"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - 1 Jahr Boston -

ID 63360
 
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In der Publikation «Psychologie heute» erschien kürzlich eine Zwischenbilanz zu einem Manifest der Neurowissenschaftler, das vor zehn Jahren erschienen ist und ein sehr optimistisches Bild der Zukunft der Hirnforschung malte.
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10:22 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.04.2014 / 10:40

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 22.04.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Insbesondere ging man davon aus, dass man in absehbarer Zeit nicht nur den mehr oder weniger genauen Ort von Gefühlen im Hirn bestimmen werden könne, sondern dass man auf entsprechende Störungen auch gezielt mit den wirksamen chemischen Substanzen einwirken könne. Diese Hoffnungen haben sich offenbar in mehrerer Beziehung zerschlagen. Zwar kennt man das Hirn tatsächlich immer besser, aber es wird dabei auch immer klarer, dass die menschlichen Empfindungen eben gerade nicht so klar und eindimensional zuzuordnen sind, wie sich dies die Fachleute rund um das Manifest damals vorgestellt haben. Sie schrieben zum Beispiel: «Die Daten, die mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel Imagination, Empathie, das Erleben von Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen beziehungsweise die absichtsvolle Planung von Handlungen.» Und genau dies ist so eben nicht belegt. Im Gegenteil: Vorderhand ist geklärt, dass der Versuch zur eindeutigen Lokalisierung von Gefühlen im Hirn gescheitert ist. Das heißt nun noch nicht, dass die Psyche oder, wenn man so will, die Seele überhaupt nichts zu tun hat mit den grauen Zellen; bloß ist die Wissenschaft nach wie vor weit davon entfernt, das tatsächliche Zusammenspiel der entsprechenden Hirnregionen und Netzwerke zu begreifen, einmal abgesehen davon, dass diese Prozesse eben stets auch mit äußeren Elementen zusammen wirken, Erziehung als Grund­for­ma­tierung, dann aber auch das Umfeld usw. usf. Für all jene, welche sich also vor der Entschlüsselung des Hirns ähnlich wie der Entschlüsselung des Genoms gefürchtet haben, kann also mindestens vorderhand Entwarnung gegeben werden.

Da kommt mir übrigens gerade dieser neue Film in den Sinn mit dem schönen Namen «Her» oder Sie, welcher gerade nicht die physische Verortung, aber doch die tatsächliche Übernahme von seelischen und Charakterfunktionen durch den Computer beziehungsweise durch das Betriebs­sys­tem thematisiert. Spike Jonze führt in diesem Film konsequent durch, wohin die Rückschlüsse aus der Datenspeicherung auf das Verhalten der Computernutzer führen können, nämlich eben zur intuitiven Erkennung von Charaktermustern, zusammen mit der Auswertung und Anwendung aller entsprechenden Wissenschaftspublikationen, woraus der perfekte individuelle Begleiter entsteht beziehungsweise in seinem Film natürlich die perfekte individuelle Begleiterin. Und ich will diesen Film nicht weiter ziehen lassen ohne den Hinweis darauf, dass ich ordentlich gelacht habe an jenen Schnittstellen, wo es darum geht, die durchaus unplatonische, aber eben doch körperlose Beziehung in eine physische Dimension zu transzendieren. Für diesen Scherz allein gehört Mister Jonze aller Dank, ganz abgesehen davon, dass er dieses unsichtbare Betriebssystem mit der Stimme der überaus sichtbaren, wo nicht fast omnipräsenten und angeblich aktuell schönsten Frau der Welt ausstattet, welche ihr Gesicht und ihre Figur ansonsten während dem ganzen Film vollkommen verhüllt.

Ein Ziel, zwei Wege dazu; aber während der Ansatz von Spike Jonze eine filmische Fiktion bleibt, muss der erste Weg der Neurowissenschaftler selber vorderhand als gescheitert gelten, wie eben in der Zeitschrift Psychologie heute zu lesen ist. Allerdings stehen im entsprechenden Artikel auch Dinge wie, dass heute ein Großteil sämtlicher Erkrankungen gemäß der Weltgesund­heits­or­ga­ni­sa­tion aus psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen bestehe. Das erklärt einerseits das riesige Interesse an den entsprechenden Forschungsaktivitäten. Anderseits steht zweifelsfrei fest, dass dieser hohe Anteil an psychischen Erkrankungen hauptsächlich auf die Definitionen der WHO zurückzuführen ist beziehungsweise auf das Krankheits- oder Gesundheitsbild, welches die Seelenklempner erfolgreich in der Volks-Vorstellungswelt verankert haben: Kann mir irgend­je­mand irgend eine Person aus dem näheren Umfeld nennen, welche alle Tassen im Schrank hat? – Natürlich nicht; die geistige Gesundheit ist eine Fiktion, hinter welcher letztlich die Vorstellung eines Einheitsmenschen, eben: des gesunden Individuums steckt; sämtliche Abweichungen von der Norm sind krank und zu behandeln.

Dass mir so etwas nicht gefällt, versteht sich von selber, und dementsprechend bin ich versucht, jedes Mal laut zu applaudieren, wenn das Hirn den es untersuchenden Forschern ein Schnippchen schlägt, obwohl ich mir selber durchaus nicht sicher bin, ob es jene Individualität auch tatsächlich gibt, die ich mir für mich und für alle anderen Menschen einbilde. Aber für mein Selbstverständnis ist diese Fiktion natürlich absolut fundamental. Wenn ich in Zukunft nur noch ein gleich­ge­schal­te­tes Tröpfchen im Meer der Menschheit sein soll, dann kann ich die Übung gleich abbrechen. Also muss ich solche Annahmen rein grundsätzlich bestreiten. Die so genannte geistige Gesundheit, das normale Individuum, ist eine von Grund auf kranke Vorstellung.

Das ändert nichts daran, dass die Neurowissenschaft auch ihre freundliche Seite hat, und zwar eben gerade im psychischen Bereich. Ich halte es für erfrischend, dass sich der moderne Mensch nicht mehr damit abfinden muss, dass er eben aus den und jenen Gründen so und so herausgekommen ist und so nun auch in Zukunft bleiben wird. Es gibt kaum etwas Lustigeres, als einen vermeintlich schicksalhaften Charakterzug mit einer einfachen chemischen Reaktion zu erklären und vielleicht auch zu verbiegen. Es gibt nämlich nicht nur die naturwissenschaftlich-chemische Determination des Hirns und des Charakters, sondern eben auch die psychologische, und die kommt in der Regel noch vor der naturwissenschaftlichen. Noch vor der psychologischen Determinierung steht historisch dann die göttliche, hinter welcher in der historischen Regel dann vor allem die soziale Disziplinierung steht. Aber das führt jetzt zu weit.

Sprechen wir von etwas anderem. In den letzten Tagen wurde anlässlich des ersten Jahrestags des Bombenanschlags auf den Boston Marathon vom 15. April 2013 und seiner Opfer gedacht. Ihr erinnert Euch vielleicht daran, dass ich meine Zweifel hatte an der Täterschaft der Gebrüder Zarnajew und an einigen seltsamen Details, wie zum Beispiel, dass der jüngere Bruder Zokar mit seinem Blut noch ein Tätermanifest an eine Bootswand geschrieben haben soll. Ich weiß auch heute noch nicht so recht, wie es mit dieser Geschichte steht; allerdings ist sie welthistorisch offenbar weniger bedeutend als verschiedene andere Ereignisse, und insbesondere lassen sich im Nachhinein keine eindeutigen Nutznießer des Anschlags ausmachen, sodass ich immerhin eine Wahrscheinlichkeit einräumen muss, mich getäuscht zu haben. Dummköpfe gibt es immer und überall, und sie müssen nicht einmal besonders singulär sein, um solch einen Anschlag durchzu­ziehen. Trotzdem: Weder die Geschichte mit dem Tathergang noch die nachträgliche Psycholo­gisierung der Familie Zarnajew vermögen meine Zweifel völlig auszuräumen.

Von welthistorischer Bedeutung scheint mir dagegen jene andere Auseinandersetzung zu sein, welche mich jüngst von einer Zeitschriftenwand her anlachte, nämlich der Krieg der Ärsche in Hollywood. Irgend eines dieser Magazine, deren Titel ich mir nie merken kann, die aber zuverlässig ungefähr In-Touch oder so heißen, hat da beobachtet, dass die Frauen in Hollywood sich jetzt nicht mehr mit Frisuren, Kleidern und Schönheitsoperationen bekämpfen, sondern mit ihren Ärschen, und da ist ihnen offenbar jedes Mittel recht, nämlich rund, voll, schlank, eckig, oval, herzförmig, dreiseitig, unter hauteng anliegendem Stoff oder verhüllt unter Leinen, sozusagen in einer Arsch-Burka, all diese Luder schrecken jedenfalls vor nichts zurück, um ihre körpereigenen Fettdepots oder auch deren Mangel in den Krieg gegen die anderen Schönheiten respektive deren ins Licht rückende Schattenseiten zu führen. Ich erwähne nun diese Schlagzeilen nicht deshalb, weil es dazu noch irgendein Argument gäbe, sondern weil es dazu nun einfach schlicht kein Argument mehr gibt. Die Nachricht lautet, dass sich alles im Krieg gegen alles befindet. Der rote Lippenstift gegen den hellroten, die Butterstulle gegen das Salami-Sandwich, Rucksack gegen Handtasche, der linke Fuß gegen den rechten Oberarm, meine Nebenniere gegen das Fleischtunnel von Justin Bieber oder eben Spitzarsch gegen Rundarsch. Und das Erhebende daran ist: Diese Magazine haben Recht! – Nämlich befinden sich all diese Erscheinungen im steten Krieg gegeneinander um die Aufmerksamkeit der LeserInnen. Und dieser Krieg ist nun mal eine Realität, ganz unabhängig davon, ob man selber daran teilnimmt oder nicht. Weiter: In dieser Beziehung haben selbstverständlich alle In-Touch-Journalistinnen und Journalisten als Kriegsberichterstatter zu gelten und sind AnwärterInnen auf Pulitzer-Preise oder ähnliche Späße, allesamt Mitglieder bei Reporters sans frontières und so weiter. – Das erinnert mich übrigens an eine andere wichtige Frage: Was macht eigentlich Hayden Panettiere? – Und von mir aus heißt die Antwort: Ich weiß es gerade nicht, jedenfalls ist in nächster Zeit nicht damit zu rechnen, dass sie die Schwägerin des ukrainischen Präsidenten oder Ministerpräsidenten wird. – Hat die Ukraine überhaupt einen Staatspräsidenten im Moment? – Eigentlich schon, aber der weilt im Exil in Moskau. Rechtswidrig abgesetzt, ihr erinnert euch. Eigentlich ist das alles ganz und gar ungültig, was in der Ukraine abgeht. Überhaupt, es ist alles ungültig, die Verschuldung Griechenlands, Hartz IV ist ungültig, die EU und vor allem die schönen Ärscher der Hollywood-Schönheiten, es zählt alles nicht. – Übrigens habe ich irgendwo in einem Psychologieheft einmal gelesen, dass der Blick der Männer, zumal der heterosexuellen, bei den Frauen zuerst auf das Gesicht geht, dann auf die Brüste und dann auf die Ärscher, während die Frauen an den Männern zu allererst den Arsch beobachten und diesen somit jeweils zu Recht in seinen Namen als Allerwertesten einführen. Aber dies nur am Rande. Vielleicht ist ja auch diese Nachricht ungültig.