen für die Zukunft der Länder zu entwickelt. Vor dieser Aufgabe stehen jedoch nicht nur die Menschen in Nordafrika, sondern auch in Europa.


Blinder Interventionismus

Der Abendvortrag von Joachim Guilliard vom Heidelberger Forum gegen Militarismus sowie IMI-Vorstand Jürgen Wagner beschäftigte sich mit der Frage „Afghanistan und Irak: Scheitern des Interventionismus?“ Beide Referenten betonten, dass diese Militärinterventionen gemäß ihren offiziell propagierten Zielen - Demokratie, Menschenrechte usw. – nur als riesige Fehlschläge bezeichnet werden könnten, die den Menschen in den betroffenen Ländern unsägliches Leid gebracht hätten. Aus diesem Grund beschäftigten sie sich auch mit der Frage, inwieweit hinsichtlich der tatsächlich hinter den Einsätzen stehenden geostrategischen und ökonomischen Interessen von einem Erfolg oder Misserfolg dieser Kriege gesprochen werden kann.

Der Zustand, in dem sich der Irak nach acht Jahren Krieg befinde, sei verheerend, so Joachim Guilliard: „Über eine Million Irakerinnen und Iraker wurden seit 2003 von Besatzungs- und irakischen Regierungstruppen getötet oder fielen der sektiererischen Gewalt zum Opfer, die von Washington und seinen Verbündeten angeheizt wurde. Mehr als zwei Millionen sind ins Ausland geflohen, eine ähnliche Zahl wurde zu Binnenflüchtlingen. In einem Land, in dem ein großer Teil der Vertreter der politischen Opposition und des Widerstands gegen die ausländische Besatzung eingesperrt, verschleppt, getötet oder vertrieben wurde und in dem nach wie vor 50.000 Besatzungssoldaten operieren, von Demokratie zu reden, ist absurd.“

Tatsächlich sei es den USA ohnehin nie um Massenvernichtungsmittel, Demokratie oder Ähnliches gegangen, sondern vor allem darum, ihre Militärpräsenz am Persischen Golf auszubauen sowie die riesigen irakischen Ölvorkommen zu privatisieren. Doch selbst gemessen an ihren eigenen – imperialistischen – Zielen könne von einem „Erfolg“ der Besatzer keine Rede sein. Es sei nicht gelungen, den Widerstand niederzuschlagen und der Versuch, sich den Rohstoffreichtum des Landes unter den Nagel zu reißen, sei vor allem an der Gegenwehr der Ölarbeitergewerkschaft gescheitert. Der zunehmende Druck habe mittlerweile sogar zu der offiziellen US-Ankündigung geführt, sich aus dem Irak zurückzuziehen. Allerdings würden gerade zahlreiche Versuche unternommen, diese Niederlage anderweitig zu kompensieren, da von dem Ziel der Kontrolle des Irak und der Region nicht abgerückt werde. Hierfür würde die Militärpräsenz in einigen Anrainerstaaten ausgebaut, aber auch eine private Söldnerarmee in Höhe von 5.000 Mann unter dem Kommando des US-Außenministeriums im Irak belassen. Das sei leider ein deutliches Zeichen, dass die Auseinandersetzungen um die Zukunft des Irak gerade erst begonnen hätten.

Auch Jürgen Wagner präsentierte eine ernüchternde und erschreckende Bilanz von zehn Jahren Krieg in Afghanistan. Die immer brutalere Kriegsführung der NATO habe lediglich zu einer dramatischen Eskalationsspirale und immer weiteren Opfern geführt. Jährlich würden die zivilen Kriegsopfer zunehmen, während gleichzeitig die westlich installierte Karzai-Regierung immer autoritärere Züge annehme. Neoliberale Reformen hätten zudem dazu geführt, dass die Bevölkerung ärmer als zu Beginn des westlichen Einmarsches sei. Gemessen an den offiziellen Kriegszielen könne demzufolge auch in Afghanistan niemand ernsthaft von einem „Erfolg“ sprechen.

In Afghanistan gehe es ebenfalls tatsächlich um ökonomische und strategische Interessen, vor allem aber darum, den Anspruch der NATO, überall auf der Welt westliche Interessen durchsetzen zu können, zu untermauern. Hierfür sei es jedoch erforderlich, ein pro-westliches Regime zu etablieren, das auch in der Lage sei, sich dauerhaft an der Macht zu halten. Gelänge dies nicht, stehe die Fähigkeit der NATO, die Interessen ihrer Mitglieder in anderen Ländern gewaltsam durchsetzen zu können, ernsthaft in Frage. Hierfür sei jedoch eine dauerhafte Militärpräsenz vor Ort unumgänglich. Deshalb warnte Wagner vor der „Nebelkerze Truppenabzug“. Es gehe lediglich darum, Teile der westlichen Truppen abzuziehen, keineswegs um die vollständige Beendigung der Besatzung, auch wenn gegenwärtig stets etwas anderes suggeriert werde. Die NATO verfolge derzeit zwar allerlei Strategien, den Krieg doch noch „siegreich“ zu beenden, damit würde jedoch lediglich weiter an der Eskalationsspirale gedreht. „Die NATO hat zwar keinen Plan, was sie in Afghanistan treibt, den verfolgt sie aber mit aller Härte“, so Wagners Kritik. Da die westlichen Staaten keinerlei Absicht hätten, den Krieg zu beenden, sei Druck erforderlich, weshalb der Referent seinen Beitrag mit einem Apell abschloss, nun verstärkt in die Mobilisierung zu den Protesten gegen den Petersberg-Gipfel in Bonn zu gehen, wo Anfang Dezember die Weichen für die weitere westliche Kriegspolitik gestellt werden sollen.


Peacekeeping ist Krieg

Den letzten Kongresstag am Sonntag eröffnete Thomas Mickan, Autor der IMI-Broschüre „Die UN und der neue Militarismus“, mit einem Vortrag zur „Militarisierung der Vereinten Nationen“. Dabei wurde zunächst auf das in der Öffentlichkeit positiv besetzte Image der Friedensbemühungen der UN eingegangen und gezeigt, wie zum Beispiel die Bundesregierung das Bild der Friedenstaube mit blauem UN-Stahlhelm zur Legitimation von Interventionen verwendet. Grundlegende Annahme sei dabei, dass UN-Blauhelm-Soldat_innen gerechte Anwält_innen des Friedens seien und militärische Gewalt ein legitimes, legales und funktionierendes Mittel der Konfliktbearbeitung darstelle.