"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Leben wir im Zeitalter des Gelächters -

ID 53023
 
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Leben wir im Zeitalter des Gelächters? Einige Anzeichen sprechen dafür. Eingeleitet wurde es wohl vom Roman «Der Name der Rose» anfangs der 1980-er Jahre, dem der Konflikt zwischen Gehorsam und Lachen zugrunde liegt.
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10:54 min, 15 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 08.01.2013 / 09:57

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 08.01.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Dabei ist unterstellt, dass Lachen in jedem Fall eine antikonforme Sprengkraft enthält, welche gegen die göttliche und weltliche Ordnungen verstößt. Das darf bezweifelt werden angesichts der riesigen Quantitäten an rassistischen, sexistischen oder antisemitischen Witzen. Aber in einem Gottesstaat könnte die Annahme zutreffen, in einem Staat also, der auf der alten biblischen Konzeption des Lebens als einer anhaltenden Leidensgeschichte beruht. So etwas wird in der Regel sublimiert zu Formen ziemlich erbitterten Glaubens. Daneben lässt sich Humor nicht klar einreihen als konservierend oder sprengend; es kommt immer auf die konkrete Ausformung an. Das beweist am besten der brave Soldat Schwejk, der als ernste Satire gegen Krieg und Militär- und Staatsbürokratie angelegt war und schließlich von den Konformisten aller Sorten als eine weitere Form des Militärwitzes adaptiert wurde. Humor kann dies sein oder jenes. Als Generalabsolution für sämtliche Erscheinungsformen gilt dabei immer der Satz von Tucholsky, wonach Satire alles darf, und damit ist zunächst auch der schlechte oder rassistische Witz legitimiert, wenn er bloß von sich behauptet, satirisch gemeint zu sein. Unabhängig von diesen Krankheiten des Rassismus und so weiter ist aber das andere das echte Problem unserer Zeit: der Ernst. Wer wagt es denn heutzutage noch, etwas im Ernst zu formulieren, einmal abgesehen von gewissen Theaterbereichen wie der Politik oder der Ökonomie? Kaum jemand. Und das hat mit Sicherheit auch damit zu tun, dass der Ernst eine immer ernstere Angelegenheit wird, also vielmehr: eine immer komplexere. Denn mit dem gestiegenen Wohlstand der modernen Gesellschaft verändert sich auch die Struktur der Gesellschaft. Es gibt nicht mehr zwei oder drei gegeneinander kämpfende Wahrheiten im Rahmen von unterschiedlichen, ernst gemeinten Konzepten, sondern es gibt millionenfache Realitäten, gegen welche die ernsten Aussagen überhaupt nicht ankommen. Das Problem wird nicht einfacher durch den Umstand, dass die neuen Medien und die sozialen Netzwerke es nicht nur erlauben, sondern geradezu erfordern, diese millionenfachen Realitäten auch auszudrücken. Die einfachste Art, sich in diesem Urwald zu behaupten, besteht darin, alles zum Witz zu erklären. Das Gelächter ist eine pure Überlebensreaktion. Am Schluss erscheint jene Person, welche die krachendsten Scherze zu reißen imstande ist, als König der Klugheit, und sein Name ist Dieter Nuhr, wenn ich mich nicht irre, ein Comedian, der es unterdessen zum Quizmaster gebracht hat und der sich einmal als intelligentester Kabarettist Deutschlands bezeichnet haben soll. Aber das war wohl ein Scherz.

Aber es ist nicht alle Hoffnung verloren. Wir haben zum Beispiel den Bereich der Wissenschaften, sowieso der Naturwissenschaften, wo die Forschungsaktivitäten und -ergebnisse zum Vornherein jeglichen Jux ausschließen, einmal abgesehen von einigen mehr oder weniger originellen Betrugsversuchen. In den Geisteswissenschaften ist die Lage schwieriger; hier ist das Bestreben nach wahren Aussagen zwar nach wie vor oberstes Gebot, aber es wird nicht konsequent eingehalten. Vor allem der Bereich Theoriebildung hat enorm gelitten, nicht erst seit dem Geschwurbel der französischen Philosophen und Soziologen, aber mit ihnen ganz prominent; unterdessen gibt es hier, wie im Kommunikationsbereich, Millionen von einzelnen Arbeiten und Ansätzen, die für sich jeweils recht seriös hergestellt sind, die aber kaum Zusammenhänge für übergeordnete Analysen erschließen. Aber so ein richtiger Global-Ernst, dem man eben auch mal satirisch an den Karren fahren könnte, den gibt es gegenwärtig in diesem Bereich nicht.

Im normalen Leben brauchen wir ihn natürlich nach wie vor, da sind unsere Mitmenschen oft ganz allergisch und verstehen keinerlei Spaß, und im Beruf, bei der Arbeit, kannst Du auch nicht dauernd nach einem 10-er Kreuzschlüssel verlangen, wenn du eine Kneifzange benötigst. Der Ernst, das ist so etwas wie die Realwirtschaft im Leben, während das Gelächter der Finanzwirtschaft oben drauf entspricht. Die Finanzwirtschaft – das wären eben jene Bereiche, in denen gegenwärtig jegliche Klarheit fehlt und jede Begrifflichkeit, derer sich eine Mehrheit der Bevölkerung bedienen können. Insofern steht das allgemeine Gelächter vor allem für den Mangel an brauchbaren Begriffen. Und insofern befinden wir uns tatsächlich im Zeitalter des Gelächters.
Abgesehen davon kann Witz tatsächlich nach wie vor subversiv sein oder mindestens überraschend. Und manchmal dringt er sogar bis ins breite Publikum vor, es ist also durchaus nicht immer und zwingend nur der Nuhr oder vielleicht der rektale Witzdoktor Eckhard von Hirschhausen, welche die Massen in Bann ziehen; der Michi Mittermaier seinerzeit bot doch guten Stoff, und heutzutage füllt die verdiente Monika Gruber ganze Hallen, welche sie anschließend durchaus munter beschimpft, übrigens auch sich selber, aber seltsamerweise funktioniert das; eine erste Vermutung, wonach die Gruberin gut sei, hat sich in der Zwischenzeit bestätigt, auch wenn sie nicht so radikal und abgründig auftritt wie zum Beilspiel der Wiener Joseph Hader. Und die gute Nachricht in diesem Zusammenhang ist wohl die, dass man jetzt auch in den alten Bundesländern langsam den Humor von Olaf Schubert zu begreifen beginnt. Ansonsten ist die Grenze zwischen BRD und DDR wohl nirgends so lange stehen geblieben wie im Witz-Bereich.

Was die Bayern angeht, so wird das neue Jahr kabarettistisch zum ersten Mal seit Langem ohne die Flaggschiff-Sendung Ottis Schlachthof auskommen müssen. Der Fischer Ottfried mag und kann nicht mehr. Das ist einerseits schade; anderseits gilt der bayrische Humor in Thüringen wohl nicht so viel, dass auch in Erfurt die Landesflagge auf Halbmast gehängt wird. Dementsprechend wird man sich mit dem allgemeinen Gelächter begnügen müssen.

Dafür befindet ihr euch in Deutschland ab sofort in einem Wahljahr. Von hier aus, aus der neutralen Schweiz, ist nicht besonders klar erkenntlich, was sich da ereignen wird. Grundsätzlich scheint die Wahlbevölkerung in Deutschland recht zufrieden zu sein mit der Geschäftsführung von Frau Bundeskanzler Merkel, was ich sehr gut begreife, denn seit Helmut Kohl hat niemand einen derart klaren sozialdemokratischen Kurs gesteuert wie sie. Aber sie wird ja nicht direkt gewählt, sondern über die Parlamentsmehrheit, und in der Beziehung bin ich mir nicht so sicher. In den Bundesländern fallen die Wahlergebnisse gegen die herrschende Koalition aus, und somit ist für Spannung gesorgt. Am Gegner allerdings dürfte es nicht liegen; der Kamerad Steinbrück ist zwar nicht mal unsympathisch, es macht auch nichts, wenn einem hin und wieder ein prägnanter Satz entfährt, aber so ein richtiges Regierungsprofil hat der bisher noch nicht entwickelt. Es ist ja auch schwierig, echte Gegenpositionen zu jener von Frau Merkel zu entwickeln; da müsste er ja aus purem Trotz gegen die Tobin-Steuer kämpfen, die von der SPD eingeführte Finanzmarkt-Deregulierung noch weiter treiben und so weiter und so fort, und das kann sich nicht einmal Peer Steinbrück leisten. – Dagegen werdet ihr wohl Mitleid haben mit der FDP; angesichts der aufklarenden Konjunktur erhält diese einen Bonus von rund 8 Stimmenprozent, muss aber trotzdem einer großen Koalition weichen. So lautet meine Prognose. Sollte dies aber nicht der Fall sein, das heißt, sollte sich die Wahlbevölkerung in Deutschland hartherzig zeigen, dann gehen die Anteile der FDP wohl an die Grünen, welche ihrerseits ein paar Prozent an die Piraten verliert, denen ich aber zu Beginn des Jahres nicht zutraue, den Schritt in den Bundestag zu tun. Da müssten die noch so richtig toll zulegen, vor allem auf der programmatischen Ebene. Was im Moment einigermaßen fehlt, das ist eine offen auftretende Wirtschaftspartei; die FDP hat bis zur Finanzkrise den Spagat zwischen sozialliberalem und wirtschaftsliberalem Flügel einigermaßen geschafft, aber jetzt, nach dem Kollaps der neo- und marktliberalen Ideologie, bleibt da nicht mehr viel übrig. Bei diesen Wahlen wird sich jedenfalls eine angebliche Wirtschaftskompetenz durchaus nicht in Wählerstimmen umsetzen lassen, nachdem man gesehen hat, wie blödsinnig klientelistisch diese Kompetenz letztlich war.

Ansonsten blicken die Propheten aller Sorten optimistischer in dieses Jahr als in das vergangene. Sollte sich diese eigenartige Substanz namens Vertrauen auf den internationalen Märkten verdichten, werden sie Recht erhalten, und wenn nicht, dann nicht, soviel steht fest. Für Europa ist Vertrauen direkt mit der Währung verbunden. Wenn all die offenen Fragen auf irgendeine, absolut unerforschliche Art und Weise einer Lösung zugeführt werden können, dann sieht es gut aus, und wenn nicht, dann halt eben nicht. Mit anderen Worten: Eine mittelfristige Prognose erscheint mir so gut wie unmöglich. Längerfristig bleiben die Aussichten immer gleich: Es geht darum, dass die moderne Gesellschaft den Übergang schafft in eine postindustrielle Phase, in der die Strukturen von Herstellung und Verbrauch eigentlich nicht mehr über den Arbeitsprozess geregelt werden müssten und in welcher auch Phänomene wie Überalterung und Rentensysteme keine Probleme, sondern Wohlstandsmerkmale sind, welche man vernünftig einzurichten hat..

Und dann gibt es nach wie vor jene Bereiche, in denen gewachsen wird, ganz herkömmlich. Die Renner sind immer ungefähr die gleichen: Energiefragen bleiben offen, dann kommen neue Materialien dazu, letzthin habe ich dazu einen Bericht in der Süddeutschen Zeitung gelesen über ein Unternehmen in Weimar, das halbintelligente Gewebe herstellt; schließlich dürfte die fortschreitende Miniaturisierung und die zunehmende kommerzielle Beherrschung von Miniaturtechnologien zu Anwendungen führen, von denen wir noch nicht einmal träumen. Und letztlich sind auch jene Bereiche, die uns angeblich wirtschaftlich am meisten zu schaffen machen, gerade die größten Wachstumsbereiche, nämlich der Gesundheitssektor und eben ein möglichst beschwerdefreies Altern. Wenn es gelingt, die Finanzierungsalgorithmen so zu definieren, dass sich diese Bereiche auch im herkömmlichen Sinne als produktiv erweisen, dann haben wir ja bereits einen völlig systemimmanenten Schritt getan. Und sonst gibt es halt eine nicht immanente Lösung.

In jedem Fall zählt zur strukturellen eine Unterfrage: Was fangen die Menschen an mit der gewonnenen Freizeit? Es versteht sich von selber, dass der Umgang mit gewonnener Zeit ebenso Traditionen und Gewohnheiten unterliegt wie das Einfügen in einen Arbeitsrhythmus. Ich bin überzeugt, dass der Ruf nach Vollbeschäftigung vor allem deswegen immer wieder erhoben wird, weil noch viel zu viele Menschen gar nicht wüssten, was sie alles zu tun imstande wären, neben Fernsehkucken und Bier trinken, selbstverständlich. Hier stehen die Türen eigentlich weit offen, und hier ist sicher der spannendste Bereich für jede und jeden einzelnen.