""Ich bin NICHT Charlie" - Nachdenken zwischen den Stühlen der Kulturkämpfer

ID 68349
 
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In den nächsten 17 Minuten bitten wir Sie, einem Studiogespräch zu lauschen, dass zwei, die sich gut kennen und beide schon sehr lange mit Internationaler Politik beschäftigen, miteinander geführt haben, in dem sie versuchen, eher mal zwischen den Stühlen und jenseits des derzeitigen „Kampf-der-Kulturen-Mainstreams“ laut nach und vorzudenken. Übrigens blieben die Beiden, weil sie sich so lange kennen und schätzen, beim vertrauten Du.
Der eine ist unser Münchner Radio LoRa - Kollege Andrasch Neunert, der Andere der Schauspieler, Politologe und Mitarbeiter der palästinensisch-israelischen Dialoggruppe Salam-Schalom, Jürgen Jung. Er hatte jüngst Mails verschickt, provokant überschrieben mit dem Satz „Ich bin NICHT Charlie!“
Will er damit ein vordergründiges Konzept von Freiheit kritisieren, dass die Verantwortung für die Konsequenzen des eigenen Tuns – auch beim Gegenüber – nicht mitdenken will? Die kritisieren, die Freiheit nur als Wert an sich betrachten, ohne dabei zu fragen, Freiheit für wen?
Audio
16:59 min, 16 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 16.01.2015 / 17:59

Dateizugriffe: 1551

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, SeniorInnen, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Andrasch Neunert
Kontakt: andraschn(at)web.de
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 16.01.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Kein Skript vorhanden.

Kommentare
18.01.2015 / 18:04 Intl., coloRadio, Dresden
Wird gesendet auf coloradio am 19.01.15 zwischen 21 u. 22 Uhr.
Vielen Dank!
 
19.01.2015 / 08:53 RDL, Radio Dreyeckland, Freiburg
Im Mora gespielt
Vielen Dank! Allerdings: die Relativierung des Charlie-Attentats wurde aus unserer Redaktion nicht sehr goutiert!
 
19.01.2015 / 09:33 Andreas Reimann (RDL), Radio Dreyeckland, Freiburg
Widerlicher Beitrag - ich muss es so sagen
Die Fundamentalismus-Versteher unter sich. Ich bin schlichtweg sprachlos über diesen Beitrag. Wie kann so etwas in einem freien Radio produziert werden? Die Freiheit zur Blasphemie, zur Respektlosigkeit (ja!) gegenüber religiösen Gefühlen ist der Lakmustest unserer Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit! Wie ist es möglich, dass nun auch in einem freien Radio der Schutz religiöser Gefühle als höheres Gut wie die Meinungsfreiheit gilt? Die Karikaturen von Charlie Hebdo werden sogar mit dem Stürmer verglichen (immerhin greift da Herr Neunert noch ein und versucht zu relativieren), das ist - kaum eine Woche nach dem Attentat - hochgradig widerlich. Der friedensbewegte Herr Jung zitiert da eine jüdische Araberin aus den USA, die bei Günter Jauch (ich habe es nicht gesehen..) diesen Vergleich von Charlie mit dem Stürmer gezogen haben soll - übrigens in bestem Deutsch, wie von Jung gelobt wird. Typische Methode: Für den Nazivergleich, den man sich als Deutscher nicht traut, holt man sich die jüdische Kronzeugin. Mit dem Frieden, denn dieser Herr Jung bewegt, will ich nichts zu tun haben! Davor wird munter 'analysiert', dass am islamistischen Terror ja der Westen (und vor allem Israel. Gaza!) selbst schuld hat. Es ist völlig richtig, dass zahlreiche westliche Medien eine Doppelmoral verfolgen, wenn sie breit über den islamistischen Terror berichten, aber zu westlichen Kriegsverbrechen schweigen. Es ist völlig richtig, den Krieg Israels gegen den Gaza zu verurteilen (wobei über die tausenden Hamas-Raketen geflissentlich geschwiegen wird). Es ist so einfach und so billig. Die alte antiimperialistische Masche, wonach die 'Völker' der arabischen Länder aufgrund der jahrzehntelangen Unterdrückung und Verhöhnung (und jetzt auch noch Charlie Hebdo!) so enttäuscht sind, dass es ja schon fast wieder nachvollziehbar ist linke Karikaturisten abzuschlachten. Man muss sich ja 'einfühlen', nicht wahr. So einfach ist das Weltbild. Wie ausgereift die Analysen sind und wie tief sich hier eingefühlt wird zeigen Jung/Neunert im Hinblick auf den Iran, wo angeblich niemand Israel ausradieren will. Und ein Atombomben-Programm gibt es natürlich auch keines. Alles westliche Propaganda. Dass der letzte Präsident des Iran keine Gelegenheit und noch so große Bühne ausließ, die Vernichtung Israels anzukündigen, war das auch eine Erfindung des Westens (Pegida hätte jetzt Lügenpresse gesagt) - und mittlerweile hat der Iran ja einen neuen Präsidenten. Wie einfach die Welt doch ist, nicht wahr Herr Jung? Und Herr Neunert fühlt sich da gut ein.
 
19.01.2015 / 22:54 Jan Keetman, Radio Dreyeckland, Freiburg
Es schlackern Kopf und Ohren
Am Anfang des Beitrags wird die Veröffentlichung von Mohammed-Karikatur (von denen ich keineswegs begeistert war!) in einer dänischen Zeitung für 150 Tote verantwortlich gemacht. Und diejenigen, die diese Menschen konkret ermordet haben, sind die nicht eigentlich schuldig? Darf man Leute ermorden, nur weil in Dänemark eine Karikatur erscheint? Am Ende wird der Anschlag auf Charlie Hebdo (die ermordeten Juden kommen als quantité negligeable nicht vor) zwischen den Zeilen aber doch deutlich als Reaktion gerechtfertigt. Habt Ihr damit kein Problem?
 
24.01.2015 / 21:26 Jürgen Jung, LORA München
Peinlich-ahnungsloser Kommentar von Andreas Reimann
Manche Leute hören offensichtlich nur das, was sie hören wollen. Peinlicher Kommentar vor allem von Andreas Reimann, der sich nicht entblödet, unser Gespräch bei Lora als „widerlich“ zu bezeichnen und ansonsten demonstriert, dass er wenig verstanden hat und augenscheinlich ideologisch befangen ist in typisch westlicher, kulturkämpferisch angekränkelter Heuchelei, die nicht zur Kenntnis zu nehmen bereit ist, was wir, der „Westen“, v. a. die USA, beigetragen haben zur Genese des Terrorismus. Und da geht es schlicht um Fakten, über die hierzulande zumeist – auch von Andreas Reimann – großzügig hinweggesehen wird. Ausgangspunkt unseres Gesprächs war die Feststellung, dass das Attentat von Paris eine Orgie hysterischer Selbstgerechtigkeit ausgelöst hat – bar jeder Selbstkritik, als wenn wir nichts mit dem Terror zu tun hätten, allein seine Opfer wären. Und ich habe auf den Theologen Hans Küng verwiesen, der bereits 2006 anläßlich des ersten Karikaturenstreits den Westen aufforderte, seine „Doppelbödigkeit“ zu beenden und endlich zur „Besinnung“ zu kommen (http://www.dw.de/doppelb%C3%B6digkeit-der-westlichen-politik-muss-ein-ende-finden/a-1894702 ). Dieses vor 9 Jahren geführte Interview ist erschreckend aktuell. Und ich habe darauf hingewiesen, dass der mit weitem Abstand größte Blutzoll durch den Terrorismus von Muslimen entrichtet wird. Aber in unserer Medienwelt ist dies kaum eine Erwähnung, geschweige denn unser Mitgefühl wert - gemäß der rassistischen Devise des kolonialistisch-britischen Journalismus: „One Brit equals 10 Frogs equals 100 Wogs.“ Zu Deutsch: „Ein Brite ist so viel wert wie 10 (Frösche fressende) Franzosen und 100 Nicht-Europäer.“ Ich habe – als unerlässlich für jede am Frieden orientierte Politik – betont, dass wir uns in den anderen, den „Gegner“, den „Feind“ hineinzuversetzen uns bemühen müssen. Und für die arabisch-muslimische Welt sind wir mitnichten der Hort der Freiheit, als den wir uns gern selbst sehen, sondern eher – und das sind die Muslime seit den Tagen des Kolonialismus gewöhnt – als vorwiegend an geopolitischen Interessen orientierte Ausbeuter und Unterdrücker, die über Jahrzehnte hinweg selbst die brutalsten Diktatoren finanziert und aufgerüstet haben. (Siehe hierzu den altgedienten Nahostkorrespondenten von Spiegel und Süddeutscher Zeitung Heiko Flottau: https://www.journal21.ch/ein-neuanfang-ist-noetig-auf-allen-seiten ) Und ich habe als ein Beispiel den Irak herausgegriffen, der durch Sanktionen in den 90er Jahren (allein 500 000 Kinder sind in der Folge gestorben!) und durch einen verheerenden völkerrechtswidrigen Krieg der USA (England, Spanien etc. im Schlepptau), mit noch einmal Hunderttausenden von Toten, heute als ein zerstörter Staat gelten kann. Der sog. Krieg gegen den Terror hat insgesamt – ganz abgesehen von Perversionen wie „Abu Ghraib“ und „Guantanamo“ - bis heute Millionen Tote in der muslimischen Welt zur Folge gehabt. Siehe dazu http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Terrorismus/tote.html Angesichts der dadurch hervorgerufenen Not und des Elends habe ich gefragt, welch ein Abgrund an Verzweiflung und Groll, letztlich Haß auf „den Westen“ sich da aufgetan haben mag, und dass ohne diese verhängnisvolle Interventionspolitik die „Terrortruppe“ IS, der sog. „Islamische Staat“, gar nicht entstanden wäre, den wir jetzt hypokritisch beklagen und der übrigens vorwiegend mit von uns gelieferten Waffen kämpft. Ich habe einen französischen Muslim zitiert: „Ihr seid einen Tag Charlie Hebdo, wir sind jeden Tag Gaza“ – wo Israel letzten Sommer in ein paar Wochen mal eben 2200 Palästinenser umgebracht hat, und das mit unserem (Ein-)Verständnis: „Sie mussten sich ja verteidigen gegen den Raketen-Terror der Hamas.“ Daß der erst einsetzte, nachdem die israelische Armee sich drei Wochen lang im Westjordanland „ausgetobt“ (so die Süddeutsche Zeitung) hatte (Tausende von Wohnungen und Häusern wurden verwüstet, Hunderte von Hamasmitgliedern festgenommen, 9 getötet), bleibt in der kontextlosen „Berichterstattung“ unserer Medien weitgehend außen vor. Andreas Reimann weiß, wie es scheint, auch nichts davon. Übrigens hat Israel bis heute keinen Beweis für die Behauptung vorgelegt, dass die Hamas verantwortlich für die Ermordung der 3 (im Westjordanland illegal siedelnden!) Religionsschüler war – Auslöser bzw. Vorwand für die völkerrechtswidrige, weil völlig unverhältnismäßige Kollektivbestrafung der Palästinenser. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse und Erfahrungen müssen sich die an den Rand gedrängten, verachteten und diskriminierten Muslime in Frankreich (die - schon vor dem Anschlag - auf der Straße angepöbelt und angespuckt wurden) auch noch beleidigen und verhöhnen lassen durch ihren Propheten herabwürdigende Karikaturen. Erschwerend kommt hinzu, daß im sunnitischen Islam ein Bilderverbot gilt. In der sozialpsychologisch ohnehin aufgeheizten Situation grenzt eine solch tabubrechende, demütigende Herabwürdigung des Glaubens einer unterdrückten Minderheit an Sadismus. „Die Freiheit zur Blasphemie, zur Respektlosigkeit (ja!) gegenüber religiösen Gefühlen ist der Lakmustest unserer Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit“ – so tönt Andreas Reimann. Ach ja? Als wenn die Pressefreiheit nicht ihre Grenzen hätte, beispielweise in der Volksverhetzung, und vor allem in den Besitzverhältnissen: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“(Paul Sethe 1965) Übrigens wurde ein Mitarbeiter von Charlie Hebdo 2009 gefeuert, weil er eine antisemitische (!) Karikatur gezeichnet hatte. Die Investigativreporterin und Terrorismusexpertin arabischer Abstammung, Souad Mekhennet, die als freie Reporterin für die „Washington Post“ tätig ist, hat bei Günter Jauch (am 11. 1. 15) aus persönlicher Erfahrung berichtet – ach, hätten Sie doch genauer zugehört, Herr Reimann! –, dass eine ältere Jüdin in den USA sich durch die Charlie Hebdo-Karikaturen an die antisemitische Hetze des „Stürmer“ erinnert fühlte. Aber gegenüber Moslems ist offensichtlich alles erlaubt - Doppelmoral, wie mir scheint, widerliche Heuchelei! Herr Reimann macht sich hier gänzlich unkritisch – genau wie unsere Mainstream-Medien und Politiker – zum Sprachrohr eines allenfalls fundamentalistisch-dogmatischen Verständnisses von Pressefreiheit „über alles“ – auch über Leichen. Nach dem ersten Karikaturenstreit (2005/6) waren nämlich bei Unruhen in der muslimischen Welt bereits 150 Menschen zu Tode gekommen. Siehe dazu Hans Küng. Mit seiner dreisten Kolportage dessen, was wir im Gespräch über den Iran geäußert haben, beweist Herr Reimann noch einmal seine ahnungslose Unterwerfung unter den herrschenden Diskurs. Selbst der „letzte Präsident des Iran“, Ahmadinedschad, hat nämlich immer sehr genau darauf geachtet, eben nicht die „Vernichtung Israels“, sondern das Ende des „zionistischen Besatzungsregimes in Jerusalem“ vorherzusagen, was erstens Forderung des Völkerrechts ist, und zweitens sogar die CIA 2009 warnend in spätestens 20 Jahren für möglich hält – falls Israel seine Politik nicht ändere. (http://informationclearinghouse.info/article22208.htm). Der Unsinn, den Adreas Reimann zum Iran vorbringt, zeigt nur, dass er sich auch hier nicht sachkundig gemacht hat. Was die mögliche Atombombe Irans betrifft, habe ich mir erlaubt, darauf hinzuweisen, dass (abgesehen davon, dass selbst die amerikanischen Geheimdienste keinen Beweis dafür haben, dass Iran an der Atombombe baut http://www.focus.de/politik/ausland/iran/atomwaffen-im-iran-cia-hat-keine-beweise-fuer-atombomben-bau_aid_717697.html) - selbst wenn er sie dereinst also hätte, bedeutete die Unterstellung, er würde sie dann sofort auf Israel abschießen, dass die iranische Führung den kollektiven Selbstmord plant, denn das Land wäre – angesichts der Umzingelung durch amerikanische Militärstützpunkte und der israelischen Zweitschlagskapazität – innerhalb kürzester Zeit dem Erdboden gleichgemacht. Übrigens hat Erhard Eppler schon am 14. 04. 2007 (in der SZ) genau auf diesen schlichten Gedankengang aufmerksam gemacht, der aber dem ideologisch verblendeten Andreas Reimann verschlossen scheint. Angesichts der globalisierten, immer näher zusammenrückenden Welt ist die arrogante Selbstverständlichkeit, mit der wir von anderen Kulturen erwarten, dass sie sich unseren Wertvorstellungen und Traditionen zu unterwerfen haben, einfach nur anmaßend und peinlich und trägt dazu bei, den Kampf der Kulturen - im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung - Realität werden zu lassen. Daß unter den hier nur angedeuteten Umständen der ein oder andere jugendliche Moslem, womöglich noch durch dubiose Prediger angestachelt, sich radikalisiert und zur mörderischen Tat schreitet, ist nicht verwunderlich, was selbstverständlich keine Relativierung des Anschlags bedeutet. Verstehen heißt nicht rechtfertigen, gar entschuldigen. Bleibt am Schluß die Frage, wie es sein kann, dass ein „freies“ Radio jemanden wie Andreas Reimann mit der Pressearbeit betraut, der über so wenig Problembewusstsein verfügt, so wenig Distanz zum gängigen ideologiegetränkten Diskurs erkennen lässt, den zu hinterfragen, zu problematisieren, zu dekonstruieren die ureigene Aufgabe alternativer Medienarbeit ist.
 
25.01.2015 / 21:37 Andreas Reimann (RDL), Radio Dreyeckland, Freiburg
Es lebe der gesunde Menschenverstand der Jihadismus-Versteher
Ich will nicht leugnen, dass mein Kommentar unter dem direkten Eindruck entstand, als ich den Beitrag live bei uns im Morgenradio gehört habe. Insofern entschuldige ich mich für die eine oder andere ungelenke Polemik. Ich halte den Vergleich der Charlie Hebdo-Karikaturen mit denen des Stürmers aber weiterhin für widerwärtig, erst recht wenn dieser unsägliche Vergleich nicht von einem Deutschen selbst kommt, sondern zu diesem Zweck von ihm eine Jüdin zitiert wird. (Dabei ist mir an dem Punkt egal, über welche Kanäle das Zitat letztlich kam...) Es wäre mindestens Herr Neunerts Aufgabe als Moderator gewesen, diesen Vergleich zurück zuweisen - was er nicht getan hat. Er hat ihn nicht einmal relativiert, wie ich in meiner Erregung nach dem ersten Hören noch vermutet (gehofft) hatte. Ein solcher Vergleich ist alles andere als ein akzeptabler Diskussionsbeitrag. Ich vermute und hoffe, dass Sie diesen Vergleich selbst gar nicht unterschreiben würden, sondern damit nur veranschaulichen wollten, dass Charlie Hebdo (und der ganze westliche 'Ich bin Charlie'-Welt) zu weit gegangen sei; was eben die entsetzte Reaktion der Jüdin belege. Dies ist aber auch das Problem des ganzen Beitrags, dass Sie sich unentwegt anmaßen für andere zu sprechen in die Sie sich (im Gegensatz zu so arroganten, ideologisch Verblendeten wie mir) 'hinein versetzen'. Dazu weiter unten noch mehr. Ein Wort noch einmal zur Pressefreiheit. Ich stehe weiterhin dazu, dass die Freiheit von Presse und Kunst auch eine Freiheit zur Verletzung sogenannter religiöser Gefühle einschließt. Gefühle gibt es viele, nicht nur religiöse Gefühle. Was soll denn noch alles vor Satire geschützt werden? Ja, Pressefreiheit hat seine Grenzen, z.B. Volksverhetzung. Und die Neuauflage einer antisemitischen Stürmer-Karikatur in einer Neonazi-Postille wäre ein solcher Fall. Der Stürmer karikierte Juden, um sie als vernichtenswert zu verunglimpfen. Ja, die Mohammed-Karikaturen sind respektlos, aber sie verunglimpfen die Muslime nicht in der gleichen Weise wie die Juden. Sie können mir Doppelmoral und Heuchelei unterstellen, aber ich halte sie nicht für volksverhetzend! Und Charlie Hebdo ist auch kein antimuslimisches Kampfblatt, auch Juden und Christen haben da ihr Fett weg gekriegt. Ich will die Freiheit haben, jeden Propheten jeder Religion lächerlich machen zu können!! Und es ist keine Doppelmoral, wenn ich diese Pressefreiheit verteidige und den unsäglichen Stürmer-Vergleich als völlig daneben kritisiere. Und wenn in den Banlieus (oder wo auch immmer) Jugendliche mit dem Pariser Killerkommando sympathisieren, dann es doch nicht die Folge sein, diese Freiheit zu diskreditieren! So lösen wir nicht das Problem der Radikalisierung. Nebenbei: Charlie Hebdo hat die Freiheit dazu Redakteure zu feuern, die sie für antisemitisch hält. Auch wir bei RDL nehmen uns nötigenfalls diese Freiheit. Das ist keine Verletzung der Pressefreiheit, wie kommen Sie denn darauf? Und ideologisch verblendet sind SIE, wenn Sie ihr Paul Sethe-Zitat - „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ - auf Charlie Hebdo münzen. Die Mehrheit der Muslime hier hat sich im übrigen für diese Freiheit ausgesprochen. Dass es auch schlechte Karikaturen gibt (wie die dänischen), dass der Bogen auch mal überspannt wird, dass die zigste Mohammed-Karikatur irgendwann auch nicht mehr sein müsste - gebongt! Aber die Freiheit dazu ist unantastbar. Selbst die zigste Mohammed Karikatur darf prinzipiell sein. Und mit Verlaub Herr Jung, SIE diskreditieren sich, wenn sie die Pressefreiheit dafür verantwortlich machen, dass Fanatiker aus Rache für Karikaturen Morde begehen. Meinen Sie das wirklich ernst: die Pressefreiheit geht 'über Leichen'? Hat hier ein Karikaturist zur Mordwaffe gegriffen und 150 Leute umgebracht??? Sie schreiben 'Verstehen bedeute nicht entschuldigen' - wenn sie der Pressefreiheit den Tod der 150 Opfer nach dem ersten Karikaturenstreit anlasten, dann kommt das einer 'Entschuldigung' der wirklichen Täter doch sehr nahe. Sie scheinen von ihrer Idee des 'Sich Hineinversetzens' in diese Mörder und ihrer Sympathisanten derart besessen zu sein, dass Ihnen der Irrwirtz ihrer Formulierung nicht mehr auffällt: ('allenfalls fundamentalistisch-dogmatischen Verständnisses von Pressefreiheit „über alles“ – auch über Leichen') Sich in jemanden hinein zu versetzen ist eben auch eine arrogante, überhebliche Geste. Das daraus erwachsende 'Verständnis' des Anderen ist eine Konstruktion, man versteht das, was man verstehen will. Ohne hier jetzt allzu erkenntnistheoretisch zu werden, mir ist auch klar, dass Sozialwissenschaften, Geschichtswissenschaft etc. letztlich mit Konstruktionen operieren und auch nicht die 'Wahrheit' herausfinden, etwa über die Radikalisierung vieler Moslems - aber ihr 'Hineinversetzen' scheint mir da doch gefährlich subjektiv. Fällt Ihnen nicht auf, dass dieses gefühlige 'Verstehen' (noch dazu von Leuten, die auf Terror statt auf Dialog setzen) auch etwas selbstgerechtes hat? Wo ist denn bei diesem Konzept die Selbstkritik? 'Man muss sich doch auch mal in diese Leute hinein versetzen!' So reden Leute, die glauben, sie hätten den gesunden Menschenverstand für sich gepachtet. Tut mir leid, ich kann mich weder in die Hamas hinein versetzen, noch in das jihaddistische Killerkommando von Paris. Nicht in den IS und nicht in Boka Haram. Und ich kann mich auch nicht in katholische Abtreibungsgegner hinein versetzen und nicht in die Spinner von Pegida. Vermutlich ist dieser Mangel an Einfühlungsvermögen der Grund, warum ich aus ihrer Sicht ideologisch verblendet bin. Ich habe durchaus ein Interesse zu verstehen, ich glaube aber so wenig an das 'Hinein versetzen', wie ich dem sogenannten gesunden Menschenverstand misstraue. Wenn Sie die westliche Politik und die Doppelmoral vieler Medien und Politiker kritisieren wollen (und das dürfen Sie ja zu Recht - nebenbei: Auch ich habe den Krieg Israels gegen Gaza abgelehnt, lesen Sie meinen Kommentar!) dann müssen Sie sich doch nicht in fundamentalistische Terroristen hinein versetzen. Merken Sie denn nicht, dass Sie für den Hass der Mitläufer und Jihad-Fans Verständnis heischen? Noch einmal: Nicht die Pressefreiheit hat die 150 Mordopfer verschuldet, die beim ersten Karikaturenstreit ermordet wurden! Ich kann mir sehr wohl vorstellen, warum Leute sich radikalisieren. Ich kann mir auch vorstellen, warum sich muslimische Jugendliche in Frankreich, die angepöbelt und bespuckt werden, mit den Killern sympathisieren. Aber bei der politischen Entscheidung, solidarisch mit Charlie Hebdo zu sein oder nicht, weiß ich wo ich als Mitarbeiter eines freien, linken, dem Statut nach antiklerikalen Medium stehe. Wo stehen Sie da, Herr Jung? Ich sehe die offenen Sympathiebekundungen, wie sie etwa aus den Schulen Frankreichs berichtet wurden, mit großer Sorge. Und sicherlich wird jede weitere Mohammed-Karikatur es noch verschlimmern. Aber es ist nicht Aufgabe eines Satiremagazins die sozialen Probleme einer Gesellschaft zu lösen. Und ich muss mich in radikalisierte Jihhadfans nicht subjektiv 'hinein versetzen', um die Gesellschaft zu kritisieren, unter deren Bedingungen eine solche Radikalisierung befördert wird (Übrigens: Charlie Hebdo und die Pressefreiheit haben daran am wenigsten Schuld.) Und der Radikalisierung kommt man damit auch nicht bei. Sie mögen in Ihrer Kritik an der Doppelmoral von Politik und Medien durchaus recht haben, aber nehmen Sie IHRE ideologischen Scheuklappen weg (Ausgebeutete dort - Unterdrücker hier). Das taugt weder zu einer Kritik am Jihaddismus, noch an der westlichen Politik. Höchstens zu ihrer (und Herrn Neunerts) hitzköpfigen und selbstgerechten Predigt gegen die Doppelmoral.
 
30.01.2015 / 12:47 Andrasch Neunert, LORA München
Nochmal zur Kritik von Hr. Reimann einige fällige Anmerkungen
Liebe Kollegen, lieber Herr Reimann, ich mache es kurz. Meine Haltung in dieser Sache hat auch das Ziel, eine Diskussion anzustoßen, die mir in der undifferenzierten Mainstream-"Wir sind alle Charlie"-Reaktion völlig fehlte: Die Diskussion über das Spannungsfeld zwischen der Freiheit der Meinung, die für mich eben kein ABSOLUTER Wert an sich ist, und der Verantwortung - auch für die religiösen Gefühle von Gläubigen, die zu negieren eine reichlich selbstzufriedene, arrogante Haltung darstellt, die ich ablehne. Andererseits finde ich bei Ihrer Replik manches, was auch mich nachdenklich macht - nur: Der grundsätzliche Dissens, s.o., zwischen uns bleibt. Wer freilich derart oberflächlich wie Sie die Hamas mit IS und Boko Haram in einem Atemzug nennt, der hat vom Nahen Osten auch nicht wirklich viel begriffen. Einen Schuh freilich ziehe ich mir an: Den Vergleich mit dem Stürmer hätte ich entschieden zurückweisen müssen. Gilt freilich nur für Charlie Hebdo, NICHT aber für die seinerzeitigen Mohammed-Karikaturen einer rechten dänischen Zeitung, deren eigentliches Ziel die Beleidigung und Provokation einer Religion und ihrer Gläubigen war. Nochmal: Für mich gibt es einen Unterschied zwischen der völlig legitimen Karikatir von Papst, Imam und Co. und der Karikatur zentraler religiöser Symbolfiguren, wie Christus, Buddha und Mohammed. Dass letztere die Gefühle Gläubiger verletzt, ist einfach mal ein Fakt, vergiftet das Verhältnis zwischen Religionen und Nicht-Religiösen und ist letztlich Ausdruck, s.o., neokolonialer arroganter Überheblichkeit und einem Mangel an Verantwortung. Da muss man sich über die weltweiten entsprechenden Demos nicht wundern, AUCH WENN diese natürlich instrumentalisiert und bewusst herbeigepredigt werden. DAS kann man ja dann durchaus durch Karikaturem blindwütig geifernder Islamistenimame - Ayatollahs wie umgekehrt übrigens auch dogmatisch-durchgeknallter Bayatollahs im Vatikan kontern. Diese Anwendung von Meinungsfreiheit richtet sich nämlich gegen die fehlbaren Vertreter welcher Religion auch immer in der Realität HEUTE. Und wer Stoff in Sachen Hamas sucht, der möge sich die Verherrlichung von Attentätern im dortigen TV ansehen und entsprechend bewerten, wie ich es schon wiederholt gemacht habe - trotzdem muss er mit der Hamas REDEN, die sind nämlich mehrheitlich gewählte Volksvertreter. Auch, wenn das Ergebnis jener Wahlen uns nicht gefiel. Wären durch und durch korrupte El Fatah - Vertreter, deren Käuflichkeit und Unfähigkeit die Hamas erst groß werden ließ, denn wirklich so viel bessere Gesprächspartner? Nur mal so am Rande. Beste Grüße nach Freiburg, Andrasch
 
01.02.2015 / 22:23 Jürgen Jung, LORA München
Replik auf Andreas Reimanns Beitrag (vom 25. 1.)
Leider liest Andreas Reimann so ungenau wie er zuhört. Zwar entschuldigt er sich – was ich ausdrücklich respektiere! - „für die eine oder andere ungelenke Polemik“, leider nimmt er diese Entschuldigung aber gleich wieder zurück, indem er darauf beharrt, daß vor allem „der Vergleich der Charlie Hebdo-Karikaturen mit denen des Stürmers ... widerwärtig“ sei. Was, bitte, ist denn das Widerwärtige an diesem Vergleich? Das sagt er leider nicht. Noch schlimmer sei aber, daß ich eine Jüdin zitiert habe, der sich dieser Vergleich aufgedrängt hat. Und was genau ist daran jetzt noch schlimmer? Auch das wird einfach nur – wohl deutschbefindlich - behauptet. Vermutlich meint er, daß solche Vergleiche die Untaten der Nazis relativieren könnten, womit er Recht hätte. Aber (!) das kann doch nicht für die entsetzte Äußerung einer Jüdin gelten, die gerade als Jüdin in dem Zusammenhang sehr genau weiß, was sie sagt. Und das soll man nicht zitieren dürfen? Ganz im Gegenteil, darauf hinzuweisen ist dringend erforderlich, um deutlich zu machen, daß Charlie Hebdo auf ein gefährliches Gleis geraten war mit der Verhöhnung des Glaubens der diskriminierten muslimischen Minderheit in Frankreich. Sich lustig machen über eine unterdrückte, verachtete Minderheit, sie in bösartiger Weise karikieren – genau das finde nun wiederum ich ausgesprochen widerlich. So haben sich übrigens die meisten Satiriker und Karikaturisten – außer etwa beim „Stürmer“ - auch kaum je begriffen. Deren Objekte waren zumeist die Herrschenden oder die satten und selbstzufriedenen Bürger, aber doch nicht die Armen, die an den Rand der Gesellschaft Gedrängten. Damit werden – im gegenwärtigen Zusammenhang - genau die Vorurteile gegenüber „dem Islam“ verstärkt, die in unserer Gesellschaft ihr kulturkämpferisches Unwesen treiben. Das Charlie Hebdo auch immer wieder das Christentum und dessen Symbole aufs Korn genommen hat, steht auf einem ganz anderen Blatt, weil es sich hier um die Religion der Mehrheitsgesellschaft handelt, die in einer ganz anderen Kultur und Tradition steht, in der es z. B. kein Bilderverbot gibt. Religion spielt in unserer säkularen Gesellschaft eine ganz andere Rolle als in der muslimischen, die auch nicht unsere Trennung von Religion und Politik kennt. Wir haben nun einmal in unseren Gesellschaften muslimische Minderheiten, auf deren Gefühlen und Glauben man nicht mit dem forschen Argument, sie hätten sich halt anzupassen, rücksichtslos herumtrampeln sollte. Und das sage ich als Atheist. Das Interview mit dem klugen Hans Küng (vom Februar 2006 !) hat Herr Reimann offensichtlich immer noch nicht zur Kenntnis, geschweige denn ernst genommen. Heuchlerisch wird die Sache dann allerdings, wenn man es andererseits für gerechtfertigt hält, daß ein Zeichner von Charlie Hebdo wegen einer „antisemitischen“ Karikatur (so 2009 geschehen) entlassen wird! Ich habe auch keineswegs „die Pressefreiheit“, die ich natürlich für ein kostbares Gut halte, dafür verantwortlich gemacht, daß nach den dänischen Karikaturen (2005) bei Unruhen in der muslimischen Welt 150 Tote zu beklagen waren, sondern einen - angesichts unserer globalisierten, zusammengerückten Welt - unverantwortlichen Umgang mit ihr. Das ist ein wesentlicher Unterschied, denn nach diesen Ereignissen kann man ja nicht so tun, als wenn es sie nicht gegeben hätte. Wer das tut – und möglicherweise auch noch, um die Auflage zu steigern - geht tatsächlich „über Leichen“. Und das Zitat von Paul Sethe („„Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“) habe ich auch nicht plump auf Charlie Hebdo gemünzt, sonder nur allgemein gegen die naive Vorstellung einer „schrankenlosen Pressefreiheit“ angeführt. Eine der zentralen Botschaften der Friedensbewegung - sich in „den anderen“ hineinzuversetzen - als „arrogante, überhebliche Geste“ abzutun, gar als „gefährlich subjektiv“, (!?), zeigt mir, daß Herr Reimann über ein sehr eingeschränktes Verständnis von sozialwissenschaftlichem Vorgehen verfügt, denn jeder Kriminalist, Psychologe, Soziologe, Jurist....bemüht sich u. a. genau darum, um die Wurzeln, die Motivation menschlichen Verhaltens zu verstehen. Und inwiefern ein derartiges Vorgehen als „gefühliges Verstehen“ mißverstanden werden kann, das auch noch „selbstgerecht“ sein soll, entzieht sich mir vollständig. Aber ans Absurde grenzt es, wenn Herr Reimann fragt, wo denn „bei diesem Konzept die Selbstkritik bleibt“, denn das war ja genau der Kern meiner „Botschaft“, nämlich, daß Selbstkritik die Basis jeglichen an (sozialen) Problemlösungen orientierten Denkens ist. Und ich hatte des weiteren – selbstkritisch (!) - auf die Fakten verwiesen, nämlich auf die Tatsache, daß „wir“, der Westen, v. a. die nach Weltherrschaft strebenden USA (die nicht zufällig auf etwa 1000 Militärstützpunkte weltweit zurückgreifen können), in den letzten zwei Jahrzehnten die muslimische Welt mit (zumeist völkerrechtswidrigen) Kriegen überzogen haben, die ungefähr 1,5 Millionen Tote zur Folge hatten. Dieses vorwiegend an geopolitischen Interessen, an Ressourcensicherung (Öl, Gas....) orientierte Vorgehen, das damit einhergehende Elend (zerstörte Staaten usw.) ist der entscheidende Entstehungsgrund für den islamistischen Terror, den man dann auch noch heuchlerisch zu beklagen sich erlaubt. Höchst verblüfft war ich allerdings, als Herr Reimann mich zu guter Letzt auffordert, MEINE „ideologischen Scheuklappen wegzunehmen (Ausgebeutete dort - Unterdrücker hier)“, sich gleichzeitig aber als Mitarbeiter eines „linken“ Mediums vorstellt. Ja, wie denn nun? Ist der Kampf gegen Ungerechtigkeit, gegen Ausbeutung und Unterdrückung, gegen den in der Folge des Kolonialismus die Welt nach wie vor beherrschenden Kapitalismus (heute im Gewande des Neo-Liberalismus) etwa nicht der Kern eines „linken“ Weltverständnisses? Vielleicht sollte Andreas Reimann mal den Versuch unternehmen, in sich zu gehen, sich sebstkritisch (!) zu hinterfragen, um herauszufinden, warum er auf so genuin gesellschaftskritische, linke Positionen, wie wir sie in unserem (Lora-)Gespräch bezogen haben, so allergisch reagiert. Das scheint mir alles noch nicht so richtig durchdacht. Daher womöglich auch seine Übernahme so manch „bürgerlichen“ Ideologems, die ihn – vermutlich ungewollt – einreiht in den konventionellen Diskurs, wie er sich anläßlich der schrecklichen Ereignisse in Paris in seiner ganzen penetranten Selbstgefälligkeit zu inszenieren wußte.