"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Raum- und Marsfahrt -

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Wenn ich eine Expedition zum Mars planen täte und dazu mehrere Marsiaden Dollars zur Hand hätte, wie dies in den Vereinigten Staaten von Amerika offenbar in einem Fall der Fall ist, was würde ich dann tun? – Dass man innerhalb von vernünftiger Zeit, soviel ich weiß ungefähr zwei Jahre, dahin gelangen kann, steht fest.
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11:14 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 26.05.2015 / 09:15

Dateizugriffe: 583

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Kultur, Internationales, Arbeitswelt, Andere, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 26.05.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Zurückzukommen ist offenbar auch nicht ein besonders gro­ßes Problem, sofern man sich nicht auf dem Planeten niederlässt, denn dann braucht es um­fang­rei­che Apparaturen, um neu starten zu können. Umgekehrt wäre eine Reise von zwei Mal zwei, also vier Jahren etwas fad, wenn man bloß in einer Entfernung von etwa 1000 Kilometern ein paar Admirationsrunden drehen und dann wieder abhauen täte, also muss man sich etwas überlegen, even­tuell in eine ähnliche Richtung wie anno dunnemals mit der Mondfähre.

Wo nun aber die Marsmission vier Jahre dauert anstatt vier Wochen, würde ich daran denken, gleich zum Vornherein einen Tross oder Treck von Raumschiffen hinauf zu schießen, vielleicht zwei Stück mit Besatzung und Fachleuten als Begleitpersonal und dann noch zwei oder mehr Ver­sor­gungs- und Materialtransporter, damit man auf dem Mars eine richtige kleine Basis errichten kann. Ge­setzt der Fall, eine Voraus-Spähtruppe landet in einer Marsfähre und vielleicht mit einem Mars­mo­bil an einer einigermaßen geeigneten Stelle und dirigiert von da aus die Manöver der übrigen Raumschiffe, dann wären die ersten Voraussetzungen für eine dauerhafte Basis gelegt.

Noch bevor die ersten Marsmännchen überhaupt angekommen sind, schickt man ihnen schon einen zweiten Konvoi hinterher, und wenn die dann angelangt sind, kann die erste Rakete oder was auch immer es dann sein wird den Rückweg auf die Erde antreten. Und so weiter und so fort; Gesamt­kos­ten: deutlich weniger als so ein mittlerer Irakkrieg. Technisch ist das bis auf die nur geringe Erfahrung mit Landemanövern und der Einrichtung einer dauerhaften Bodenstation bezie­hungs­wei­se insgesamt bis auf die wirklich geringe Erfahrung absolut möglich, und so könnte man in zehn Jahren mindestens einmal jährlich zum Erntedankfest oder zum Vatertag solch einen Siedlertreck hinauf schießen und, weil die Kosten natürlich mit der Massenproduktion rapide abnehmen, bald einmal auch alle sechs Monate, dann alle drei, schließlich monatlich und am Schluss einmal wö­chent­lich. Das würde auch das Hauptproblem mindern, zumindest das, was ich als Haupt­pro­blem ansehe, nämlich den Lagerkoller. Internet und Skype hin oder her, ich glaube, ich hätte erhebliche Probleme, zwei Jahre lang mit den selben zwei oder drei Menschen in der gleichen Zwei­raum-Wohnung zu leben und dabei nicht ein einziges Mal Gänsekeule mit Kohlroulade zu essen. Ich glaube, als Pionier wäre ich nicht geeignet. Wenn aber die Luftschiffe in regelmäßigen Ab­stän­den zwischen den Planeten hin und her gondeln, dann wird man mit der Zeit entlang der Haupt­route so etwas wie Drive-Ins oder Drive-Inns einrichten, wo sich die durchschnittliche Raum­fah­rerin so ein wenig verpflegen kann und auch mal die Beine vertreten, bildlich gesprochen. Noch vor der Einrichtung solcher fester Punkte im All könnte man schon dafür sorgen, dass man min­des­tens alle paar Monate innerhalb des Konvois von einem Schiff ins nächste wechseln kann, damit es nicht zu Mord und Totschlag kommt. Wobei ich zugeben muss, dass ich in dieser Frage von den Verhält­nissen auf Erde ausgehe; es ist gut möglich und sogar einigermaßen wahrscheinlich, dass sich bei diesen Reisen eigene Verhaltensregeln und auch eigene Mentalitäten ausbilden, Menta­li­tä­ten, auf die man sogar zuvor geprüft wird, und bei solch einem Eignungstest darf man dann nicht schum­meln, weil man sonst beim ersten oder zweiten Auftreten von Fehlverhalten an Bord ent­ma­te­ria­lisiert wird.

Und was macht so ein durchschnittlicher Erfurter dann auf dem Mars? Ausgedehnte Spaziergänge im Abendlicht? – Nein, man sieht sofort, mindestens die erste Generation der Marsfahrerinnen muss entweder handwerklich bzw. ingenieurtechnisch ausgebildet sein oder aber eine echte, ausge­wach­sene, fast schon zertifizierte Hartz-IV-Mentalität mitbringen. Aber ich entschuldige mich sogleich für diese Abschweifung, eigentlich wollte ich nur sagen, dass Dichter nur insoweit gefragt sind, als sie Dichtungen legen können, und denken sollte man nicht allzu viel außer eben an technische Fragen. In dieser Beziehung hat sich möglicherweise seit dreitausend Jahren nicht viel verändert, und jene Poetin, die uns dann nach Homer und James Joyce den nächsten Ulysses aufs Papier bezie­hungs­weise auf den Bildschirm zeichnet, die ist noch nicht geboren. – Einmal abgesehen davon, dass noch nicht abschließend feststeht, ob die Sprache als eigenständiges Kommunikationsmittel in Zukunft beziehungsweise in der Zukunft überhaupt noch einen Kunst- und Kulturstatus hat, viel­leicht verschmilzt sie auch mit den anderen akustischen und möglicherweise sogar optischen und am Schluss auch noch haptischen Erlebnissen zu einem andauernden Rausch der Sinne, von dem wir höchstens noch einmal pro Jahr ein paar Wochen Urlaub haben, dann vielleicht eben auf dem Mars. Wenn ich solche Spekulationen anstelle, entwickelt sich bei mir die Neigung, schon heute wehmütig an die Streifzüge durch die Wälder und Büsche zu denken, bei denen man am Schluss Zecken im Nacken und blutige Nasen hatte, weil die Gegenpartei wieder mal stärker war.

Leider habe ich aber kein Talent für Wehmut, und so gehe ich mal davon aus, dass alles schon gut kommen wird, und zwar mindestens insofern, als der Mensch, diese Allzweckeinheit des Uni­ver­sums, über die Gabe verfügt, seine eigene Disposition immer und obligatorisch den vorgefundenen Umständen anzupassen beziehungsweise sie in den vorgefundenen Umständen ja geradezu aus­zu­bilden. Dazu gehört auch, dass das in den konkreten Umständen sozialisierte Individuum je­weils davon ausgeht, dass alle anderen Individuentypen aus allen historisch dagewesenen und zukünftig möglichen Umstandstypen immer die gleiche Kernsubstanz ausweisen, was selbstverständlich ein ausgemachter Blödsinn ist. Nein, der Mensch oder das Individuum verändern sich ständig, und wenn man sich halt mal über ein paar hundert Jahre hinweg auf die gleichen, korrekter: auf ähnliche oder vergleichbare Grundwerte einigt, so heißt das noch lange nicht, dass man in hundert oder spä­tes­tens fünfhundert Jahren immer noch die gleichen Moral- und anderweitigen Strukturen haben wird.

Nehmt dies als Zeichen: Das allerkatholischste Volk auf der ganzen Erde, na, sagen wir das zweit-allerkatholischste Volk auf Erden nach den Polen, nämlich die Iren haben doch tatsächlich die Homo-Ehe legalisiert, ich weiß nicht mal genau, in welcher Form, ich weiß bloß, dass es eine Volks­abstimmung darüber gab, und weil Volksabstimmungen in der Regel nicht irgendwelche Aus­füh­rungs­bestimmungen, sondern Kernbereiche der Gesetzgebung betreffen, muss ich fast an­neh­men, dass die Irinnen und Iren die Homo-Ehe in ihre Verfassung aufgenommen haben. Gleich vor­weg: So richtig normal wird das dann allerdings erst, wenn sie daraus wieder verschwindet, weil solche Bestimmungen nämlich überflüssig geworden sind. Aber vielleicht betraf die Abstimmung ja tatsächlich nur die Abschaffung eines entsprechenden Verbotes, ich weiß es wirklich nicht, und besonders wichtig ist es auch nicht, wichtig ist bloß, dass sich das zweit-allerkatholischste Volk der Erde zur ersatzlosen Beseitigung einer der zentralen Verkrümmungen der katholischen Heilslehre entschlossen hat, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr könnt euch selber ausmalen, was als nächstes folgen wird, Diebstahl, Vielweiberei und so weiter.

Wie auch immer: Die Marsfahrt birgt erhebliche Potenziale, von der Weltraumforschung bis hin zur Entwicklung neuer Verfahren bzw. zur Gewinnung neuer Rohstoffe, und eine zentrale Ver­fah­rens­ent­wick­lung wird den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen beziehungsweise die Aus­bildung des Individuums selber betreffen. Ich brauche hier darüber gar nicht weiter zu spekulieren. Was ich aber insgesamt für spannend halte, das ist, dass sich hier tatsächlich ein neuer Horizont auf­tut, wenn seine Farbe auch zugegebenermaßen eher altrot ist als blau, ocker und sonnenhell. Aber nachdem mit dem Untergang der Sonne des Sozialismus auch der Blick auf die Zukunft in der Form der Hoffnung insgesamt praktisch verschwunden ist, stellen die Mars-Perspektiven so etwas wie die Wiederbelebung alter Menschheitsträume dar. Es gibt tatsächlich noch eine Terra Incognita, wenn sie auch außerhalb der Terra liegt, aber immerhin. Nachdem man den Typus der Entdeckerin längs­tens ausgestorben glaubte und nachdem es der internationalen Vereinigung der Public-Re­la­tions-Hunde gelungen ist, den Typus der Entdeckerin umzudeuten auf den Typus der Unter­neh­me­rin, sind wir beziehungsweise bin ich geradezu in meinen Tiefenlagen erleichtert darüber, dass die Zukunft eben nicht mehr ausschließlich von diesem ideologisch aufgeschäumten und steif gebac­ke­nen Menschenbild des initiativen, kreativen und energischen Entrepreneurs geprägt werden wird, sondern auch wieder vom altmodischen Entdecker, Eroberer von Neuland und was weiß ich; mög­li­cher­weise führt dies zu einer derartigen Schwächung und Entladung des Unternehmerbildes, dass in Zukunft auch wieder ganz normale Menschen salonfähig werden, welche nicht den Anspruch erhe­ben, die Mechanismen der internationalen Waren- und Kapitalwirtschaft im Griff zu halten.

Nichts gegen Unternehmerinnen, nichts gegen Eigeninitiative. Menschen, welche in der Lage sind, originelle Projekte in ihren technischen, administrativen und sozialen Dimensionen zu erkennen und durchzuführen, sind nach wie vor rar, und ich meine ebenfalls nach wie vor, dass ein ent­spre­chen­des Schulfach durchaus kein Schaden bei der Ausbildung wäre. Bloß ist die Realität hinter dem gebackenen ideologischen Schaum bei uns eine völlig andere. Man braucht sich bloß ein Diagramm der Kapitalbeziehungen oder der Vermögensverteilung aufzustellen, um davon eine recht genaue Vorstellung zu erhalten.

Dies allerdings ist auch wieder nicht die volle Wahrheit, denn hinter, unter, neben oder über diesen Herrschaftsverhältnissen, welche es übrigens erlauben, dass unterdessen einzelne Marsiardäre sel­ber volle Marsmissionen planen, organisiert sich der Rest der Gesellschaft zunehmend unabhängig von diesen Grobstrukturen. Die kapitalistischen Grobstrukturen geben noch so etwas wie ein Raster vor, aber innerhalb dieser Raster ist in den spät- oder postkapitalistischen Gesellschaften nicht nur vieles möglich, sondern auch Realität. Zwar beschafft sich nach wie vor eine schöne Mehrheit der Bevölkerung ihr Einkommen aus unselbständiger Lohnarbeit, aber die Zahl der direkt in der Pro­duk­tion Beschäftigten sinkt jeden Tag in Richtung jener Anteile, welche die Landwirtschaft nach wie vor tapfer vertritt, und der Anteil an Subventionen dieser Tätigkeiten steigt auch nach wie vor in gleicher Tendenz. Erstaunlich viele Menschen machen aber schon heute interessante Sachen unter absolut menschenwürdigen Bedingungen, und das ist vermutlich einer der Kernaspekte, welcher uns zunehmend von postindustriellen und postkapitalistischen Gesellschaften sprechen lässt. Es ist wirklich nicht mehr wie früher. Und zu solchen Erkenntnissen beziehungsweise überhaupt zu neuen analytischen Einsichten über unsere aktuelle Gesellschaftsform gelangen wir möglicherweise ebenfalls einfacher, wenn wir uns das mal vom Mars aus ankucken.

Kommentare
28.05.2015 / 21:40 Dieter, Radio Unerhört Marburg (RUM)
am 29. Mai in der Frühschicht am Freitag gesendet
Vielen Dank!!