"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Schluss mit dem guten Leben -

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Vergangene Woche las ich in der Zürcher Wochenzeitung einen Artikel des aktuellen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis mit dem Titel «Rettet den Kapitalismus!» Darin outete sich der Kollege mit einer klassischen bürgerlichen Ökonomen-Vergangenheit als Genosse, als Kryptomarxist, wenn auch als hetero­do­xer, aber immerhin zeigen seine Anmerkungen zu den Schwachstellen der Marxschen Wirt­schafts­theorie und der Ideologie der Marx-Nachfahren, dass er sich intensiv mit den Schriften von Karl Marx auseinander gesetzt hat zum einen, dass er dies in der Vergangenheit erfolgreich ver­heim­licht hat, und zwar, weil die Beschäftigung mit Marx in den Kreisen der Mainstream-Oeko­no­men aus verschiedenen Gründen ein absolutes No-Go gewesen sei.
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10:35 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.03.2015 / 09:50

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 03.03.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nun also neben dem Outing die Botschaft, man müsse den Kapitalismus retten. In erster Linie spricht er dabei von der Europäischen Union und von der gemeinsamen Euro-Währung, und das tönt etwas eigenartig aus dem Mund jener Person, die unmittelbar nach dem Syriza-Wahlsieg in Griechenland als eingeschworener Feind der europäischen Institutionen ausgebuht wurde, was ihm anderseits auch wieder viel Sympathien und einen gewissen Sex Appeal eintrug. Und jetzt das!

Varoufakis schreibt: «Ein griechischer oder portugiesischer oder italienischer Ausstieg aus der Eurozone würde bald zu einer Fragmentierung des europäischen Kapitalismus führen mit einer in einer starken Rezession steckenden Überflussregion östlich des Rheins und nördlich der Alpen, während der Rest von Europa sich im Griff einer unerträglichen Stagflation befände. Wer würde wohl von dieser Entwicklung profitieren? Eine progressive Linke, die wie ein Phönix aus der Asche der europäischen öffentlichen Institutionen steigt? Oder die Nazis der Goldenen Morgenröte, die verschiedenen NeofaschistInnen, die Xenophoben und die Kleinkriminellen? Ich zweifle keinen Augenblick daran, welches von den beiden Lagern am meisten vom Zerfall der Eurozone profitieren würde. Deshalb bin ich nicht bereit, dieser postmodernen Version der dreißiger Jahre neuen Schub zu verleihen. Falls das heißt, dass wir, die angemessen unorthodoxen MarixstInnen, den europäischen Kapitalismus vor sich selbst retten müssen, dann ist es halt so. Nicht aus Liebe für den europäischen Kapitalismus, für die Eurozone, für Brüssel oder die Europäische Zentralbank, sondern weil wir die menschlichen Opfer dieser Krise möglichst gering halten wollen.»

So weit, so gut. Aber die Diagnose, dass es zum einen keine europäische Linke mehr gebe und zum anderen die einzige Alternative zur Europäischen Union ein Sammelsurium nationaler und nationalistischer Rechtsextremismen wäre, halte ich für hahnebüchern. Was die Linke angeht, so ist wohl die Diagnose korrekter, dass sie sich erschöpft hat, indem ihre Ziele zwar nicht in einer radi­kalen, aber doch in einer sozialdemokra­tischen Form weitgehend realisiert sind und in der politi­schen Praxis, durchaus im Gegensatz zu den politischen Programmen, in weiten Teilen Europas den unbestrittenen Alltag bilden. Im Sozialstaat und um den Sozialstaat gibt es gewaltige Kämpfe um Macht und Einfluss, aber das Prinzip des Sozialstaats selber steht außer Frage. Das gilt selbst­ver­ständlich nicht für Griechenland, das man nur aus dem Grund nicht als gescheiterten Staat bezeich­nen sollte, weil es vermutlich noch gar nie ein richtiger Staat war. Ich erinnere an eine zentrale Verpflichtung der Regierung Tsipras gegenüber der Troika: Es soll ein, hört, hört!, Grund­buch­register eingerichtet werden! – Griechenland kriegt im Jahr 2020 zum ersten Mal in seiner Geschichte ein Grundbuch!

Nein, das kann man wirklich nicht vergleichen. Dagegen hat die Angst vor aufkommendem Natio­na­lismus und Rechtsextremismus im gleichen Ausmaß zugenommen wie der Nationalismus und Rechtsextremismus selber – oder vielleicht auch nicht, das heißt, vermutlich ist die Angst größer als der Rechtsextremismus und der Nationalismus selber. Der Grund dafür könnte durchaus darin liegen, dass es angesichts der voll sozialdemokratisierten Realitäten im Moment keine akzeptablen alternativen Geistesströmungen in der europäischen Debatte gibt. Die Rechten und die Liberalen haben in dieser Sparte sowieso noch nie besonders exzelliert, während die Linke mehr oder weniger erschöpft ist. Die einzige tangible Alternative, mindestens für Junge und Wirrköpfe, scheint gegenwärtig der Islam zu sein, aber hier wollen wir mal nicht von einer Denkströmung reden und noch nicht mal von einer Denkstörung.

Das aber scheint mir ein viel interessanteres Thema zu sein als die Verneigung vor einem Kapitalismus, welcher der von Marx beschriebenen Dynamik längstens entwachsen ist, auch wenn Varoufakis hier durchaus kluge Anmerkungen formuliert. Gerade vor der seltsamen Bewunderung gewisser Jugendlicher für ein moralisches System, von dem sie ebenso wenig eine Ahnung haben wie der Islamische Staat selber, tritt das Defizit offen zutage, das die sozialdemokratischen Gesellschaften hier haben.

Tatsächlich galt das utopische Denken in den letzten Jahrzehnten immer als Privileg der Linken, die aber zum Teil an die Macht gekommen ist und zum anderen Teil sich mit der Macht arrangiert hat. Bloß die Stereotypen sind dieselben geblieben. Immer noch werden am 1. Mai die gleichen Parolen geschmettert wie anno 1890. Aber heute müsste utopisches Denken endlich mal anerkennen, nicht nur, dass wir in einem völlig neuen System leben, das eben nicht mehr nach den gleichen Regeln funktioniert wie jenes vor 50 Jahren, sondern in erster Linie, dass sich die Menschen vollkommen verändert haben, als Individuen wie auch in ihrem sozialen Mikrogefüge. Nach wie vor bestimmt die Fixierung auf die Armutsbekämpfung den linken Diskurs, manchmal etwas aufgepeppt mit dem lahmen Diskurs über «gutes Leben». Immerhin ist hier schon mal unterstellt, dass die Grundsicherung vorhanden ist, jetzt muss sie nur noch gut sein. Aber heute geht es im Kern um andere Dinge. Es ist absolut uninteressant, nach der Playstation 4 jetzt ultimativ die Playstation 5 zu fordern. Auf diese Art sind die Bedürfnisse der Menschen jetzt tatsächlich abgedeckt. Jetzt geht es um die Frage, was die Bedürfnisse der Menschen jenseits von Playstation 5, jenseits von iPhone Nummer 7 und durchaus auch jenseits von zwei Wochen Urlaub in Thailand und 3 Wochen Ferien auf Teneriffa, durchzogen von einem Weihnachts-Shopping-Trip nach New York und einem Oster-Abstecher auf die Osterinseln sind. Das ist nämlich schon ein durchaus gutes Leben, das die große Mehrheit bei uns führt. Aber das reicht nun mal nicht aus. Der Mensch der Zukunft ist mit dem Mensch der Gegenwart durchaus noch nicht umrissen.

Ich kann jetzt nicht ganz präzise angeben, wo das utopische Denken heute ansetzen müsste; in erster Linie geht es vermutlich darum, dass die Fähigkeiten der Individuen in allen Beziehungen, also auch in den Beziehungen beziehungsweise im zwischenmenschlichen Bereich auf neue Grundlagen gestellt werden müssen, um sich in Quantität und in der Qualität viel breiter zu entfalten, als das heutige System des Zeittotschlagens dies erlaubt. Vermutlich gibt es nicht nur gedanklich, sondern auch in der Praxis schon ein paar ganz hübsche Ansätze in diese Richtung. Bloß wird all dies nicht zum gesellschaftlichen Diskurs oder zur politischen Forderung, solange man sich in erster Linie gegen Popanze wehrt wie die vermeintlich rechtsextreme Allianz für Deutschland, die zwar ihren rechtsnationalen Anteil durchaus enthalten mag, die aber durchaus nicht zu vergleichen ist mit dem, was ich eine militante neofaschistische Bewegung nennen würde. Eine solche hat in den modernen Gesellschaften schlicht und einfach keine Chance, und deshalb braucht es auch keinen Diskurs, der vor solchen Gefahren warnt.

Wenn Varoufakis von Europa spricht, meint er in der Regel schon zuerst Griechenland, und damit verfehlt er eben Europa selber. Irgendwie kommt mir sogar sein Outing als Marxist in die falsche Kehle. Betreibt da nicht vielleicht einer Public Relations in eigener Sache? Zu meiner nicht geringen Verblüffung lese ich in seinem Artikel, dass Varoufakis im Jahr 2000 so etwas wie ein Berater des Pasok-Außenministers Giorgios Papandreou war und diese Position doch immerhin 6 Jahre lang beibehielt; er war also sozusagen Augenzeuge der immensen Geldverschleuderung anhand der Olympiade 2004 in Athen, er war dabei, als die Griechen von Deutschland wunderbare U-Boote kauften, er saß im Regierungsgebäude, als sich Griechenland sinnlos mit Konsumkrediten verschuldete, er hat Korruption und staatliche Ineffizienz 6 Jahre lang ohne allzu große Schmerzen ausgehalten, nach seiner Version, ich zitiere: «weil ich hoffte, verhindern zu helfen, dass die widererstarkte Rechte an die Macht zurückkehrte, die in Griechenland sowohl innen- wie außenpolitisch eine fremdenfeindliche Politik durchsetzen wollte.» Und dann geht es weiter:«Wie jedermann weiß, scheiterte Papandreous Partei nicht nur dabei, die Xenophobie zu stoppen. Sie führte auch eine strikte neoliberale Politik durch, die die so genannten Bailouts in der Eurozone einläutete, was, unbeabsichtigt, dazu führte, dass Nazis auf die Straßen von Athen zurückkehrten.» Das ist ja mal interessant – diese ganze Geldverschleuderei, Korruption und Ineffizienz, das war eine strikt neoliberale Politik? Da hat einer aber entweder eine sehr dicke und konkav geschliffene Brille, oder aber er versucht sich ganz einfach in Geschichtsklitterei.

Ich kann es ihm nicht verdenken, er hat ja ein Image, das er pflegen muss, und vielleicht sind seine Rezepte heute anders und besser als damals, als er ohnehin nur auf dem Beraterstuhl saß. Und vielleicht taugt der «Modest Proposal for Resolving the Eurozone Crisis» aus dem Jahr 2013 tatsächlich etwas, ich habe ihn noch nicht gelesen, aber er steht auf seiner Webseite yanisvaroufakis.eu und wird demnächst auch auf Deutsch veröffentlicht als «Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise». Aber so ganz warm will es mir auch bei diesem Griechen, der sich damals nicht um Strukturreformen kümmerte, weil es angeblich eine rechtsextreme Gefahr gab, die man vorrangig zu bekämpfen hatte, nicht werden, und ebenso wenig wird es mir warm, wenn verschiedene linke Kollegen nach wie vor die Gefahr des Rechtsextremismus herauf beschwören, statt endlich mal zeitgenössische Forderungen und Utopien zu entwickeln. Der Arbeitstitel einer solchen Debatte könnte sein: Schluss mit dem guten Leben!