"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kinder- und Jugendbuecher -

ID 70327
 
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Astrid Lindgren hat scheint’s mal gesagt, dass sie ihre Kinderbücher jeweils so schreibe, wie wenn sie selber ein Kind wäre. Das scheint mir grundsätzlich etwas problematisch zu sein, denn bei Übernahme einer sachfremden Perspektive droht man leicht in den Tierschutz abzustürzen oder eben in den Kinderschutz, und was dann herauskommt, das ist die allgemeine Helmtragepflicht für Babies, bis die Fontanelle zusammen gewachsen ist und nachher natürlich erst recht, denn die Welt ist in erster Linie voller gräulicher Gefahren für die kleinen, unter Umweltschutz stehenden Knirpse, vor allem, seit es bei uns keine richtigen Kriege mehr gibt, dafür umso gefährlichere Angriffe von Blütenpollen, gerade jetzt im Mai, oder all die allergenen Stoffe im Blattspinat, das darf man sich aus kinder-erwachsener Sicht gar nicht plastisch vorstellen, und insofern ist es kein Wunder, dass nach all den Versuchen zur Rettung der Zahnsubstanz schon bei den Milchzähnen mit allerlei Fluorid, Jod, Kadmium und anderen Schwermetallen jetzt endlich Rettung, Einkehr und Umkehr gefunden ist, indem der Zucker gebändigt werden konnte im Rahmen, um nicht zu sagen in Raum und Zeit des Schokoladenprodukte-Universums Kinder. Kinder Pingui! Hei, hätte Astrid Lindgren sich gefreut, wenn sie das noch erlebt hätte!
Audio
10:43 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 05.05.2015 / 09:17

Dateizugriffe: 566

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Umwelt, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 05.05.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Auf jeden Fall ist Astrid Lindgren bei ihren Zeit- und Identitätsreisen in ihre Kinderfiguren hinein praktisch nie an einem falschen Ort gelandet oder eben verzerrt als Kinderschützerin; man stelle sich nur vor, was heutige Eltern und Erziehungsbehörden angesichts einer realen Pippi Langstrumpf in Bewegung setzen täten, während sie ihrem Kindergut die selbe Figur in der gezähmten Märchen­form mit viel Vergnügen vorsetzen. Nein, Frau Lindstrumpf hat alles richtig gemacht, und dementsprechend stellt sich die Frage, was wohl heutige Verfasserinnen von Kinderbüchern richtig machen. Auf der Nominierungsliste für den deutschen Jugendliteraturpreis in diesem Jahr finden sich Titel wie «Mein Vater, der Pirat», das wir in der einen oder anderen Form wohl alle auch selber schreiben könnten, wobei ich aus dem Inhalt zitiere: «Das wirkliche Leben bricht in diese Welt ein, als der Vater einen Unfall hat und er Junge erfährt, dass der Vater Gastarbeiter in einem Bergwerk ist», dass der saubere Herr Pirat also immer gelogen hat; ein anderes heißt «Lena und das Geheimnis der blauen Hirsche», das ich mir leider allzu gut vorstellen kann, als dass ich es selber schreiben möchte, und hier möchte ich nur anfügen, dass der Herr Autor Edward van de Vendel unter anderem mit dem Goldenen Kuss und dem Silbernen Griffel ausgezeichnet wurde – dieses Preiswerk da stammt doch selber irgendwie aus dem Lügenkasten von Michael Ende selig, oder nicht? – Wir haben bei den nominierten Bilderbüchern gesehen «Lindbergh; die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus» aus dem für seine absolut nie irgendwo ankratzenden und politisch vollkorrekten NordSüd Verlag, Annemarie van Haeringen stellt «Coco und das Kleine Schwarze» zur Verfügung, was laut Inhaltsangabe ein «Beispiel eines unkonventionellen Mädchens» darstelle, das «überkommene Traditionen überwindet und deren» – also nicht dessen, sondern wirklich deren – «Mode eine emanzipatorische Kraft entfaltet», das wird Pippi Langstrumpf aber nicht gerne hören. Immerhin ist das Buch für Kinder ab fünf Jahren geschrieben, und ich müsste mich schwer täuschen, wenn es nicht zuallererst für die männlichen unter allen 5-jährigen Kindern verfasst wäre, sondern die weiblichen möglichst früh in ein Mode-Rollenbild hinein zimmert, das wir zu allem Überfluss am Schluss auch noch emanzipiert nennen. Bei den Jugendbüchern schafft es ein Autor fast bis zum Leviathan, nämlich David Levithan mit dem Titel «Letztendlich sind wir dem Universum egal». Dieses Buch ist weniger wegen des Inhalts erwähnenswert, der darin besteht, dass der Erzähler an jedem Tag in eine neue Erzählidentität schlüpft, gemäß Jurybegründung «mal Mädchen mal Junge, dick, krank, drogensüchtig, homosexuell, arrogant oder stinknormal», wobei stinknormal offenbar schlank, gesund, nicht drogenabhängig, heterosexuell und bescheiden heißt. Diesen superpädagogischen Ansatz halte ich für ein Jugendbuch für ziemlich betorkelt, aber eben, darum geht es mir nicht in erster Linie, sondern darum, dass der Autor David Levithan, geboren 1972, Verleger eines der größten Kinder- und Jugendbuchverlages in den USA und Autor zahlreicher erfolgreicher Jugendbücher ist. So kann das gehen, Jungs, wenn ihr was schreibt, schaut zu, dass ihr euch einen Verlag kauft!

Aber die Jugendbuchsparte ist ein gefährliches Gelände, das sehen wir auch dem Buch «Der Ernst des Lebens macht auch keinen Spaß an», zu dem ich ebenfalls aus der Jurybegründung zitiere: «Kann ein Mensch, der sich selbst das Leben nimmt, ein Held sein? – Für den Ich-Erzähler Lenny ist sein Bruder Jakob ein Held, weil er die Zweifel nicht leugnet, die verborgen liegen in allem, was wir tun. Jakob ist vermeintlich bei einem Bergunfall ums Leben gekommen. In Wahrheit ist er bewusst in den Abgrund gesprungen, der sich auch im übertragenen Sinn vor ihm aufgetan hat: die leistungsbezogenen Erwartungen seiner Eltern, die Angst, nie ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.» – Jetzt aber mal im Ernst, geschätzte Fachkolleginnen und -kollegen und Freundinnen aus der Pubertät: Bei allem Respekt vor den Sinnfragen, die sich in diesem Alter absolut und unbedingt stellen und durchaus manchmal eine existenzielle Dimension annehmen können – «manchmal», habe ich gesagt, hört ihr? Manchmal! – Da kommt man drüber hinweg, in der Regel, und wird dann ein geschätztes Mitglied der Gesellschaft, hört ihr, egal, ob als Kinderbuchautor oder als stell­ver­tre­ten­der Einkaufsleiter Baden-Württemberg bei Aldi Süd! –, also eben, bei allem Respekt vor diesen Krisen, sind die Ursachen da wirklich die leistungsbezogenen Erwartungen der Eltern oder die Angst, nie ein selbstbestimmtes Leben führen zu können? Ist so etwas nicht vielmehr die missglückte Transposition eines Klischees aus den Jugend-Sozialwissenschaften in die Jugendliteratur?

Und wenn ich grad dabei bin: Im Jahr 2013 räumte die 1979 geborene, und zwar nicht einfach geborene, sondern in Ambrolauri in der Region Ratscha-Letschchumi und Niederswanetien, also knapp neben Ober- und Unterossetien und insgesamt im Kaukasus geborene Tamta Melaschwili den deutschen Jugend­litera­tur­preis ab mit dem Buch «Abzählen», das anschließend in Bremen sogar aufs Theater gebracht wurde, und ich zitiere aus der anschließenden Rezension im Weser-Kurier: «Mal werden diese zwischen den Fronten eines nicht spezifizierten Waffenganges verorteten Stehaufmännchen und –frauchen von Maschinengewehrsalven weggemäht, die Konradin Kunze in einer irrlichternden, zuckenden Brachialästhetik in Szene gesetzt hat. Mal ziehen die Mitglieder dieser Dorf­ge­mein­schaft auf Abruf in drastischen wie plastischen Sätzen, Gesten und Desperado-Tanzschritten verheerende Bilanz. Denn dieser existenzielle Konflikt, der mitten durch die Individuen geht, ist ein Verlustgeschäft. Familiär. Finanziell. Und überhaupt.» Nun, da haben wir offenbar ein ähnliches Verfahren wie beim Verlagsbesitzer und Verlagsautor David Levithan, eine Form der Seelenwanderung, was vor allem dann praktisch ist, wenn man immer wieder eben zu Tode gebracht wird. Die Kritik stellt das Stück in den Rahmen: «Ein Wimmelbild, das sich trefflich zu dem in der vergangenen Saison begründeten Militärkritik-Themenschwerpunkt des Jungen Theaters fügt». Aha – ein militär-, wo nicht gar kriegskritisches Jugendbuch! Und zwar von einer Autorin, deren kaukasische Herkunft die Erzählbegabung für alle Schrecken in, eben, Südossetien und in Tschetschenien begründet und die Preisverleihung geradezu erzwingt.

Ihr merkt es, mir ist nicht so richtig wohl bei solchen Akten, wo eindeutig die politische Korrektheit den Oberbefehl hat und nicht die sprachliche oder erzählerische Potenz. Auch die Einladung von Tamta Melaschwili als Writerin in Residence nach Zürich, die sich vom Dezember letzten bis in den Mai dieses Jahres erstreckt, gehört ins gleiche Kapitel. Aber seis drum, vielleicht ist «Abzählen» trotz allem ein anständiges Jugendbuch, auch wenn ich mir die Militärkritik verbeten haben möchte; seit der Erfindung der intelligenten Munition muss man da mit ganz anderen analytischen Mitteln dahinter als mit jenem der Kritik.

In diesem Jahr steht auf der Kandidatenliste noch der Roman «Jenseits der blauen Grenze», der zwar nicht geradeaus den Krieg, aber immerhin Stacheldraht zum Gegenstand hat, mindestens laut dem Buchcover, und zwar geht es um die innerdeutsche Mauer, welche die Protagonistin Hanna Ende der achtziger Jahre durch die Ostsee zu umschwimmen versucht, und zwar, laut Jurybegründung, weil sie sich «durch nicht systemkonformes Verhalten die Möglichkeiten eines Lebens nach eigenen Vorstellungen verloren» hat, ohne Abitur und Studium, stattdessen die Zermürbende Arbeit in einem Dieselmotorenwerk. «Schwimmend erinnert sich Hanna an die Geschehnisse, die zur Flucht geführt haben. In diesen Rückblenden schildert Dorit Linke glaubwürdig eine DDR-Jugend zwischen Resignation und Aufmüpfigkeit.» Dorit Linke, die Autorin, war offenbar selber damals in der DDR Leistungssportlerin und Rettungsschwimmerin gewesen. Dieses Buch ist in einem gewissen Sinne der Gegenpol zum «Ernst des Lebens, der auch keinen Spaß macht»; in beiden Fällen verzweifeln die Jugendlichen an ihrem Leben, aber aus der DDR gibt es immerhin noch die Möglichkeit der Flucht, während die Probleme des Helden Jakob nicht einmal mehr eine solche Perspektive kennen, wie hoffnungslos sie auch sein mag.

Weiter nominiert in dieser Sparte ist «Die unterirdische Sonne» mit folgendem Inhalt: «Fünf Jugendliche werden in einem Keller festgehalten und regelmäßig einzeln oder auch zu zweit nach oben geholt. Was ihnen dort an Grausamkeiten widerfährt, schildert Friedrich Ani in seinem Roman nicht, aber er setzt beim Leser durch diese Leerstellen ein Kopfkino in Gang, das diesen in emotionale Tiefen schleudert.» Also eher ein Gruselroman, vielleicht inspiriert vom Fall Josef Fritzl. Dann ist da noch «Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums», die Geschichte zweier junger Amerikaner mit mexikanischen Wurzeln, sowie der «Schneeriese» von Susan Kreller über zwei Nachbarkinder in der Pubertät.

Ich selber bin nicht in der Lage zu beurteilen, ob ich, gesetzt der Fall ich wäre im Alter ab 12 Jahren, eines dieser Bücher unter der Bettdecke mit der Taschenlampe lesen würde. Oder allenfalls auf dem Kindle.

Die Verlosung findet im Oktober statt.