"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Byung-Chul Han -

ID 66319
 
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Eine Kollegin hat mir eine Broschüre von Byung-Chul Han mit dem Titel «Transparenz­gesell­schaft» in die Hände gedrückt. Nach einer ersten Lektüre stand ich etwas ratlos in der Gegend herum, denn was Herr Han überhaupt unter Transparenz versteht, weiß ich nach wie vor nicht exakt. Es geht um Durchschaubarkeit, selbstverständlich, aber die totale Durchschaubarkeit setzt für Han auch totale Anpassung voraus oder bringt sie mit sich. Und natürlich geht es vor allem um Macht.
Audio
11:34 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.09.2014 / 11:43

Dateizugriffe: 787

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 30.09.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wenn die Okkultierung von Informationen, was typischerweise das Bestehen von Macht­ver­hält­nis­sen ausmacht – übrigens vorderhand noch völlig jenseits des spezifischen Charak­ters dieser Machtverhältnisse –, wenn diese Okkultierung also völlig aufgehoben wird, dann bedeutet dies anderseits, dass es keinerlei Privatsphäre mehr gibt, sondern nur noch totale Überwachung. «Trans­pa­renz ist ein Zustand, in dem jedes Nicht-Wissen eliminiert ist. Wo Transparenz herrscht, ist kein Raum für das Vertrauen vorhanden. Statt „Transparenz schafft Vertrauen“ sollte es eigentlich heißen: „Transparenz schafft Vertrauen ab“.» Nun ja, von diesem Konflikt haben schon andere gesprochen, der Ausspruch «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser» wird auch heute noch jeden Tag hundertfach zitiert, er ist geradezu eine Maxime in einem politischen Prozess, der nach wie vor nicht von der Absenz, sondern von der massiven Präsenz von sich bekämpfenden Interessen und Interessensgruppen geprägt ist. Das leuchtet ohne weiteres ein, und deshalb hat die Forderung nach Transparenz ja auch nach wie vor einen derart großen Stellenwert.

Wie jedem großen, nämlich möglichst weltfremden Philosophen geht es Byung-Chul Han offen­sicht­lich nicht um die profanen Interessenkonflikte, also um die Kernsphäre der Forderungen und Diskussionen rund um Transparenz, sondern um das Zusammenleben, um das Leben des modernen Individuums überhaupt unter den Bedingungen der gegenseitigen und absoluten Transparenz bezie­hungs­weise im Zeitalter von Facebook und Google. Die Individuen werden selber zu den Agenten der gegenseitigen Überwachung. – Diese Aussage hat übrigens Friedrich Dürrenmatt bereits vor 30 Jahren mal getätigt, aber dies nur am Rand. – Han eliminiert mit anderen Worten aus seinem philosophischen Vortrag die soziale Gegensätzlichkeit, um stattdessen die Gleichschaltung von Sprache und Denken anzuprangern, welche die Folge sei der umfassenden Transparenz. Die Welt wird unter dem Imperativ der Transparenz zur Maschine, zur simplen Mechanik. Umgekehrt heißt dies dann wohl, dass vor der Einführung des Transparenz-Reinheitsgebotes die Diversität ge­herrscht habe dank der Verhüllung, der Geheimhaltung, der Wahrung der Intimsphäre von Dingen und Menschen.

Auch zur Intimsphäre der Dinge beziehungsweise zu ihrer Gefährdung gibt es ältere Äußerungen, zum Beispiel von Rilke: «Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deut­lich aus: Und dieses heißt Hund, und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: Sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle Dinge um.» Nun ist Rilke ein Poet und arbeitet von Berufes wegen mit den unhör­ba­ren oder mindestens changierenden Seiten der Sprache, er ist interessiert an der verborgenen Seite des Mondes; aber ein Philosoph sollte doch genau das Gegen­teil anstreben, eine möglichst klare Sprache, nicht zuletzt in Bezug auf die Transparenz, und da müsste zum Beispiel allein der Begriff «Transparenzgesellschaft» zunächst einmal erklären, warum er überhaupt da ist und was er meint.

Zumal Byung-Chul Han in der Broschüre drinnen dann erst richtig loslegt mit seinen Abschnitts­titeln: Es beginnt mit «Positivgesellschaft», wobei Han hier in fast höchstmöglicher Ungenauigkeit über die Abwesenheit von Negativität fabelt bis hin zur Psyche, wenn er schreibt: «Die Positivgesellschaft lässt auch keine Negativgefühle zu. So verlernt man mit Leiden und Schmerz umzugehen» und so fort, dann geht es weiter mit der «Ausstellungsgesellschaft», gefolgt von der «Evidenzgesellschaft», der «Pornogesellschaft», der «Beschleunigungsgesellschaft», der «Intimgesellschaft», die übrigens in einer etwas schillernden Beziehung steht zur Abschaffung der Intimität in der Transparenz­gesell­schaft, und zwar hauptsächlich aus dem Grund, weil die Tyrannei der Intimität, wie Han dies nennt, keineswegs umfassend ist und vor allem eine völlig andere Form und Bestimmung hat als das, was er sub Transparenzgesellschaft angeprangert hat. Weiter geht es mit «Informationsgesellschaft», wo die Information als «positivierte, operationalisierte Sprache» denunziert wird, welche die menschliche Sprache «stelle» unter Verweis auf zwei, drei schöne Passagen aus dem Heideggerschen nicht positivierten und nicht operationalisierten Sprach­uni­ver­sum. Es folgt die «Enthüllungsgesellschaft» und zum Abschluss die «Kontrollgesellschaft». Wenn man die Ausdauer hat und über die Anmerkungen hinaus zum Verzeichnis weiterer Bücher in der entsprechenden Reihe blättert, dann findet man dort noch ein Werk von Byung-Chul Han mit dem Titel «Müdigkeitsgesellschaft», und wie dort die einzelnen Abschnitte lauten, kann man sich mit etwas Phantasie selber ausmalen.

So viele Gesellschaften, und eine bedrohlicher als die nächste. Wir sind nur noch positiv, alles ist ausgestellt und evident, reine Pornografie, in ständiger Beschleunigung, wir zelebrieren Orgien der öffentlichen Intimität, alles wird zur Information, alles wird enthüllt und alles kontrolliert, weshalb wir eine Gesellschaft von jeweils all diesen Aktionen oder Vektoren sind, zusammengefasst unter dem Obertitel der Transparenzgesellschaft. Neben diesen vielen eindimensionalen Gesellschaften sind wir dann eben noch eine Müdigkeitsgesellschaft, aber die waren wir offenbar schon etwas früher.

Wie all die kritischen Vorwürfe zelebriert werden und in welche Richtung sie zielen, geht vielleicht aus einer Passage am deutlichsten hervor. Auf Seite 29 hebt Han an: «In „Die kommende Gemein­schaft“ weist Giorgio Agamben auf das Gleichnis vom Reich des Messias hin, das Benjamin eines Abends Ernst Bloch erzählte: „Ein Rabbi, ein wirklich kabbalistischer, sagte einmal : Um das Reich des Friedens herzustellen, werden nicht alle Dinge zu zerstören sein und eine ganz neue Welt fängt an; sondern diese Tasse oder jener Strauch oder jener Stein und so alle Dinge sind nur ein wenig zu verrücken. Weil aber dieses Wenige so schwer zu tun und sein Maß so schwierig zu finden ist, kön­nen das, was die Welt angeht, nicht die Menschen, sondern dazu kommt der Messias.“ Die Dinge werden hur geringfügig verrückt, um das Reich des Friedens herzustellen. Diese minimale Veränderung findet, so bemerkt Agamben, nicht in den Dingen selbst, sondern an ihren „Rändern“ statt. Sie verleiht ihnen einen geheimnisvollen „Glanz“ (clarior). Diese «Aureole“ entsteht durch ein „Zittern“, durch ein „Schillern“ an ihren Rändern. Das leise Zittern verursacht, so könnte man Agambens Gedanken fortführen, ein Undeutlich-Werden, das das Ding von seinen Rändern aus in einen geheimnisvollern Glanz hüllt. Das Heilige ist nicht transparent. Vielmehr zeichnet es eine geheimnisvolle Unschärfe aus. Das kommende Reich des Friedens wird nicht Transparenz­gesell­schaft heißen. Die Transparenz ist kein Zustand des Friedens.»

Um das kommende Reich des Friedens geht es Han also, was zunächst mal seltsam kollidiert mit der Forderung nach einer, vom Wesen her unbedingt unfriedlichen Negativität, die er erhebt, wenn er der Positivität den völligen Mangel an selbiger vorwirft. Frieden ist als philosophische Kategorie sowieso unhaltbar. Dann aber geht es darum, für eine auf eher dünnen Beinen wankende Passage schon mal drei Großkaliber zu zitieren, nämlich Giorgio Agamben, welcher Walter Benjamin und Ernst Bloch im vertrauten Gespräch zitiert über einen kabbalistischen Rabbi – solche Konstrukte mag ich schon mal grundsätzlich nicht. Ob die Dinge dann von ihren Rändern her zittern oder erst dann von den Rändern oder auch vom Zentrum aus zu zittern beginnen werden, wenn sie der Messias herum- oder zurechtrückt, darüber kann man sich unterhalten, aber wir haben immerhin die Namen fallen gelassen und das lateinische Wort Clarior abgedrückt, das seine deutsche Übersetzung in keiner Art und Weise erweitert oder klärt. Benjamin, Bloch, recht viel Heidegger, Barthes, Georg Simmel, Starobinski, selbstverständlich Lacan, Baudrillard, Rousseau neben den üblichen Platon und Hegel – das gehört zum Handwerk der Öffentlichkeits­arbeit. Aber was soll das Ganze? Was bringt es bei? Welchen Gewinn zieht das Denken oder am Schluss sogar das Handeln aus den Sätzen von Byung-Chul Han, die wie Münzen aus völlig unterschiedlichen Währungen auf den Tisch prasseln?
Für mich ist die Antwort klar: Letztlich handelt es sich hier um den Vortrag von philosophischen Versatzstücken unter der Behauptung, nun, nicht gerade einer kritischen Theorie, aber doch eines eigenständigen kritischen Ansatzes. Ich würde dies nicht gerade heraus verurteilen wollen, denn die geistige Auseinandersetzung rund um das Verständnis der postindustriellen Welt in Europa und zum Teil in den Vereinigten Staaten ist derart unterentwickelt, dass man jeden Versuch zunächst einmal begrüßen muss. Auf diesem Gebiet besteht ein derartiger Mangel, mit dem ich mich übrigens auch immer wieder herum plage, dass man auch die Feuilletons und Kulturredakteurinnen begreift, welche sich mit Begeisterung auf Herrn Philosoph Han stürzen. Besonders entzücken muss sie in erster Linie der Umstand, dass er einen weiten Bogen macht um Fragen wie zum Beispiel die Zukunft der Sozialversicherungen, Rüstungsgüterexporte, das deutsche Wirtschafts­wun­der, Eurokrise und vor allem um die Frage, die von sämtlichen anderen Akteuren als zentral angesehen wird, nämlich wie in Zukunft ein paar hundert Millionen Menschen in Europa ihren Alltag und überhaupt ihr ganzes Leben verbringen sollen, wenn ihnen die traditionellen Erwerbsmechanismen im postindustriellen Zustand dahin schmelzen wie das Polareis unter den Bedingungen der Klimaerwärmung. Das ist kommod, dass wir uns nicht schon wieder mit solchen Dingen auseinander setzen müssen, wo die Auseinandersetzung zum Vornherein kodiert ist oder, in Anlehnung an die 100-Jahr-Jubiläen für den Ersten Weltkrieg, in Schützengräben verläuft. Positivgesellschaft, Ausstellungsgesellschaft, Evidenzgesellschaft, Pornogesellschaft, das tönt doch nach ein bisschen Abwechslung. Byung-Chul Han zieht aus dieser Begeisterung seinen Gewinn mit dem Verkauf von Büchern und mit einer Anstellung an einer Hochschule in Berlin als Philosophieprofessor neben vielen Einladungen zu Gastvorträgen, Artikeln und Interviews. Das ist in Ordnung, so funktioniert der Markt nun mal, auch auf dem Gebiet der Philosophie. Aber Stringenz, also der Nachweis einer zwingenden Evidenz der auf unsere Gesellschaft und ihr Verständnis angewendeten Begrifflichkeit und ihrer Kritik, anders gesagt: der Nachweis eines eigenständigen kritischen Ansatzes, der fehlt mir in diesem Fall zu einhundert von hundert.