Grenzüberschreitung/Grenzverletzung

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CM auf FSK 93.0 Megahetz(e) - Monatliche Kolumne des Café Morgenland - Oktober 2014. Ein Text aus dem Jahre 1992.
Heute unter dem Motto "Gegen jeden religiösen Fundamentalismus", morgen für ... und 1992 mit dem und für das Volk.
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Entstehung

AutorInnen: Redaktion 3
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 14.11.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der vorliegende Text stammt von den Anfängen von CM aus dem Jahr 1992, als wir den Versuch, der sich nachträglich als Sisyphusarbeit herausstellte, unternahmen, durch Aufklärung und Argumentation, die deutsche linke von ihrem Schmusekurs mit der deutschen Population abzubringen. Ja, wir gestehen, trotz flagranter Eintracht und augenfälliger Geistesverwandtschaft zwischen ihnen, damals einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der deutschen Linke und der deutschen Population gemacht zu haben. Niemand ist Unfehlbar. Denn bekanntlich ist dieser Versuch auf allen Ebenen kläglich gescheitert.
Angesichts der Ereignisse in Köln, wo das Zahlenverhältnis zwischen Neonazis und Gegendemonstranten 10 zu 1 betrug (5000 zu 500), angesichts der Formierung des Mobs in BI`s gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte, angesichts der rassistischen Anschläge und Angriffe, allen voran der aufflammenden Antiziganismus (medial und praktisch), angesichts der Morde gegen alles, was nicht deutsch genug stinkt, wie neulich am 23.10. in Limburg an der Lahn, wo ein Mensch aus Ruanda totgeprügelt wurde, bietet der Text für diejenigen, die es unbedingt wissen wollen, einige Antworten.
Weder die Meute in Köln, noch die marodierenden Mördertruppen im Vorder-, Hinter- oder Untergrund fielen aus heiterem Himmel. Denn das entscheidende ist nicht, ob die Bullen in Köln versagt haben. Das entscheidende ist, dass sich die Gegner der HoGeSa – in gewohnter Anbiederung an die Bevölkerung – deren Parolen zu Eigen gemacht haben: „Schulter an Schulter gegen Rassismus und religiösen Fundamentalismus“, war das Motto der Gegendemonstration.
Ein Ausrutscher? Weit gefehlt. Das Buhlen um die Gunst der gleiche Klientel, geht mit der bereits erprobte Parole in den Aufrufen der Gegendemo am 15.11. in Hannover weiter. „gegen Rassismus und religiösen Fundamentalismus“ heißt das hannoversche Demo-Motto.
Soll heißen, 50%-ige Deckungsgleichheit mit der Stoßrichtung der Neonazi-Demo. Soll aber auch heißen, dass der Begriff „Querfront“ seine „Anrüchigkeit“ längst verloren hat.
In Köln und sonst wo hat gefruchtet, was seit über 2 Dekaden, auch durch eine Mehrheit der deutschen Linken, konsequent und kontinuierlich – und mit deutscher Gründlichkeit, versteht sich – vorbereitet wurde.
http://www.cafemorgenland.net/archiv/199...

Grenzüberschreitung/Grenzverletzung

„Das Ausfechten von Gegensätzen, Widersprüchen war es gewesen, was zum Gemeinsame zwischen uns geführt hatte. Ablehnungen, Schwierigkeiten hatte es gegeben, und immer wieder das Bestreben, mit These und Antithese einen für beide gültigen Zustand zu erreichen. Sowie Divergenzen, Konflikte neue Vorstellungen entstehen ließen, so entstand jede Handlung aus des Zusammenprall von Antagonismen. Die Einsicht und Artikulation dieser Vorgänge, «machte das Zusammenleben, die gegenseitige Würdigung möglich... Die Menschen, die Erkenntnisse in Taten umsetzen wollten, waren selbst aus dem Alten hervorgegangen und angefressen von Regungen und Eigenschaften, die zum Alten gehörten.
Die Gehirne befanden sich in unablässigen Kampf mit der Brutalität, auch sie, denen wir in der politischen Orga-nisationsarbeit vertrauten, waren gekennzeichnet von Dasein im Versteck, im Hinterhalt, in Verstellung und Lüge, wie sie notwendig waren bei der Bekämpfung des Feindes". (Peter Weiß, Die Ästhetik des Widerstandes)

Obwohl die aktuelle Entwicklung in diesem Land unsere Befürchtungen bzw. unsere Einschätzungen (leider) übertroffen hat, obwohl also die Ereignisse

der letzten Zeit eigentlich die Antwort sind auf all die Kritiken an uns, sehen wir uns gezwungen, uns noch einmal in diese Auseinandersetzung einzu­mischen.

Weil wir interessiert sind genauer zu werden mit all denen, die Rassismus und Neonazismus bekämpfen wollen.

Aber auch weil wir die Wut, die wir uns in diesen letzten Jahren zugezogen haben, nicht verdecken wollen.

Da wir davon ausgehen, daß die letzten Beiträge eine breitere Tendenz als die Verfasserinnen selber repräsentieren und wir außerdem keinen Bock haben,

die Auseinandersetzung auf der persönlichen Ebene zu führen, meinen wir mit dem "Ihr" diejenigen, die die Inhalte, die wir kritisieren, mitra­gen bzw. zustimmen.

Die Beschimpfungen und die Versuche, die Auseinandersetzung um das Konzert im Exzess am 8. Mai 1992 zu personalisieren (siehe Beiträge in Swing Nr. 45), lassen sie nicht ohne weiteres mit der "Betroffenheitsschiene" erklä­ren. Denn sowohl die Inhalte der Kritik als auch die Polemik des Beitrags in der JUZ-Disskussion, waren in den Redebeiträgen "Deutschland im Herbst '91: Rassismus als Norm" (Uni-Frankfurt, Dez.91) in umfangreicherer Form und viel schärfer formuliert worden. Damals allerdings wurden sie tatsäch­lich als Klopapier benutzt.

Damals war das Schweigen unüberhörbar. Warum nicht heute? Aufschlussreiche Erklärung dafür bieten die neuen Swing-Artikeln selbst: "Bliebe die Frage, wie die SWING, als Teil der linksradikalen Scene, unkommentiert solch eine einseitige Darstellung bundesweit verbreiten kann!?" (Wir waren schon als Kind Scheiße), "Dies wurde aber auch dadurch notwendig, weil es mittlerweile wohl "in" ist Papiere rauszubringen und bundesweit zu verschicken, ohne sie hier in der Stadt zu diskutieren" (Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern sondern zwischen oben und unten).

Ihr merkt nicht mal was da passiert! Ihr fordert von einem deutschen Blatt (so ganz selbstverständlich), den Abdruck von Beiträgen von Migrantinnen doch sein zu lassen oder zumindest zu kommentieren (selbstverständlich als Gegenkommentar), weil es euch nicht passt! Ihr fühlt euch (als was eigent­lich?) ungerecht behandelt, nicht bevorzugt.

Wir haben also gesündigt! Statt das Ganze unter den Teppich zu kehren wie ihr es getan hättet (wie zu oft), haben wir den Konflikt sichtbar und les­bar gemacht. Sogar bundesweit. Ungeheuerlich! Wir haben eure Normen verletzt. Wir haben festgelegte Grenzen überschritten, anstatt den linksra­dikalen Spruch "wir müssen mal darüber reden" Folge zu leisten. Damit es klarer wird: Auch in der Zukunft werden wir uns nicht um diese Normen kümmern, wenn das uns nicht paßt. Und wir werden uns von niemanden Grenzen und Form der Kritik aufzwingen lassen! Insbesondere nicht bei einem solchen Thema wie Rassismus.

Ein weiterer Grund der jetzigen Empörung liegt sicherlich darin, daß der Beitrag vom Dezember allgemeiner war. Er bezog sich nicht auf einen konkre­ten Fall, sondern druckte Erfahrungen und Empfindungen aus. Diesmal war es anders. Es war zu konkret um auszuweichen. JedeR sah sich mittendrin. Neutralität war nicht mehr möglich. Dafür oder dagegen. Es blieb kein, aber kein Fluchtweg offen. Schweigen hätte wahrscheinlich noch mehr gekostet. Es entstand Panik. Einer aus der Gruppe Cafe Morgenland wurde rausgegriffen. Somit entstanden gleich zwei Probleme: Erstens: die Weigerung, Cafe Morgenland als Migrantinnen-Zusammenhang mit all seine Unterschiedlichkeiten zu akzeptieren.

Zweitens: die Annahme, daß durch die Ruhigstellung der/die Person(en), die eine bestimmte Ansicht äußern, das Problem gelöst wäre. Was dort artikuliert wurde, war doch kein Hirngespinst eines Einzelnen! Eine Harmonisierung würde nur eine zeitliche Verschiebung des Konflikts und sonst nichts bringen.

Zu der vielzitierten Härte der Kritik. Sie entspricht nicht mal ansatzweise dem, was viele Migrantinnen zu Zeit empfinden und diskutieren. In der Nacht des Konzertes sammelten sich auf der anderen Straßenseite aus­ländische Kids. Entsprechend ausgerüstet wollten sie den Pulk der Skinheads angreifen. So weit es einzelnen von uns möglich war, haben wir eingewirkt dies doch sein zu lassen. Zugegebenermaßen in erster Linie wegen der Ge­fährdung der Jugendlichen selber. Es hätte ein Funken genügt und ein Blut­bad wäre entstanden. Dann wäre auch uninteressant wer Recht und wer Unrecht hatte.

Es kann also nicht als schlimm genug bewertet werden, was gelaufen war. Daher meinen wir nach wie vor, daß die Kritik adäquat ist. Vor allem in diesen Zeiten.

Aber zurück zu den eigentlichen Inhalten. Zu der Substanz also. Im Artikel "wir waren schon als Kind Scheiße" wird selbstkritisch gesagt, das Konzert (...sollte nicht stattfinden, weil Frauen/Migrantinnen im Stadtteil Angst hätten: "Insbesondere die Empfindungen (speziell) ausländischer Menschen bei Skins oder kurzhaarigen können wir nicht so einfach plattbügeln..." Und selbst? Fühlt ihr euch wohl dabei mit Skinheads gemeinsam zu feiern? Weiter heißt es: "Für uns als Sceneladen mit einer gewissen Präsens und Be­deutung in Bockenheim heißt das in unserer Praxis von der gesellschaftli­chen Realitäten von ausländischen Menschen und Frauen auszugehen. Unsere antirassistischen/antisexistischen Ansprüche nicht zu Worthülsen werden zu lassen, indem wir immer gerade das tun wo wir Lust drauf haben." Na, worauf habt Ihr denn Lust? Denn es liegt uns fern Euch Eure Gelüste zu verbieten.

Da wie eben erwähnt wurde, ein Gegensatz existiert zwischen dem wovor Frauen/ausländische Menschen Angst haben und dem was Mann am liebsten tun würde (wenn es bloß diese Rücksichtnahme nicht gäbe), bleibt die Frage nach den Grundlagen von Gemeinsamkeiten.

Entweder gibt es Gemeinsamkeiten immer vom eigenen Standpunkt ausgehend oder nicht. Dann sollten wir es auch dabei belassen. Erst wenn ihr Euch selbst aus eigenen Interessen und Empfindungen beschissen fühlt mit Skins zu feiern, ist die Basis da. Alles andere unterordnet sich dem Opportunitätsprinzip. Und das allerdings ist keine gute Basis für eine Zusammen­arbeit.

Noch was. Ihr habt ein Bild von Ausländerinnen ohnegleichen: "So das teilweise fehlende Verständnis/Verantwortungsgefühl für die Menschen im Stadtteil (viele ausländische Menschen) bei unseren Aktivitä­ten. Welchen Ausdruck z.B. Großkonzerte/Veranstaltungen haben: viele Leute auf der Straße, viele Suffnasen, rumgegröhle, unser häufig martialisches Auftreten (Schwarz, schwere Klamottenkluft) kann auch ziemlich furchtein­flößend rüberkommen." (Wir waren schon als Kind Scheiße). Als ob sie nicht wissen, wer ihre Totschläger sind und wer nicht. Auch wenn die Lebensart und das Erscheinungsbild von Punks oder Autonomen nicht immer auf Begeisterung stößt, so weit sind sie schon Skins von Punks zu unterscheiden. Daß die "autonome Kleiderordnug" ein wichtiges Diskussionsthema sein kann, ist eine Sache. Unsere Kritik aber bezog sich einzig und allein auf das Einladen von Skins im Stadtteil. Sonst nichts. Der Versuch jetzt alles in einem Topf zu werfen, um die eigentliche Kritik zu verschleiern, zeigt den Grad der "Selbstkritik".

Zu dem zugespitzten Zitat "Es war für Euch kein Problem für OI-thanasie-Anhänger Feste zu organisieren":

Wir stellten fest, daß eine ganze Menge rechte Skins (bleiben wir bei den Unterschied) im Exzess gefeiert haben. Der Versuch der Antifa, sie nicht reinzulassen, war durch Intervention von anderen gescheitert. Sie waren also alle drin. Das Fest wurde nicht von den Skins selbst in autonomer, selbstverwalteter Weise organisiert, sondern von ganz anderen Leuten. Genau wie in dem vorhin erwähnten Beitrag stand: Lautstärke, Konzertankündigungen usw.

Ein Teil von diesen Gestalten ziehen seit einiger Zeit von Flüchtlingswohn­heim zu Flüchtlingswonheim und versuchen, die Gebäude zu stürmen um die Menschen, die darin wohnen, zu verbrennen. Nacht für Nacht. Seit über einem Jahr.

Weil es in die Ideologie der "gesunden Herrenrasse" gehört, haben sie ihre Aktionen erweitert. Vor kurzem haben sie in Stendhal ein Behindertenheim angegriffen und die behinderten Kinder zusammengeschlagen.

Statt Euch über das Aussprechen von Tatsachen zu ärgern, wäre es sinnvoller Euch über die Tatsachen selbst zu empören.

Noch was. Wißt ihr überhaupt wie in Deutschland der Begriff "Schreibtisch­täter" besetzt und verwendet wird? Fragt lieber vorher nach.

Zum Vorwurf wir hätten Ansätze, die es gibt, nicht erwähnt bzw. übelst ent­stellt: dadurch, daß sich ein politischer Ansatz dem Anti-Rassismus ver­pflichtet, ist er noch lange nicht über jeden Verdacht erhaben. Wir werden es Euch nicht einfacher machen. Ihr seid für uns weder RassistInnen noch FaschistInnen, und das wißt ihr ganz genau. Was soll der Blödsinn. Nur, zwischen Rassismus und Antirassismus liegt ein ganzer Entwicklungsprozess. Hindernisse und Fallen bewußt zu überwinden ist entscheidend. Schlampig und oberflächlich damit umzugehen, erfüllt milde gesagt den Tatbestand der Groben Fahrlässigkeit.

Als entscheidenden Punkt betrachten wir die unterschiedlichen Positionen zu der Haltung gegenüber der deutschen Bevölkerung bzw. die Erklärungen für ihr rassistisches Verhalten.

Also. Zwischen denen, die Kinder von Flüchtlingen verbrennen und denen, die was dagegen unternehmen, liegen (sollten unbedingt liegen) Welten. Welten der Grausamkeiten und Welten von Utopien für eine menschliche und befreite Gesellschaft.

Zwischen dem Otto Normalvergaser - ob Proletariat (Schönau/Mannheim) oder Mittelstand (Qldstet/Hamburg) ist irrelevant - der mitmacht, logistische Unterstützung für unsere Killer leistet, menschenverachtende Parolen ruft, die exakte Dosierung von Mollis vornimmt und denen, die Ekel, Haß und Alp­träume allein bei solchen Gedanken kriegen, liegen (sollten unbedingt liegen) tiefe Gräben.

Es sind grundsätzliche, substanzielle Unterschiede, die mit dieser unzu­lässigen Verkürzung "Greift die Politiker, nicht die Flüchtlinge an" (Rostocker Demo) beiseite geschoben werden.

Es gibt fundamentale Unterschiede zwischen alltäglichen völkischen Bier— Zelt- und Karneval-Ekstasen und den langen Nächten von Diskussionen und Auseinandersetzungen, um das Ringen für ein anderes Leben, gegen die Bruta­lität und Barbarei, die sich ausbreitet.

Eine radikale und autonome Linke sollte ihre Stärke gerade in der "Schwä­che" der Gefühle und der Zärtlichkeit, der Achtung vor den Menschen, der selbstverständlichen solidarischen Handlung und Haltung zu denen, die unter verschiedensten Gewaltverhältnissen leiden bzw. um ihr Leben bangen usw., sehen.

Sie kann und darf niemals außer acht lassen, daß die Motivation für ihr Handeln, daß die Triebkraft für ihre Suche nach Erklärung von gesellschaft­lichen Zusammenhängen eine ganz andere ist als die der Täterinnen. Wer die "fehlende Erkenntnis der wahren Schuldigen" als Ursache für Rassis­mus unterstellt, läuft Gefahr, gerade das zu rationalisieren was die eigen­tliche Quelle für diejenige ist, die eine befreite Gesellschaft anstreben. Der Versuch also, den Rassismus zu erklären, muß viel früher ansetzen als auf der jetzigen sozialen Unzufriedenheit.

Die rassistische Sozialisation, die deformierten Gefühle, das Heranwachsen zwischen den Bildern des Opas mit der SS-Uniform und den Sprüchen des Vaters beim Abendbrot gegen "Zigeuner", "Juden" und "Polaken" kann und darf nicht durch das Erkennen der Verursacher verdeckt werden.

Das was sich vor den Flüchtlingsheimen zusammenrottet, Nacht für Nacht, das was das Leben der Flüchtlinge zur Hölle macht, das sind doch keine Zombies, die über Nacht - weil der versprochene Fideo oder die Tischtennisplatte im Jugendzentrum nicht angeliefert wurde - zu Bestien macht. Es ist auch nicht der "Volkszorn" gegen den "Übeltäter" Honecker wegen "Unerlaubter Besitz von 8 Cola-Dosen".

Hier wird von handelnden Subjekten geschichtliches Bewußtsein artikuliert: Die Gewissheit, daß es auf diese Weise schon mal geklappt hat. Und zwar mit Erfolg, der bis heute anhält. Diese Gewißheit wird genährt durch das Ver­halten der HERRschenden politischen Klasse, die als Belohnung Sofort­programme für den Aufbau-Ost ankündigt. Weil sie ja "Verständnis dafür hat". D.h. eine solche Entwicklung lädt gerade weitere Teile der Bevölkerung zu solchen Ausschreitungen ein, wenn sie ein soziales Problem haben.

Ja, eine erdrückende Mehrheit der deutschen Bevölkerung identifiziert sich mit den dunkelsten Seiten der Geschichte dieses Landes. Die linksradikale und autonome Promille (so wichtig sie für uns auch sind) spielen für die Bestimmung dieser Tendenzen kaum eine Rolle. Das übersehen der Hegemonie der "Volksgemeinschaft" ist nicht mehr möglich.

Wir bekamen Gänsehaut, als in Höchst bei der Bürgerversammlung die Sprüche der "Linkswende", gegen "die Politiker in Bonn und die Mächtigen" auf grin­sende Zustimmung bei dem Mob stießen. Bei den gleichen, die vorher im Saal ihre rassistische Stimmung freien Lauf ließen.

Eine solche verkürzte Sicht führt automatisch, bewußt oder unbewußt, zu Verdrehungen und "Beschönigungen" von Tatsachen. So mußten 300 besoffene und "betroffene" deutsche Väter, glattrasiert, mit Bomber-Jacken und Stiefeln angekleidet werden um zu sagen, daß Gruppen von Skinheads das Flüchtlingsheim in Schönau angegriffen haben.

So mußten aus den "Heimatvertriebenen", Flüchtlinge gemacht werden: "Die Mannheimer Innenstadt ist zerstört, Millionen von Flüchtlingen aus dem Osten sind unterwegs. Diese Menschen werden "schier grenzenlos in die Schönau hineingepumpt"(MM) "Mannheimer und Polen, Ungarn und Tschechen, Pommern und Schlesier, Ost-Preußen und Sachsen" (Schönau Rassismus-Anti-rassismus-Klassenkampf) .

Daß Hunderttausende von "Nichtarischen Menschen", von "unwertem Leben" von "bolschewistischen Untermenschen" weder nach Mannheim noch anderswo zurück­kehren konnten, weil sie aufgespürt, deportiert, umgebracht worden sind von Mannheimer deutscher Abstammung, von Polen deutscher Abstammung, von Ungarn deutscher Abstammung, von Tschechen, Pommern, Schlesier, Ost-Preußen und Sachsen deutscher Abstammung wird einfach weggelassen.

Noch schlimmer. Nicht mal der Rassismus darf beim Namen genannt werden: "In einigen Flugblättern wurde der Konflikt auf der Schönau als "Angriff des deutschen Mob's auf Ausländerinnen" beschrieben. Das ist falsch: es handelt sich um einen Konflikt innerhalb eines multinational zusammengesetzten Pro­letariats. Viele, die die Asylbewerberinnen angegriffen haben, waren selbst Flüchtlinge oder sind die Kinder von Flüchtlingen" (Schönau Rassismus-Anti-rassismus-Klassenkampf).

Eine solche Gleichsetzung der "Heimatvertriebenen" mit den Flüchtlingen in Schönau ist eine bewußte Geschichtsfälschung.

Aber damit nicht genug: "Aufgrund der sozialen Zusammensetzung des Stadt­teils und weil es nichts gibt, keine Discos, nur ein mickriges Jugend­zentrum und keine Kneipenkultur wie etwa in der Neckarstadt, spielt sich das gesellschaftliche Leben auf der Straße ab. Das ist eine der Bedingun­gen, wie es zwei Wochen lang zu relativ massenhaften Versammlungen vor dem Lager kommt: die Leute sind „sowieso auf der Straße" (Schönau Rassismus-Antirassismus-Klassenkampf).

Und genau das ist der Punkt. "Die Leute sind sowieso auf der Strasse". Von Teilen der Linke wird der Versuch unternommen, die Pogrome als was "nor­males", "gleichwertiges" wie Einkaufen oder Spazierengehen zu sehen. "Die Leute sind sowieso auf der Straße". Hauptsache die Klassentheorie des "Vulgär-Marxismus" stimmt. Es gibt tatsächlich eine Ebene wo es nur noch darum geht genauer zu gucken, nicht nur wer vor uns steht, sondern auch wer hinter unseren Rücken lauert. Wir müssen aufpassen.

Zu dem Volksbegriff. Uns wurde immer wieder angekreidet, Interessensgegensätze durch einen derart verallgemeinernden Begriff zu verschleiern und somit auch Möglichkeiten eines Widerstands gegen die HERRschenden Verhält­nisse zu verbauen.

Eigentlich hätten wir als "von außen kommende", als Ausländerinnen euch fragen müssen was dieser Begriff eigentlich meint. Ob der Undifferenziertheit bezüglich der sozialen Zugehörigkeit und der Partizipationsmöglichkei­ten scheint dieser Begriff nichts anderes als eine Leerformel zu sein.

Trotzdem ist er nicht nur Teil der Ideologie von nationalistischer Politi­kerinnen oder "der Kapitalisten", sondern in aller Deutscher Munde, und zwar ab Kindesbeinen (siehe Interviews mit Kids in Rostock), über den Mann/die Frau auf der Straße (die Ausländer nehmen uns die Wohnungen weg) bis zur Linken, die sich als "deutsche" definiert, was immer wieder zur sich selbst erfüllenden Vorhersage wird.

- Woher weiß ein sechsjähriges Kind was der Unterschied zwischen Deutschen und "Nicht-Deutschen" ist?

- Wieso definiert sich die Linke in der BRD explizit über die Staatsange­hörigkeit der Mehrzahl ihrer AnhängerInnen.

- Wieso ist sie so sehr auf das deutsche Volk fixiert, daß es ihr scheinbar leichter fällt tiefgreifende politische Differenzen zu anderen deutschen Gruppen zu überwinden und sich mit diesen an einem Tisch zu setzen, als daß sie es schafft, politische und persönliche Beziehungen zu hier leben­den und hier kämpfenden Migrantinnen aufzubauen?

- Warum wird in drei ganz unterschiedlichen (von den Positionen her) Papie­ren "Die Grenze verläuft ...", "Anti-Mob" und "Rebellion ist gerechtfer­tigt" die Teilnahme einiger ausländische Jugendlicher an den Pogromen in Schönau hervorgehoben, ohne den geringsten Versuch zu unternehmen dies zu erklären, während die Erklärungen zu dem Rassismus der deutschen Bevölke­rung inflationäre Züge annimmt?. (Der Redebeitrag bzw. die Erklärung dazu von Cafe Morgenland in Sandhofen wird einfach ignoriert).

- Warum wird in allen Papieren verheimlicht, daß die einzigen "Schönauer", die von Anfang an die Flüchtlingen unterstützt haben, eine MigrantInnen-Gruppe war, die ziemlich schnell dafür gesorgt hat, daß diese Jugendliche die Seiten gewechselt haben?

- Daß diese Jugendliche später zusammen mit anderen MigrantInnen, anti­rassistischen Demoteilnehmerinnen vor dem Mob geschützt haben? Entweder wird nur das gesagt, was die eigenen Positionen bestätigt, oder wird so ein Schnappschuss zur Relativierung der völkischen Initiative benutzt.

All das sind Sachen und Fragen, die für uns erst mal erklärt werden müssen1.

Bis auf Weiteres bleiben wir dabei, daß "Volk" oder "deutsch" Kampfbegriffe in diesem Land sind, die zur Legitimation des Ausschlusses, der Diskrimi­nierung und der Ermordung sogenannter Ausländerinnen benutzt werden. Sie sind im Jahr 1992 in der BRD nicht nur eine statistische Größe (51% der Deutschen stimmen dem Spruch "Deutschland den Deutschen" zu, 27% kreuzen bei der Aussage "Deutsche sind anderen Völkern überlegen" mit "stimmt völlig" (Spiegel Spezial, 2/92), andere mit Einschränkungen, 36% glauben sich gegen "die Ausländer" wehren zu müssen, usw.). Sie sind längst schon die Lebensform weiter Teile dieser Bevölkerung geworden. Diese Begriffe sind auf der Straße, auf der Arbeit, in persönlichen und politischen Beziehungen erfahrbar, und zwar je nach "Integrationsfähig­keit". Wir haben am allerwenigsten Interesse daran, daß es so bleibt.

Uns ereilte beim ersten Lesen der Beiträge der Verdacht, daß die Auseinan­dersetzung um "Rassismusvorwürfe" der Sexismusdiskussion zu einem uner­warteten, späten Höhepunkt verholfen hätte.

Plötzlich taucht das Anhängsel "Frau", oder Sexismus als Strukturkategorie allenthalben auf, während die weiße deutsche, überwiegend männliche Linke dem Sexismusvorwurf und den Versuchen von Frauen sich eigene Strukturen zu schaffen vorher mit der gleichen Empörung und der gleichen Arroganz begegnete, wie jetzt den Initiativen von Migrantinnen.

Wäre Eure Auseinandersetzung ehrlich, hätten wir sicher nichts dagegen ein­zuwenden. Auch wir betrachten die Analyse der Verquickungen und der teil­weise gegenseitigen Bedingtheit von Rassismus/Sexismus/kapitalistische Aus­beutung als eine sehr wichtige und grundsätzliche theoretische Erkenntnis die sich unbedingt in der politischen Praxis niederschlagen muß. Das ein­seitige Betonen oder das überbewerten einer dieser Unterdrückungsstrukturen (Hauptwiderspruch) führt zu einer Politik, die andere Ausbeutungsverhält­nisse festschreibt oder gar legitimiert.

Noch einmal zur Bedeutung der "tripple oppression": es gibt drei eigenstän­dige teilweise unabhängig voneinander funktionierende Gewaltverhältnisse. Nur die gleichzeitige Aufhebung aller drei Strukturen eröffnet die Möglich­keit der Befreiung. Das heißt aber umgekehrt auch, daß sich diese Mecha­nismen nicht untereinander relativieren. Genau diese Relativierung schwingt aber bei euch immer wieder mit. Genauso wenig wie das Erfahren der rassi­stischen Unterdrückung einen Schwarzen Mann dazu legitimiert, eine weiße Frau zu vergewaltigen, berechtigt das Erfahren kapitalistischer Ausbeutung "freie Arbeiterinnen" (im Sinne von Marx) nicht dazu, ihren Rassismus gegen andere auszuleben, übrigens auch nicht gegen "ausländische Yuppies/Bonzen" oder jüdische Bankiers usw.

Die Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutung also schafft mitnichten Rassismus oder Sexismus ab.

In diesem Zusammenhang erscheint es uns wichtig, auf eine Dimension des Rassismus aufmerksam zu machen, die, wenn es um die deutsche oder metropolitane Bevölkerung geht, nur allzu gerne unter den Tisch gekehrt wird. In diesem Zusammenhang erfährt der "Volks"-Begriff eine weitere Bedeutung. Rassismus dient in den Metropolen auch zur Begründung der Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung der Länder, aus denen Flüchtlinge/Migrant­innen kommen.

Dies wurde beispielsweise während des Golfkriegs sehr deutlich, als nicht nur die Dämonisierung Saddam Husseins benutzt wurde, um die imperialisti­sche Ordnung in dieser Region wiederherzustellen, sondern auch der, in der europäischen Kultur verankerte Rassismus gegen die arabische Menschen bemüht wurde.

Die jetzige "Volks"-Bewegung ist keine anti-staatliche Bewegung. Den Täterinnen geht es letztlich darum, ihre Privilegien gegen den Rest der Welt zu verteidigen. Wir dürfen das tatsächliche Machtverhältnis nicht übersehen, das weißen Metropolenbürgerinnen egal welcher sozialen Herkunft immer noch Privilegien gegenüber 3/4 der Weltbevölkerung zusichert. Zu diesem "Wohlstandsrassismus" mischt sich das, was wir mal geschrieben haben (Flugblatt zu den Zeilspaziergängen) die deutsche Ergänzung, der Gasgeruch.

Ihr schreibt, die Linke müßte beim "Nie wieder Deutschland"-Rufen auch die soziale Komponente thematisieren. Genau das hat die Linke in der BRD seit Jahrzehnten gemacht - teils mit einer, durch die Klassenzugehörigkeit be­dingten Ignoranz, aber immerhin. Und nie hat die Linke den Zulauf erfahren, den jetzt die Faschistinnen erleben.

Wenn linke Projekte zu einer Bewegung wurden (Friedensbewegung, Anti-AKW), so waren dies meist an der besonderen, nationalen Problemstellung orien­tierte Einpunktbewegungen, zumindest im Bewußtsein der Mehrheit der Anhängerinnen. Ansätze diese Problemstellungen über einen nationalen Kontext hinaus zu thematisieren, scheiterten, soweit es sie überhaupt gab.

Die Linke müßte vielmehr deutlich machen, daß es keinen Kampf um andere soziale Verhältnisse, keinen Kampf gegen sexuelle Ausbeutung gibt, der rassistische und imperialistische Ausbeutungsverhältnisse unbeachtet läßt.

Wir werden weiterhin unsere Kritik äußern an den Punkten, wo wir es für notwendig halten, und wir werden auch weiterhin dort, wo es noch möglich ist, nach gemeinsamen Lösungen suchen. Es liegt nicht in unserem Interesse uns als BesserwisserInnen und große RichterInnen (zumal wir uns selber in keinster Weise für was besseres halten) hinzustellen.

Wir verlangen aber, daß die Verhältnisse in der Szene, wie wir sie in unserem Dezember-Beitrag beschrieben haben, endlich mal erkannt werden, und überhaupt erst eine Ebene für eine gemeinsame solidarische Diskussion geschaffen wird.

In den SWING-Beiträgen können wir dafür nicht einmal Anzeichen erkennen. Genau das Gegenteil passiert. Diejenigen, die Kritik äußern, werden aus dem "Familienbund" ausgeschlossen, wenn sie es nicht immer waren (Migrantlnnen). Und das eigene Projekt wird in der alten, eigenen bornierten Weise fortge­führt.

Cafe Morgenland, 29. September 1992