"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Obergrenzen

ID 74798
 
AnhörenDownload
Die Österreicher, ja, die Österreicher. Die Notbremse haben sie gezogen, eine Obergrenze für Flüchtlinge haben sie eingeführt für dieses Jahr, eine Obergrenze, die voraussichtlich schon im Mai erreicht sein wird, und was geschieht dann? – Sehr praktikabel schaut das nicht aus, diese Ober­grenze, aber es geht sicher in erster Linie mal darum, die Gemüter etwas zu besänftigen. Das Volk zu beruhigen. Ja, das Volk, das ist uns schon eine besonders gefährliche Bestie, wenn man es von der Kette lässt, dann organisiert uns das Volk geradewegs üble Sachen wie Pogrome, Rassenhass und Weltkriege. Dieser ganze Zweite Weltkrieg, war das vielleicht etwa nicht das Deutsche Volk, das da mit lautem Gebrüll losgezogen ist?
Audio
10:07 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 26.01.2016 / 18:24

Dateizugriffe: 972

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 26.01.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nun, so einfach wird der Rückfall in die Barbarei wohl nicht zustande kommen. Vorderhand sieht man bloß, wie stabil die westeuropäischen Gesellschaften seit den letzten größeren Erschütterungen mit dem Mauerfall und den Balkankriegen doch waren. Auch die kritischen Geister haben es sich im Lehnstuhl der Systemkritik gemütlich gemacht und bestenfalls noch den ProletarierInnen in Südamerika diktiert, wo gerade die Bruchlinien des Klassenkampfes verlaufen. Und nun kommen diese Araber und Afrikaner daher gelaufen und bringen Neues und Unsicheres auf allen Stufen mit sich. Rein technisch wäre ihre Integration wohl nicht so problematisch, mindestens nicht in Deutschland, wo eine gewisse Anzahl an zusätzlichen Arbeitskräften durchaus willkommen wäre; aber mit ihren unterschiedlichen Umgangsformen und Wertvorstellungen bringen sie unser gesamtes Weltbild ins Wanken, und das ist sicher einer der Hauptgründe dafür, dass das Volk in seiner unendlichen Präzision dann von «Lügenpresse» zu sprechen beginnt, nämlich fallen vor dieser neuen Bedrohung oder vor diesem bedrohlichen Neuen zentrale Teile des sozialdemo­kra­tischen Konsenses in den entwickelten europäischen Gesellschaften in sich zusammen.

Nun, ganz und gar in sich zusammen werden sie wohl kaum fallen, auch wenn das völkisch-natio­nale Gejaule von den rechten Rändern der Gesellschaft her einen das glauben machen möchte. Trotzdem unterliegt der sozialdemokratische Konsens gegenwärtig dem härtesten Stresstest seit der Erfindung und Einführung dieses Konsenses durch Dr. Konrad Adenauer oder Ludwig Erhard oder spätestens Dr. Helmuth Kohl. In der einen oder anderen Form handelt es sich dabei zweifellos auch um die Folgen der Globalisierung. Das haben wir uns gar nie so richtig überlegt, dass nach dem freien Warenfluss irgendwann auch mal der Menschenfluss einsetzen wird. Die Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer waren irgendwie doch zu weit weg, und auch die Zahlen waren ganz andere. Erst jetzt tritt die Migration oder eben der Menschenfluss mit großem Pomp ins Bewusstsein. Da ist eben nicht mehr einfach Integration angesagt; die Einwanderer erscheinen mit einem Male als eigenständige kritische Masse, welche sich nicht mehr alles bieten lässt und zum Beispiel felsenfest davon überzeugt ist, dass Allah der bessere und stärkere Gott ist als der christliche. Sofern es sich grad um Moslems handelt. Und bezüglich der Gleichberechtigung der Frauen halten sich die eingereisten Jungmänner eher an Thomas von Aquin als an Simone de Beauvoir.

Von dem Moment an, da die MigrantInnen ihre Identität in der Abgrenzung gegenüber dem herr­schen­den sozialdemokratischen Konsens definieren, wird es schwierig, und ich gehe mal davon aus, dass das Volks-Herumgebrumm genau darauf abzielt, und insofern ist das Volk eben durchaus nicht dumm, denn wenn es so etwas einfach und gerade heraus und einfach nur tolerant, bezie­hungs­weise, wie der polnische Außenminister dies so neckisch formuliert hat: vegetarisch und rad­fah­rend hin­nehmen würde, dann wäre das Volk beziehungsweise dann wäre die Bevölkerung wirklich behäm­mert. Nein, in diesem Fall geht es nicht um Integration, sondern um Konfrontation, dem muss sich die Gesellschaft stellen. Es gibt gute Gründe dafür, in den Städten Westeuropas keine Quartiere mit Drittweltstandards oder mit kleinen Kalifaten entstehen zu lassen. Hier sind wir gefordert, und zwar mit jenen Mitteln, die wir zur Verfügung haben, also mit unseren Gesetzen und notfalls mit der Polizei.

Umgekehrt braucht man nicht unbedingt jeden Moslem zum Verzehr von Schweinefleisch zu zwingen, wie dies die bedepperten Rechtsnationalisten in Dänemark am liebsten täten, oder den moslemischen Frauen das Tragen von Kopftüchern zu verbieten, wie das in gewissen, von bestimmten Bakterienstämmen befallenen Volksstämmen beziehungsweise Gegenden der ländlichen Schweiz manchmal gefordert wird. Damit hat das ja nichts zu tun. Im Gegenteil: Man sollte versuchen, die Konfrontation so produktiv wie möglich zu gestalten. In der Regel führt der Königsweg dabei durch die Küche, namentlich die libanesische Küche, auf die wir uns vielleicht als großen Kompromiss einigen könnten; es gibt übrigens meines Wissens auch einen israelischen Vertreter dieser libanesischen Küche, er heißt Ottolenghi und kocht in London. Neinnein, auch die Ausübung des Glaubens gehört zu den Rechten der Einwanderer, nicht zuletzt deshalb, weil es sich um unsere eigenen Rechte handelt. Und darin besteht der Kern der Auseinandersetzung, den man um jeden Preis produktiv gestalten muss: Wenn die Völkerwanderer oder Wandervölker in Europa ankommen, dann schadet es gar nichts, wenn sie ihr Selbstbewusstsein mit im Gepäck haben; aber unsere Aufgabe ist es, sie in unsere eigenen Grundlagen einzuführen beziehungsweise unsere laizistischen Prinzipien durchzusetzen.

Diese Aufgabe ist gar nicht so einfach, vor allem deshalb, weil die meisten Menschen bei uns sowieso nicht mehr wissen, um welche Grundlagen und Prinzipien es sich bei uns handelt. Wir haben uns derart an den sozialdemokratischen Konsens gewöhnt, dass wir gar nicht mehr wissen, woraus er eigentlich gemacht ist, und den weniger eloquenten Teilen der Bevölkerung erscheint in dem Moment, da plötzlich wieder alles in Frage gestellt wird, die ganze Welt als Vorspiegelung und Lüge, eben als Projektion der Lügenpresse. Dabei haben wir uns bloß an die Zustände gewöhnt, ungefähr so, wie die meisten nach wie vor Christen sind, ohne dass sie noch zur Kirche gehen oder auch nur wissen, was in der Bibel drin steht. Wie viele Ehefrauen hatte, nochmals, König Salomon, und wie viele Hetären? Und war König David jetzt schwul oder nicht? – All das weiß heute kein Mensch mehr. Na gut, das beschlägt jetzt auch vor allem das alte Testament, aber es steht nach wie vor in unseren Bibeln drin und wurde auch bei der letzten sprachlichen Bereinigung nicht ausgemerzt. Nehme ich jedenfalls an.

Ich will den sozialdemokratischen Konsens übrigens nicht besser machen als er ist, er beinhaltet unter anderem die Bereitschaft, absolut absurde Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen hinzunehmen, oder genauer: Er beinhaltet, dies einerseits hinzunehmen, anderseits aber auch Personengruppen und politische Bewegungen auszubilden, welche diese Ungleichheiten routine­mäßig als Ungerechtigkeit anzuklagen, ohne aber je einen konkreten Schritt zu ihrer Beseitigung unternommen zu haben. Und es versteht sich von selber, dass ich selber mich durchaus zu diesen Personengruppen und Bewegungen zähle und mich hiermit dafür entschuldige, in den letzten Jahren niemals einen konkreten Vorschlag zur Verbesserung der Welt vorgelegt zu haben.

Die hohe Politik aber kämpft derweil mit ganz anderen Problemen, nämlich damit, einerseits die erforderlichen Maßnahmen zur Integration und wenn nötig auch zur Repression zu ergreifen und anderseits die gefährliche Bestie Volk im Zaum zu halten. Zu diesem Zweck werden eben in gewissen Ländern Obergrenzen eingeführt und in anderen die Grenzen dicht gemacht. Auch die Politik der deutschen Regierung läuft darauf hinaus, den Zustrom möglichst zu unterbinden, bloß versucht die deutsche Regierung, das Migrationsproblem näher bei der Quelle zu fassen, einerseits mit diplomatischen Bemühungen um einen Frieden in Syrien, anderseits mit Hilfen an die Türkei, welche mit diesen Hilfen die Flüchtlingsströme schon in der Türkei eindämmen soll. Umgekehrt benutzt der türkische Staatschef Erdogan die ganze Frage, um einerseits von der Europäischen Union massive Zugeständnisse zu erhalten und anderseits die Kurden wieder aufs Haupt zu hauen, ohne dass ihn jemand dafür übermäßig tadelt oder gar etwa Sanktionen ergreift; man hat wirklich den Eindruck, der alte Erdogan versuche, die türkische Position auf Kosten der syrischen Bevölkerung auszubauen. Umgekehrt versuchen auch noch andere Akteure, ihre Positionen auf Kosten der syrischen Bevölkerung auszubauen, vom Regierungschef Al Assad bis zu seinen Verbündeten im Libanon und im Iran und seinen Gegnern, vor allem in Saudiarabien. Dieser Konflikt droht uns bald einmal so festgefahren und unlösbar zu werden wie die Position von Israel gegenüber seinen Nachbarn. In diesem Kräfte-Vieleck weiß man tatsächlich bald nicht mehr, wo einem der Kopf steht. Dass man nach Möglichkeit einen Beitrag leisten sollte für einen dauerhaften Frieden, soviel steht fest, darüber sind sich alle einig, aber wie dieser Frieden dann aussehen soll, das weiß keiner. Vielmehr: Alle wissen es, aber alle haben eine andere Variante.

In Genf sollte gegenwärtig eine weitere Verhandlungsrunde stattfinden, wobei die verfeindeten Delegationen nicht einmal im gleichen Raum sitzen wollen. Daran müsste es trotzdem nicht scheitern; aber wenn der Russe und das Kerry-Kinn und der Iranerer und der Saudiarabier und alle ihre jeweiligen Verbündeten bei den Bürgerkriegsparteien weiterhin den Eindruck haben, ihre aktuelle Verhandlungsposition sei noch nicht optimal – und dieser Eindruck entsteht zweifellos in erster Linie durch die Beteuerungen der wichtigsten politischen Akteure in der Region –, dann wird da halt schon wieder nichts draus, und das Resultat heißt Islamischer Staat, welcher seinerseits mit dem Islam wohl noch weniger am Hut hat als ich selber.

Und solange das so weiter geht, wird auch die Einführung von Obergrenzen für Flüchtlinge nicht besonders wirksam sein. Trotzdem möchte ich zum Abschluss wiederholen, was ich schon immer vertreten habe: Zuwanderung aus anderen Erdgegenden kann nicht unbeschränkt erfolgen. Unsere Gesellschaften brauchen Zeit, um die ZuwandererInnen zu integrieren, und die ZuwandererInnen brauchen Zeit, um sich an die hier geltenden Vorstellungen zu gewöhnen. Dieses Mengen–Zeit-Verhältnis bildet die fließende Obergrenze der Einwanderung. Mindestens solange nicht auch in Europa ein Krieg ausbricht, da sähe das Ganze dann wieder anders aus.