Märchen: DIE WOLF UND DIE SIEBEN JUNGE GEISSLEINS

ID 45083
 
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Ein Märchen in geschlechtergerechtem Deutsch. Mehr dazu in meinem Beitrag von gestern und im Script. Dort ist die Vorlage mit Anmerkungen von Matthias Behlert zu finden.
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Upload vom 01.03.2012 / 16:02

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Klassifizierung

Beitragsart:
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Frauen/Lesben, Jugend, Kultur
Serie: transgenderradio Einzelbeitrag
Entstehung

AutorInnen: sakura
Radio: Transgenderradio Ber, Berlin
Produktionsdatum: 13.12.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
DIE WOLF UND DIE SIEBEN JUNGE GEISSLEINS

Es war einmal ein alte Geiß, die hatte sieben jungen Geißleins. Den hatte sie so lieb, wie Eltern ihren Kinder liebhaben. Einer Tag wollte sie in den Wald gehen und Futter holen. Da rief sie allen sieben herbei und sprach: „Liebe Kinder, ich will hinaus in den Wald. Nehmt euch in acht vor dem Wolf! Wenn sie hereinkommt, frisst sie euch allen mit Haut und Haar. Die Bösewicht verstellt sich oft, aber an ihrem rauhe Stimme und an ihrem schwarze Füße werdet ihr ihn gleich erkennen.“
Die Geißleins sagten: „Liebe Mutter, wir wollen uns in acht nehmen, du kannst ohne Sorge fortgehen.“ Da meckerte die Altin und machte sich getrost auf den Weg. Es dauerte nicht lange, da klopfte jemerd an den Haustür und rief: „Macht auf, ihr liebe Kinder, euer Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!“
Aber die Geißleins hörten an dem rauhe Stimme, dass es die Wolf war. „Wir machen nicht auf“, riefen sie, „du bist nicht unser Mutter. Die hat einen feine und liebliche Stimme, aber dein Stimme ist rauh. Du bist die Wolf!“
Da ging die Wolf fort zu einem Kaufner und kaufte sich einen große Stück Kreide. Sie aß en auf und machte damit ihren Stimme fein. Dann kam sie zurück, klopfte an den Haustür und rief: „Macht auf, ihr liebe Kinder, euer Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!“
Aber die Wolf hatte ihren schwarze Pfote auf den Fensterbrett gelegt. Das sahen die Kinder und riefen: „Wir machen nicht auf! Unser Mutter hat keinen schwarze Fuß wie du. Du bist die Wolf!“ Da lief die Wolf zum Bäckerin und sprach: „Ich habe mich an dem Fuß gestoßen, streich mir Teig darüber!“
Als ihm die Bäcker den Pfote bestrichen hatte, lief sie zum Mülleris und sprach: „Streu mir weißen Mehl auf meinen Pfote!“ Die Müller dachte: Die Wolf will jemerden betrügen - und weigerte sich. Aber die Wolf sprach: „Wenn du es nicht tust, fresse ich dich!“ Da fürchtete sich die Mülleris und machte ihm den Pfote weiß.
Nun ging die Bösewicht zum drittemal zu dem Haustür, klopfte an und sprach: „Macht auf, Kinder, euer liebe Mütterchen ist heimgekommen und hat jedem von euch etwas aus dem Wald mitgebracht!“ Die Geißlein aber
riefen: „Zeig uns zuerst deinen Pfote, damit wir wissen, dass du unser liebe Mütterchen bist.“ Da legte die Wolf den Pfote auf den Fensterbrett. Als die Geißleins sahen, dass es weiß war, glaubten sie, es wäre alles wahr, was sie sagte, und machten den Tür auf.
Wer aber hereinkam, das war die Wolf! Die Geißleins erschraken und wollten sich verstecken. Die eine sprang unter den Tisch, die zweite in den Bett, die dritte hinter den Ofen, die vierte in den Küche, die fünfte in den Schrank, die sechste unter den Waschschüssel, die siebente in den Kasten der Wanduhr.
Aber die Wolf fand ihns alle und verschluckte einen nach dem andere. Nur den jüngste in dem Uhrkasten, den fand sie nicht. Als die Wolf satt war, trollte sie sich fort, legte sich draußen auf dem grüne Wiese unter einen Baum und schlief ein.
Nicht lange danach kam die alte Geiß aus dem Wald wieder heim. Ach, was musste sie da sehen! Die Haustür sperrangelweit offen, Tisch, Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in Scherben, Decke und Kissen waren aus dem Bett gezogen. Sie suchte ihren Kinder, aber nirgends waren sie zu finden. Sie rief ihns nacheinander bei ihrem Namen, aber niemerd antwortete. Endlich, als sie den jüngste rief, antwortete ein feine Stimme: „Liebe Mutter, ich stecke im Uhrkasten!“
Die Geiß holte ihn heraus, und sie erzählte ihm, dass die Wolf gekommen war und den anderen alle gefressen hatte. Da könnt ihr euch denken, wie die alte Geiß über ihren arme Kinder geweint hat! Endlich ging sie in ihrem Kummer hinaus, und die jüngste Geißlein lief mit. Als sie auf den Wiese kamen, lag die Wolf immer noch unter dem Baum und schnarchte, dass die Äste zitterten. Die alte Geiß betrachtete ihn von allem Seiten und sah, dass in ihrem volle Bauch sich etwas regte und zappelte. Ach Gott, dachte sie, sollten mein arme Kinder, den sie zum Abendbrot hinuntergewürgt hat, noch am Leben sein?
Da musste die Geißlein nach Hause laufen und Schere, Nadel und Zwirn holen. Dann schnitt die Mutter dem Bösewicht den Bauch auf. Kaum hatte sie den erste Schnitt getan, da streckte auch schon ein Geißlein den Kopf heraus. Und als sie weiter schnitt, sprangen nacheinander alle sechs heraus. Sie waren alle heil und gesund, denn die Wolf hatte ihns in ihrem Gier ganz hinuntergeschluckt.
Das war ein Freude! Sie herzten ihren liebe Mutter und hüpften wie zwei Schneiders, die Hochzeit halten. Die Altin aber sagte: „Jetzt geht und sucht
Wackersteine, damit wollen wir dem böse Tier den Bauch füllen, solange sie noch schläft.“ Da schleppten die sieben Geißleins in allem Eile Steine herbei und steckten ihm so vielen in den Bauch, wie sie nur herbeibringen konnten. Dann nähte ihn die Alte in allem Geschwindigkeit wieder zu, so dass die Wolf nichts merkte und sich nicht einmal regte.
Als sie endlich ausgeschlafen hatte, machte sie sich auf den Beine. Und weil sie von dem Steine im Magen großen Durst bekam, wollte sie zu einem Brunnen gehen und trinken. Als sie aber anfing zu laufen, stießen die Steine in ihrem Bauch aneinander und rappelten. Da rief sie:
„Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum? Sechs Geißleins fraß ich auf vorher, die sind wie Wackersteine schwer!“
Und als sie an den Brunnen kam und sich über den Wasser beugte und trinken wollte, da zogen ihn die schwere Steine hinein, und sie musste jämmerlich ertrinken. Als die sieben Geißleins das sahen, kamen sie herbeigelaufen und riefen laut: „Die Wolf ist tot! Die Wolf ist tot!“ und tanzten mit ihrem Mutter vor Freude um den Brunnen herum.

- 47 - ERläuterungen
Ein sehr wichtiger Faktor in diesem Prozess ist unsere Sprache. In ihrer bisherigen Form sind die Verhältnisse der Vergangenheit gleichsam konserviert, wodurch schon bei Kindern die Heraus- bildung patriarchalischer Denk und Verhaltensmuster gefördert wird. Seit den Siebzigerjahren gibt es daher von Frauen initiierte Bestrebungen, die Sprache zu ändern, und ein neuer Forschungszweig - die feministische Linguistik - entstand. Bisheriges Ergebnis dieses Bemühens ist ein Wandel gewisser sprachlicher Gepflogenheiten in einem Teil der Gesellschaft. Luise F. Pusch nennt drei Herangehensweisen, durch die sich die sprachliche Geschlechter-Ungerechtigkeit reduzieren lässt,
ohne gegen überkommene grammatische Regeln zu verstoßen1: a) Differenzierung, d.h. explizite Erwähnung beider Geschlechter, z.B. 'Leserinnen und Leser',
'LeserInnen' u.ä;.
b) Neutralisierung, d.h. Ersatz von männlich konnotierten Substantiven durch geschlechtsneutrale Partizipialformen, z.B. 'Studierende' statt 'Studenten';
c) Abstraktion, z.B. 'Regie' statt 'Regisseur'.
Nahezu unangetastest geblieben ist bislang jedoch die Grundstruktur unserer Sprache, welche den Frauen eine ethische Wertstellung beimisst, die weit unter jener der Männer liegt. Zur Überwindung dieses Zustandes möge die vorliegende V eröffentlichung einen Beitrag leisten. Die hier abgedruckten Märchen sind in einem fertigen entpatrifizierten Neuhochdeutsch wiedergegeben, einem Deutsch also, dem eine genau gleiche ethische Wertstellung von Männern und Frauen zugrunde liegt.
Ob sich diese Sprache exakt in der hier vorgestellten Form durchsetzen wird, steht dahin. Da aber
1 u.a in „Die Frau ist nicht der Rede wert“, S. 14-15, suhrkamp-tb 2921, Frankfurt/M 1999, ISBN 3-518-39421-5
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das Ziel der umfassenden Gleichberechtigung nicht ohne gerechte Sprache zu erreichen ist, bin ich zuversichtlich, dass zumindest ihre wesentlichen Elemente in nicht allzu ferner Zukunft Eingang in die deutsche Standardsprache finden werden.
Die Zurücksetzung und ethische Abwertung der Frauen im hergebrachten Deutsch beruht - neben zahlreichen Einzelpatriarchalismen - auf drei grammatischen Strukturen, die ich im folgenden beschreiben möchte:
1)WEIBLICHE MOTIONEN
zurück zum Anfang der Erläuterung
Die Männer haben in Personenbezeichnungen das Monopol auf die Grundform, während die Frauen auf eine sog. movierte Form (meist Grundform + Nachsilbe 'in') abgedrängt wurden. Diese Erscheinung ist - in unterschiedlicher Ausprägung, aber ihrem Wesen nach identisch - in den meisten, wenn nicht in allen Sprachen der Erde anzutreffen. Hier einige Beispiele:
Russisch: Niederländisch: Indonesisch: Chinesisch: Ungarisch: Suaheli: Spanisch: Englisch:
učitel' - učitel'nica loper - loopster guru - bu guru jiào shī - nǚ jiào shī tanár - tanárnő
weta - weta wa kike señor - señora man - woman
(Lehrer - Lehrerin) (Läufer - Läuferin) (Lehrer - Lehrerin) (Lehrer - Lehrerin) (Lehrer - Lehrerin) (Kellner - Kellnerin) (Herr - Frau)
(Mann - Frau)
Die Position des Merkmals der weiblichen Form ist hierbei nicht erheblich, auch nicht, ob es sich dabei um ein selbständiges Lexem mit der Bedeutung 'Frau' bzw. 'weiblich' oder nur um ein Affix handelt. Entscheidend ist lediglich, dass die Grundform - der Gattungsname bzw. die eigentliche Funktionsbezeichnung - den Männern vorbehalten ist.
Die umgekehrte Struktur - eine aus der weiblichen Grundform gebildete männliche Ableitung - findet sich dagegen nur in Ausnahmefällen, die durch bestimmte Sachverhalte erklärbar scheinen. Im Deutschen und in anderen indoeuropäischen Sprachen betrifft dies z.B. das Begriffspaar 'Witwe - Witwer' (englisch: 'widow - widower'). Da die Männer sich in der Geschichte in Kriegen und Plänkeleien scharenweise gegenseitig umbrachten, aber auch bei anderen gefährlichen Unterneh- mungen (Seefahrten, Bergbau, Holzfällerei etc.) in großer Zahl zu Tode kamen, gab es fast zu allen Zeiten mehr verwitwete Frauen als Männer - daher wohl die weibliche Grundform 'Witwe'.
Eine gewisse Ausnahme zur eben genannten strukturellen Regel stellt dagegen das Wortpaar 'Braut Bräutigam' dar, denn dieses ist ein besonderes Dokument der androzentrischen (auf die Männer fixierten) Prägung unserer Sprache. Der zweite Bestandteil in 'Bräutigam' hat sich aus dem schon im Mittelalter untergegangenen Wort 'gomo' entwickelt, welches 'Mensch' (d.h. „natürlich 'Mann') bedeutete und engstens mit lateinisch 'homo' verwandt war. Der 'Bräutigam' (althochdeutsch: 'brtigomo') ist also ursprünglich der „Brautmensch“. Demzufolge war die Braut ('brut') gewissermaßen das Objekt der Beschäftigung des Mannes - etwa so, wie für einen 'Spielmann' Objekt seiner Beschäftigung das 'Spiel', d.h. die Musik, ist.
In der englischen Sprache finden sich zwar nur relativ wenige Beispiele weiblicher Motionen und motionsähnlicher Formen, doch betrifft dies u.a. die für das ethische Wertverhältnis der Geschlechter essentiellen Begriffspaare 'man - woman' und 'male - female'. Die Ableitung 'woman' (altengl.: 'wifmann' u.ä. [ „Weibmensch“]) aus 'man' - was ja zugleich
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'Mann' und 'Mensch' bedeutet - lässt sich verschieden interpretieren, doch impliziert sie in jedem Fall eine Abwertung der Frauen: 'so etwas Ähnliches wie ein Mensch', „Untermensch“ oder auch 'etwas, das zum Menschen gehört'. Zwar kann auch versucht werden, diese Struktur zugunsten der Frauen auszulegen, z.B. als „Obermensch“ oder 'besserer Mensch', doch ist auch das in Wirklichkeit eine Abwertung, da es sich nach dieser Logik bei Frauen nicht einfach um Menschen, sondern um eine „Sonderform““ des Menschen handelt. (Beachte hierzu auch den wahren Aussagegehalt scheinbar aufwertender Begriffe wie 'oberschlau', 'Saubermann' oder 'Besserwisser'.)
Vermutlich steht diese Struktur ursprünglich jedoch in engstem Zusammenhang mit der nur den Frauen eigenen Fähigkeit des Gebärens, bedeutet also sinngemäß: 'Mensch' vs. „Gebärmensch“. Ob letzterer Begriff aber in dieser oder einer weniger deutlichen Form wie 'woman' („WuMensch“) erscheint, es läuft auf dasselbe hinaus: Die Frauen werden auf ihre Funktion als Gebärende reduziert und haben keine Möglichkeit, sich einfach als Menschen zu empfinden. Da andererseits die Männer in dieser Struktur ihr Geschlecht beharrlich verleugnen (denn sie sind ja „die Menschen“), verdrängen sie auch ebenso beharrlich ihre Verantwortlichkeit für das werdende Leben.
Dieselbe Ethik liegt allen Begriffspaaren in sämtlichen Sprachen zugrunde, bei denen einer männlich besetzten Grundform eine um ein Affix oder Wort erweiterte weibliche Form gegenübersteht, also auch den deutschen Bildungen mit '-in'. Wenngleich die ursprüngliche Bedeutung dieser Nachsilbe dunkel bleibt, fällt auf, dass sie im Mittelhochdeutschen (11. - 14. Jh.) bisweilen mit dem Verkleinerungssuffix identisch ist. Im Wort 'künegîn' (Königin) z.B. weist sie auf eine weibliche Person hin, während sie in 'magedîn' bzw. 'magetîn' das Diminutiv von 'maget' (junge, unverheiratete Frau niederen Standes) bezeichnet, welches die Urform des neuhochdeutschen Wortes 'Mädchen' darstellt. Ein weiteres Beispiel ist das Wort 'sluzzelîn' ('Schlüsselchen') in dem bekannten Liebesgedicht „Dû bist mîn, ich bin dîn“ aus dem 12. Jh. („... verlorn ist daz sluzzelîn ...“).
Die gleiche Überschneidung hat sich im Englischen vereinzelt bis heute bei der Nachsilbe '-en' erhalten: 'chicken' (Küken) ist Verkleinerungsbildung zu 'cock' (vgl. 'Gockel'), dagegen ist 'vixen' (Füchsin) die weibliche Motion zu 'fox'. Ersetzen wir im Deutschen einmal die movierten durch die Diminutivformen z.B. 'Lehrerin' durch 'Lehrerchen' oder 'Arbeiterin' durch 'Arbeiterchen' , so spiegelt sich darin auch tatsächlich ein wesentlicher Aspekt des von den Männern geprägten Frauenbildes in der patriarchalischen Gesellschaft: liebenswürdig, aber nicht (ganz) für voll zu nehmen.
Die bisherige, in der androzentrischen Ethik erstarrte Struktur unserer Sprache lässt kaum eine emanzipatorische Korrektur durch organischen Sprachwandel zu. Sie gestattet im wesentlichen nur die Vermeidung krass patriarchalischer Ausdrucksweisen, umständliche Doppelformen ('... der/ die ...', '... jedem/jeder ...' usw.) sowie das Anfügen der weiblichen Motionsendung an Substantive. Letzteres trägt zwar ebenso wie die Doppelformen zur Überwindung des vorangegangenen Zustandes bei, in welchem die Frauen sprachlich ins Abseits gedrängt wurden, es impliziert jedoch zugleich einen bedenklichen Aspekt: Durch die V erbreitung von Formen wie 'LeserInnen', 'Lehrer/innen' u.ä. wird die strukturelle Abwertung der Frauen nämlich nicht überwunden, sondern eher noch konsolidiert.
Um die erwähnte Erstarrung aufzubrechen, wird seitens der feministischen Linguistik gegenwärtig die konsequente totale Feminisierung empfohlen. Dies halte ich für einen durchaus sinnvollen Weg, soweit es die Pronomina und einige andere Wortarten betrifft ('Jede, die ...' statt 'Jeder, der ...'; '... eine ...' statt '... einer ...'; 'frau' statt 'man' u.ä.).
Für die motionsfähigen Substantive (z.B. 'die Leserinnen' statt 'die Leser') kann dies jedoch kein tauglicher Lösungsansatz sein. Der Versuch, die weibliche movierte Form auf '-in' zur Grundform und die eigentliche Grundform zur männlichen „Schrumpfform“ o.ä. zu erklären, ist nämlich nicht
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nur umständlich, sondern läuft zugleich der in der Sprache (d.h., in allen Sprachen) angelegten Logik zuwider, wonach die kürzeste Form stets die allgemeinste und umfassendste ist, während jede morphologische Erweiterung eine Spezialisierung und Einschränkung bedeutet. Diese Logik wurde in der Vergangenheit von den Männern (auf einer unbewussten Ebene) zwar fast immer in androzentrischem Sinn ausgenutzt, jedoch nicht von ihnen „gemacht“!
Ein Beispiel möge dies verdeutlichen: Der Begriff 'Haus' schließt praktisch alle Arten von Gebäuden ein, die durch Menschen errichtet wurden. Was auch immer wir an dieses Wort anfügen, es bedeutet eine Spezialisierung, durch die eine gewisse Zahl anderer Gebäude ausgeschlossen wird: Ziegelhaus, Lehmhaus, Reihenhaus, Gartenhaus, Wohnhaus, Lagerhaus, Hochhaus usw. dasselbe gilt für 'Häuschen', denn ein Häuschen hat gewöhnlich nur ein Erdgeschoss, womit alle mehrstöckigen Gebäude ausgeschlossen werden. (Der Umlaut tut hier nichts zur Sache; es könnte theoretisch auch „Hauschen heißen.)
Stellen wir uns einmal eine kleine Stadt als eine isolierte sprachliche Oase, ohne Einflüsse von außerhalb, vor. In dieser Stadt gibt es etliche zweistöckige Gebäude, aber auch einige Hochhäuser (wobei die Gesamtzahl der Bewohner in beiden Gebäudetypen etwa die gleiche ist). Die Leute aus den ersteren reden stets von 'Häusern', wenn sie ihre niedrigen Gebäude meinen, aber auch, wenn sie alle Gebäude der Stadt meinen. Nur wenn konkret von den Hochhäusern die Rede ist, sagen sie 'Hochhäuser'. Das ärgert die Bewohner der letzteren, und sie sehen darin völlig zu recht eine Diskriminierung. Würden sie dann auf den Gedanken kommen, das Wort 'Hochhaus' zur Grundform und 'Haus' zur „Schrumpfform“ zu erklären? Wohl kaum, sondern ihr Stolz würde ihnen gebieten, sich zu sagen: Nur unsere zwanzigzehnstöckigen Gebäude sind die „wahren“ Häuser, die anderen sind 'Niedrighäuser'. Aus Effizienzgründen würde sich nach einiger Zeit vermutlich eine etwas kürzere Form durchsetzen, z.B. 'Niedhäuser'. Dies hätte zweifellos Auswirkungen auf die sprachlichen Gepflogenheiten aller dort lebenden Menschen, und allmählich würden auch die Bewohner der zweistöckigen Gebäude einsehen, dass alle Gebäude der Stadt Häuser sind, dass es aber Hochhäuser und Niedhäuser gibt.
Würden die Hochhausbewohner dagegen den zuerst genannten Weg wählen, könnte z.B. folgendes geschehen: Angenommen, sämtliche Gebäude der Stadt sind in einem desolaten Zustand und bedürfen dringend der Ausbesserung, wofür hier in allen Fällen die Stadtverwaltung zuständig ist. Machen die Bewohner der zweistöckigen Häuser eine Eingabe, so schreiben sie: „Alle Häuser der Stadt müssen renoviert werden. Selbst wenn sie dabei in erster Linie an ihre eigenen Häuser denken, und selbst wenn auch die Stadtverwaltung die Hochhäuser zuletzt berücksichtigt (weil dort kaum jemand von ihren Angestellten wohnt), so sind diese in die Forderung, alle Häuser zu renovieren, doch ausdrücklich eingeschlossen. Schreiben nun aber die Hochhausbewohner: „Alle Hochhäuser der Stadt müssen renoviert werden“, so können sie später noch so sehr beteuern, sie hätten ja eigentlich alle Gebäude der Stadt gemeint es wird ihnen wohl kaum jemand glauben. Falls dieses sprachliche Missverständnis dazu führt, dass die Stadtverwaltung tatsächlich nur die Hochhäuser renovieren lässt, würden sie sich damit dem begründeten Vorwurf egoistischen und unsozialen Verhaltens aussetzen und die Wut der anderen Einwohner der Stadt auf sich ziehen.
Davon abgesehen werden die Hochhausbewohner wegen ihrer sprachlichen Diskriminierung zwar unter Umständen das Mitgefühl einzelner Leute aus den niedrigen Gebäuden wecken, so dass diese aus Solidarität anfangen, auch ihre eigenen, zweistöckigen Häuser 'Hochhäuser' zu nennen, sie werden es aber niemals schaffen, dass alle Leute in den Vierteln mit den niedrigen Gebäuden dies tun, weil es nämlich viel zu umständlich und zugleich völlig unsinnig ist.
Wenn dieser Vergleich auch ebenso hinkt wie alle Vergleiche, hoffe ich damit doch deutlich gemacht zu haben, worauf eine solche Sprachpolitik hinausläuft: auf ein hoffnungsloses kräftezehrendes Schwimmen gegen den Strom der Sprache, mit dem sich die Frauen letztlich selbst keinen Gefallen tun. Die Lösung liegt also in einem anderen Weg, und diesen möchte ich im folgenden Abschnitt erläutern.
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Sowohl unter Männern als auch unter Frauen scheint die Auffassung weit verbreitet, das Suffix '-er' (desgl. 'ler', 'ner') vieler auf Menschen bezogener Substantive sei eine originär männliche Nachsilbe. Das ist aber nicht der Fall, sondern es handelt sich bei Bildungen mit diesem um die - lediglich von den Männern „okkupierten“ - sog. Nomina agentis, welche die Person bezeichnen, die etwas betreibt ('Lehrer': eine Person, die lehrt; 'Arbeiter': [im weitesten Sinn] eine Person, die arbeitet; 'Schüler': eine Person, die eine Schule besucht etc.). Es bezieht sich also in Wirklichkeit auf alle menschlichen Wesen, die die jeweilige Funktion innehaben, d.h. auf Frauen ebenso wie auf Männer (bzw. auf Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts).
Folglich kann die bestehende sprachliche Ungerechtigkeit nur dadurch überwunden werden, dass die Frauen die bislang männlich konnotierten Grundformen auch für sich vereinnahmen, indem sie zunehmend von sich sagen „Ich bin Arbeiter“, „Ich bin Lehrer“ usw. (und so deren männliche Prägung systematisch aushöhlen), gleichzeitig aber auch die Männer auf eine männliche movierte Form verweisen. In der hier vorgestellten Sprache benutze ich für diese männliche Motion die Nachsilbe '-is' (Plural: '-isse').
Wo die Funktion im Vordergrund steht, kann die Grundform ('Lehrer', 'Arbeiter' etc.) benutzt werden; ist es dagegen angebracht oder notwendig, das Geschlecht der Person zu erwähnen, die diese Funktion innehat, so stehen dafür die movierten Formen ('Arbeiterin - Arbeiteris', 'Lehrerin - Lehreris' usw.) zur Verfügung.
Damit bietet sich Feministinnen zugleich eine Möglichkeit zur Erlangung kompensatorischer Gerechtigkeit, wie sie bisweilen gefordert wird, um einen Ausgleich für die jahrtausendelange sprachliche Abwertung und Zurücksetzung der Frauen zu erreichen. Sie besteht darin, dass Frauen die Grundform nunmehr ausschließlich für sich benutzen können, während sie die Männer stets in der movierten Form erwähnen, z.B.: „Liebe Kollegisse und Kollegen!“ (Vgl. 'Häuser - Niedrighäuser')
Es sind allerdings weitere Änderungen der Grammatik erforderlich, denn die Grundformen können sich nicht gleichermaßen auf Frauen wie auf Männer beziehen, solange der generische Artikel ein männlicher ist, solange es also heißt: 'der Lehrer', 'der Arbeiter' usw. Damit komme ich zur zweiten patriarchischen Struktur im Deutschen, dem Genus oder grammatischen Geschlecht.
2) DAS GENUS DER SUBSTANTIVE
zurück zum Anfang der Erläuterung
Das grammatische Geschlecht ist vor allem der semitischen (Arabisch, Hebräisch) und der indoeuropäischen Sprachfamilie eigen. Zur letzteren zählen fast alle europäischen und viele Sprachen Asiens. Sie alle haben sich offenbar aus einer gemeinsamen Ursprache entwickelt, welche vermutlich vor fünf bis sechstausend Jahren gesprochen wurde, anfangs vielleicht nur von einigen hundert oder tausend Menschen.
Dies erklärt, warum das grammatische Geschlecht heute eine weit verbreitete sprachliche Erscheinung ist. Nichtsdestoweniger ist es unter kommunikativem Gesichtspunkt völlig nutzlos und geradezu widersinnig. Denn ob wir (im Nominativ) z.B. die, das oder der 'Frau' sagen, der, die oder das 'Mann', das, der oder die 'Kind' - die übermittelte Information bleibt dieselbe. (Ein Mann wird schließlich noch lange nicht zur Frau, wenn wir statt 'der Mann' sagen: 'die Mann'.) Während jedoch für die soeben genannten Begriffe eine Klassifizierung nach dem Geschlecht zwar überflüssig ist, aber noch vertretbar erscheint, ist sie bei Leblosem und Abstraktem wirklich absurd. Es wird sich niemals ein vernünftiger Grund finden lassen, warum es z.B. heißt: 'der Kasten' aber 'die Kiste', 'das Tor' aber 'die Tür', 'die Idee' aber 'der Gedanke' usw.
Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die meisten dieser Substantive in den vergangenen
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Jahrtausenden eine oder mehrere „Geschlechtsumwandlungen“ vollzogen haben, so dass ihr Genus heute in vielen Fällen von einer indoeuropäischen Sprache zur nächsten variiert. Der Begriff 'Sonne' sei hier stellvertretend für zahllose andere genannt: deutsch 'die Sonne' (weiblich), französisch 'le soleil' (männlich), polnisch 'to słońce' (sächlich).
Folgerichtig zeichnet sich im gesamten Verbreitungsgebiet der indoeuropäischen Sprachen eine Tendenz zur Überwindung des Genus ab. Aus mehreren Sprachen des indoiranischen (d.h. asiatischen) Zweiges ist es bereits vollständig verschwunden (Armenisch, Persisch, Paschto u.a.), während eine noch größere Zahl von Sprachen in diesem Raum heute kein Neutrum oder sächliches Geschlecht mehr kennt.
Dieselbe Erscheinung - Verlust des Neutrums - ist im europäischen Zweig in den baltischen (Litauisch, Lettisch) und den romanischen Sprachen zu verzeichnen, so dass im Nordosten und im Süden/Südwesten Europas nur noch zwischen Maskulinum und Femininum unterschieden wird. Dagegen sind im Schwedischen und Dänischen - formal auch im Niederländischen (sowie in niederdeutschen Mundarten) - männliches und weibliches zu einem gemeinsamen Geschlecht (Utrum) verschmolzen, das nur noch in Opposition zum Neutrum (Ne-Utrum) steht. Die bisher einzige europäische Sprache, die das Genus der Substantive vollständig überwunden hat (indem nur noch je ein bestimmter und unbestimmter Artikel benutzt wird), ist das Englische.
Wie im Deutschen deutlich zu erkennen ist, dient das Genussystem im Grunde ausschließlich der sprachlichen Stützung des Patriarchats, da nicht nur alle essentiellen und Grundbegriffe dem männlichen Geschlecht zugeordnet sind ('der Mensch', 'der Bauer', 'der Direktor', 'der Gott' usw.), sondern auch für allgemeine Wendungen traditionell das Maskulinum benutzt wird ('Jemand, der ... '; 'Jeder, der ...'; 'Wer ..., der ...' usw.). In den vergangenen Jahrhunderten wurden Frauen zudem des öfteren dem Neutrum zugeordnet und so zusätzlich abgewertet (verkindlicht bzw. „versächlicht): 'das Mensch', 'das Gudrun' usw.
Formale sprachliche Gleichbehandlung von M