"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Sand -

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«Dabei tritt oft auch eine Art Umweltrassismus zutage, wenn die unterdrückten indigenen Gemein¬schaf¬ten hinnehmen müssen, dass die Produzenten ihre Lebensgrundlage vernichten, ihre Lebens¬qualität beeinträchtigen und ihr Ökosystem zerstören und, nachdem sie die Gewinne eingesackt haben, sich irgendwann in eine andere Gegend aufmachen, in der noch mehr zu holen ist.»
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12:24 min, 28 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.09.2014 / 13:59

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Umwelt, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 23.09.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
.» Dies schreibt die angesehene kritische Zeitung «Le Monde diplomatique» in ihrer September-Ausgabe, und ich habe den akuten Eindruck, diesen Satz schon mehr als einmal gelesen zu haben. Uran, Eisen¬erz, Erdöl, überall, wo der internationale Kapitalmoloch profitgierig zugreift, sind solche Er¬schei¬nun¬gen die Folge, und weil das so ewig und naturnotwendig erscheint wie der West- und der Ost¬wind, bin ich seit zirka zwanzig Jahren nicht mehr in der Lage, mich darüber wirklich zu echauf¬fieren, vielmehr geht es mir seit rund zehn Jahren auf den Geist, dass mich der kritische Jour¬na¬lismus immer wieder mit diesen unveränderten und damit sprachlich gesehen längstens un¬¬kri¬tischen Floskeln eindeckt. Was soll das? Nehmen wir mal das Eisenerz, dessen Gewinnung mit Si¬cher¬heit irgendwo auf der Welt dem letzten indigenen Stamm die letzten Lebensgrundlagen ent¬zo¬gen hat. Einmal abgesehen davon, dass das nicht mehr rückgängig zu machen ist: Was soll man denn dagegen tun oder eben hätte man denn dagegen tun sollen? Wo ist das Subjekt, wo das Ob¬jekt? – Ich gehe davon aus, dass in diesem hypothetischen Fall die Kombination eines Bergbau-Mul¬tis mit den Entscheidungsträgern im entsprechenden Land die Abbau-Genehmigung erteilt und die Abbau-Aktivitäten durchgeführt haben; die Begründungen sind bekannt, einerseits der Firmen¬gewinn, logisch, und anderseits die öko¬nomischen Interessen des Landes in der Form von Arbeits¬plät¬zen, Konzessionen und Steuer¬ein¬nahmen. Mit anderen Worten: Außer einer kritischen Be¬richt¬er¬stattung ex ante und ex post ist hier nichts zu machen. Die vom Bericht erzeugte Empörung ver¬pufft zunächst in ein namen- und begriffsloses Gefühl der Ohnmacht und in eine der vielen Unterformen von Verzweiflung, die durchaus keine klinischen Ausmaße annimmt. Ich hake aber nach: Was wäre die Alternative gewesen? Den Weltmarkt ab¬schaffen? Eine andere indigene Bevölkerung von ihren Stammlanden auf der entsprechenden Eisen¬erz-Ader zu vertreiben? – Übrigens erinnere ich mich bei dieser Gelegenheit daran, dass auch in der Ver¬gan¬genheit der neuen Bundesländer, und, wenn man es genau nimmt, auch in der Vergangenheit der alten Bundesländer da und dort Vorkommnisse beschrieben worden sind wie hier im Monde Diplo¬ma¬tique, zum Bei¬spiel beim Braunkohle-Tagebau oder im Ruhrgebiet, wo die unterdrückten indigenen Gemein¬schaf¬ten ebenfalls hinnehmen mussten, dass die Produzenten ihre Lebensgrundlage ver¬nich¬teten, ihre Lebensqualität beeinträchtigten und ihr Ökosystem zerstörten, wobei allerdings der Jam¬mer viel größer war und geradezu seine absolute, nämlich die Form eines Katzenjammers annahm, als der Moloch seine Tätigkeit einstellte und die zahlreichen Arbeitsplätze, welche die Existenz¬grund¬lage für ganze Dorfgemeinschaften indigener Bevölkerungen darstellten, nach und nach oder manchmal ziemlich schnell verschwanden. – Aber eben: Was wäre die Alternative gewesen? – Natür¬lich der respektvolle Umgang miteinander und die Wahrung der Interessen der seit der Geburt Christi oder noch früher im Land ansässigen Palästinenser. Äh, Verzeihung: Juden. – Äh, nein, hier geht es ja um die indigenen Völker, und von den Juden bzw. Palästinensern ist nach wie vor nicht geklärt, wer indigener ist als der andere, und ihr seht wieder mal, wie die Beschäftigung mit der Weltpolitik alles durcheinander bringt. Also machen wir es kurz: Der Kapitalismus schlägt da, wo er hinfällt, alles kurz und klein, da braucht es gar keine indigenen Völker für, man kann sich auch die kana¬di¬sche Provinz Alberta von oben her ansehen, die schillert in allen Farben des Erdölsand-, Bitumen- und Chemiemix-Spektrums; das ist die eine Seite, und die andere Seite ist die, dass der Kapitalis¬mus schlicht und einfach unsere Existenzbedingung ist. Le capitalisme est notre condition humaine. Wer ihn als condition inhumaine bezeichnet, liegt nicht hundertprozentig falsch, aber das Faktische verfügt als Hauptargument immer über die Kraft des Faktischen, und dagegen kommt man sozu¬sagen nur mit dem Kontrafaktischen an. Nein, natürlich nicht; aber eben: Was bringt diese kritische Berichterstattung bei? Schafft sie Handlungsräume, wie man dies in verschiedenen Echoraum-Se¬mi¬naren jeweils fordert? – Ich bin geneigt, laut heraus zu sagen: Nein, mein Herr. Das Gejammer über die Vernichtung von Lebensgrundlagen, Beeinträchtigung der Lebensqualität und Zerstörung der Ökosysteme ist zum vornherein befreit von jeder Handlungsfolge, natürlich nicht zuletzt des¬wegen, weil die Trauer über indigene Völker eine eigenartige Sache ist; in der Regel möchte nämlich niemand, nicht mal die indigenen Völker selber, leben wie die indigenen Völker.

Und damit verdichtet sich der Verdacht zur Gewissheit: Diese Floskeln, die Stereotypen, dieses ewige antikapitalistische Mantra ist nichts anderes als ein, unterdessen auch nicht mehr so akut moderner Jargon, es handelt sich um Kommunikationspastillen, die man sich gegenseitig an Parties anbietet wie Häppchen oder Komplimente, hier einfach der kritischen Art, damit man sich selber auch hübsch kritisch geben darf und niemals einfach als unbedarft positiver Mensch gelten muss.

Im vorliegenden Fall, also bei der September-Ausgabe des Monde Diplomatique, erreicht der Jar¬gon allerdings einen für mich ziemlich einsamen Höhepunkt, indem er sich eines Rohstoffes be¬mäch¬tigt, den ich bisher nicht im Traum in Zusammenhang gebracht hätte mit kapitalistisch-imperialistisch-monopolistisch-kolonialistischer Ausbeuterei, nämlich schlicht und einfach Sand. Dass man diesen Rohstoff ideologisch etwas aufladen muss, versteht sich dabei von selber, ich zitiere: «Sand entsteht als Resultat natürlicher Prozesse von einigen Hunderten oder sogar Mil¬lio¬nen Jahren Dauer. Folglich ist er kein erneuerbarer Rohstoff, jedenfalls nicht nach menschlichen Zeitdimensionen.» Da der Abbau rund um die Uhr und ganzjährig stattfindet, «verschwinden Sanddünen oder Sandsteinhügel, die über die Jahrtausende entstanden sind, innerhalb von wenigen Jahrzehnten.» Hier handelt es sich natürlich um die eins-zu-eins-Transposition der Argumente rund um das Erdöl auf den Sand, mit der kleinen Nuance, dass nach meinem Wissensstand kein Peak Sand in Aussicht steht; das ist also zunächst einfach mal Blödsinn. Demnächst erscheint wohl ein Artikel über die Ausbeutung von Gras, das immer schneller wachsen muss, um den Kühen ins immer gierigere Maul geworfen zu werden, Kühen, die immer größere Mengen an Milch zu liefern gezwungen werden von – ja, von wem? Vom Kapitalismus, vermutlich wieder. Allerdings ist der Kapitalismus in seinem Funktionieren nichts anderes als unser Leben, in welchem wir uns hin und wieder in einen Supermarkt begeben, um nicht selber gezüchtete Milch zu erwerben und ein Ko¬te¬lett zu kaufen. Und ja, wir wohnen in der Regel in Häusern aus Betong mit den entsprechenden Sandbeimischungen; es versteht sich, dass neben diesem kritischen Artikel zum internationalen Sand-Raubbau im Le Monde Diplomatique auf der Seite 23 ein «Plädoyer gegen den Beton» abgedruckt steht, das allerdings unter dem Haupttitel «Umdenken statt neu bauen» in keiner Art und Weise Argumente gegen den Beton aufführt, konkret nicht ein einziges, sondern sich für die Beteiligung der betroffenen Bevölkerung bei der Quartierplanung ausspricht, um dann in ein paar Schwurbelsätze der neuen Philosophie und Soziologie zu münden: «Die reduktive Moderne bedeutet nicht das Austauschen einer altmodisch gewordenen Technologie gegen eine andere, sondern ein anderes Leben. Deshalb würde sich ein transformatives Design nicht auf das Anfüllen, sondern auf das Wiederentleeren der Welt richten.» Das ist mal ein kulturelles Paradigma, das man beim Zahnarzt einsetzen könnte, derart massiv steht einem der Mund offen, wenn man es sich auch nur halbwegs zu vergegenwärtigen versucht. Das Wiederentleeren der Welt, prost Margarita.

Aber zurück zum Sandjammer. Da geht es zum Beispiel um Dünensand in Marokko, und im Artikel sieht das dann so aus: «Die ungezügelte Sandgewinnung gefährdet die marokkanische Mittel¬meer¬küste, weil sie den Meeresspiegel ansteigen lässt. Studien zufolge werden schon im Jahr 2050 rund die Hälfte aller Sandstrände im Nordosten des Landes überspült sein.» Aha, der Sandabbau lässt sogar den Meeresspiegel ansteigen! Da hatten wir bisher eher die Klimaerwärmung dafür verantwortlich gemacht. – Diesen offensichtlichen Nonsense kann man sich vielleicht noch durch einen Übersetzungsfehler erklären, allerdings nicht die Tatsache, dass er der deutsch¬spra¬chigen Redaktion durch den Lappen gegangen ist. – Und weiter: «In der Umge¬bung der zehn Kilometer vom Meer entfernt liegenden Stadt Tetuan werden bis dahin bereits mehr als 95 Prozent der Küstendünen zerstört sein. In der gesamten marokkanischen Küstenregion wird der Dünensand nicht nur unkontrolliert für den Bau privater Strandvillen genutzt, sondern auch kommerziell abge¬baut und verkauft. Die ökonomische Entwicklung, verstärkt durch den Tourismus, beschleunigt diesen Prozess: An den Küsten verzehnfacht sich die Bevölkerung im Sommer allein durch den Zustrom von Urlaubern.» – Da haben wir’s! Wenn im Sommer Urlauber ans Meer fahren, vermehrt sich die Zahl der dort Anwesenden wie Sand am Meer, wer hätte das gedacht! Der Tourismus ist der letzte Sargnagel beim Sand-Raubbau, und nicht nur die unkontrollierte Verwendung von Sand für den Bau privater, ich wiederhole: privater Strandvillen!
Dieser Jargon zieht sich durch den ganzen Artikel, der mir zunächst übrigens deswegen aufgefallen ist, weil der Verbündete des Monde Diplomatique, der Fernsehsender Arte, eine entsprechende Dokumentation ein paar Wochen vor Erscheinen dieser Ausgabe ausgestrahlt hatte. Das ist absurd, hat aber seine Nützlichkeit immerhin darin, dass der kapitalismuskritische Jargon noch nie in einer vergleichbaren Schönheit des Sinnlosen angewendet wurde, nämlich auf ein völlig untaugliches Objekt. Sand gibt es nun mal nach wie vor in Hülle und Fülle. Das hat nichts damit zu tun, dass in Einzelfällen durchaus ein unnötiger Eingriff in ein Ökosystem getätigt wird, gegen den sich Bürge¬rin¬nen¬initiativen und Naturschutzverbände durchaus zu Recht zur Wehr setzen sollen. Der kapitalis¬muskritische Jargon erzeugt neben dem ihm zugeordneten Stirnrunzeln in den Konsumentinnen vor allem das Gefühl einer tiefen Weltverbundenheit im Sinne der Bewahrung der Schöpfung und ihrer Geschöpfe, ohne dabei irgendwelche Subjekte oder Objekte zu benennen, das heißt, er ist Hand¬lungs¬unfähigkeit, ja Handlungsunwille pur. Dafür stehen Jargon-Kernsätze wie der folgende: «Wo das ökologische Gleichgewicht zerstört wird, ist die Artenvielfalt gefährdet und langfristig sogar die lokale Lebensmittelversorgung.» Erhaltet alles und jetzt also auch noch den Sand. Das ist eine konservative Haltung der schrecklichen Sorte. Hier mündet übrigens das «Plädoyer gegen den Beton», das gar keines ist, dann doch wieder auf die gleiche Zielgerade ein, indem es vorschlägt, einfach das Alte stehen zu lassen und nicht neu zu bauen. Sowieso mache der «Bauabfall, der durch Abriss entsteht, heute die Hälfte des gesamten Abfalls in Deutschlands» aus – und zudem sei er oft toxisch. Also lieber die toxischen Altbauten stehen lassen, und überhaupt keine Hand mehr legen an die Welt. In Zukunft kann man dann die Kinder direkt in die Särge hinein gebären.