The Weather’s Fine. Redebeitrag zum 1. Mai als Tag der Niederlagen

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Ein Dokument aus 2013 mit brennender Aktualität:

"Es gilt also nicht „unseren“ 1. Mai gegen die Nazis zu verteidigen, sondern im Gedenken an die Geschichte des Tages den Volksgemeinschaftsgedanken zu bekämpfen. Dass dabei der Widerstand gegen Neonationalsozialist_innen und Faschist_innen unabdingbar ist, zeigt die Geschichte ebenso wie die derzeitige Lage etwa in Griechenland oder Ägypten. Bei ihnen darf die Auseinandersetzung aber nicht enden, der 1. Mai erinnert ebenso daran, dass der wirklichen Bewegung mehr als nur Nazis, und auch mehr als Staat und Kapital, entgegenstehen.

Dementsprechend muss der 1. Mai als ein Tag der Niederlage progressiver Politik verstanden werden:
Der 1. Mai ist auf jeden Fall kein Feiertag – der 1. Mai ist ein Gedenktag."
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Upload vom 29.04.2016 / 20:11

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Entstehung

AutorInnen: Nachmittagsmagazin für subversive Unternehmungen; nfsu
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 29.04.2016
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Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
30.04.2013 · von clubcommunism

Die Zweite Internationale erklärte vor 124 Jahren den 1. Mai zum Tag der Arbeiter_innenbewegung, genauer: zum „Protest- und Gedenktag“. Anders als Gewerkschaften und die linksradikale Szene heute, die meist euphorisch von einem „Feier“- bzw. „Kampftag“ sprechen und damit den eigenen Sieg unhinterfragt mitunterstellen, wussten ihre Aktivist_innen um die schmerzhaften Verluste, die mit diesem Tag verbunden waren.
1886, Chicago

Die Geschichte des 1. Mai begann 1886 mit einem US-weiten Generalstreik zur Erkämpfung des Achtstundentages, bei dem je nach Quelle 300.000 bis 500.000 Arbeiter_innen auf der Straße waren. In Chicago, einer Hochburg der Arbeiter_innenbewegung, in der der Achtstundentag schon seit über 20 Jahren Forderung war, wurde am 3. Mai (der 2. Mai war ein Sonntag) eine Streikversammlung von der Polizei angegriffen, um Streikbrecher_innen den Zugang zu einer Fabrik zu ermöglichen. Dabei tötete die Polizei sechs Arbeiter_innen. In Reaktion auf diese Gewalt kam es am Abend des 4. Mai zu einer Kundgebung auf dem Haymarket, zu der anarchistische Gewerkschaftler_innen aufriefen. Als die Polizei die Versammlung angriff, wurde ihnen eine Bombe entgegengeworfen, die einen Polizisten tötete. Daraufhin schoss die Polizei in die Menge, zahlreiche Arbeiter_innen wurden verletzt, mindestens vier starben, aber auch zahlreiche Polizisten wurden durch die Gegenwehr der Arbeiter_innen verletzt.
Am nächsten Morgen durchsuchte die Polizei die „Arbeiter-Zeitung“, acht Anarchisten wurden festgenommen, und, wie die FAU Thüringen in ihrem Aufruf schon darstellte, ohne stichhaltige Beweise verurteilt: Fünf zum Tode, drei zu Haftstrafen. Es dauerte noch weitere 51 Jahre, bis der Achtstundentag der gesetzliche Normalarbeitstag wurde.
1919, Hamburg/München

Im Zuge der versuchten Revolution im November 1918 bildeten sich auch in Hamburg Arbeiter- und Soldatenräte, die am 6. November die zentralen Punkte der Stadt besetzten und deren Regierungsgewalt vom bürgerlichen Hamburger Senat anerkannt wurde. 10 Tage später setzte die SPD gegenüber den Räten durch, dass die Macht wieder in die Hände des Senats gelegt wurde. Hamburg blieb formell Räterepublik, am 16. März 1919 erfolgten die ersten allgemeinen Wahlen. Die SPD gewann 50,5% der Stimmen und bildete, zum Beweis der Verlässlichkeit ihrer antirevolutionären Haltung dennoch eine Regierung zusammen mit den bürgerlichen Parteien; 1. Bürgermeister bleibt Werner von Melle, denn, so der SPD-Spitzenkandidat: „An die Spitze des hamburgischen Staates gehört ein Mann, der auch den alten Familien nahesteht“. Die neu-alte Regierung führte Hamburg zurück in den Reichsverbund. Als Ersatz für die proletarische Revolution wurde 1919 der 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag, der die Arbeiter_innen mit der Ausbeutung versöhnen sollte.
Während in Hamburg gefeiert wurde, wurde die Münchner Räterepublik, laut SPD-Ministerpräsidenten Hoffmann eine „Diktatur der Russen und Juden“, von Freikorps- und Reichswehrverbänden (letztere unter der Führung des SPD-Reichswehrministers Noske) eingeschlossen und am 3. Mai vollständig erobert. Die Münchner Räterepublik endete als letzte Räterepublik in Deutschland. Zwischen 600 und 1000 Menschen starben als Kämpfer_innen der Räterepublik oder wurden als tatsächliche oder vermeintliche Revolutionäre ohne Prozess hingerichtet. Weitere 2200 wurden zu Haft- oder Todesstrafen verurteilt.
1933, Berlin

In der NS-Zeit wurde der 1. Mai deutschlandweit zum gesetzlich verankerten Feiertag. Er wurde durch ein Reichsgesetz vom 10. April 1933 zunächst als „Tag der nationalen Arbeit“ eingeführt und am 1. Mai 1934 zum „Nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ erklärt. Ziel war dabei nicht der Ausgleich mit der Arbeiterbewegung, sondern ihre Vereinnahmung und Zerschlagung. Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaften in Deutschland verboten und Gewerkschaftshäuser gestürmt. Schon zuvor, am 21. März 1933, d.h. kurz nach der Machtübertragung an die NSDAP und den Reichstagswahlen Anfang März, hatte der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) angeboten, sich „in den Dienst des neuen Staates zu stellen“. Außerdem erklärte er sich am 29. März für parteipolitisch neutral. Im Zuge dieser Anpassungspolitik rief der ADGB auch zur Beteiligung an den Maifeierlichkeiten 1933 auf, während bereits kommunistische Gewerkschaftsfunktionäre verhaftet und in Konzentrationslager gebracht wurden. Allein an der zentralen Veranstaltung der überall in Deutschland stattfindenden Maifeiern auf dem Tempelhoffeld in Berlin nahmen 1-1,5 Mio. Menschen teil – unter ihnen auch zahlreiche organisierte Gewerkschafter_innen und Mitglieder des ADGB.
1968, Paris

Nach andauernden Studierendenprotesten und -streiks wurde im Anschluss an den 1. Mai am Folgetag die Universität Nanterre geschlossen, eine Protestveranstaltung gegen die Schließung in Paris wurde von der örtlichen Universität untersagt. Daher wurd am 3. Mai die Sorbonne besetzt und am selben Tag von der Polizei geräumt, 200 Studierende wurden festgenommen. Im Anschluss kam es in Paris zu Straßenschlachten und am 5. Mai zu landesweiten Stu-dierendenprotesten, von denen sich die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) distanzierte, da sie sich ihrem Führungsanspruch entzogen. Nach weiteren Unruhen räumte die Polizei am 10. Mai das Quartier Latin und nahm 500 Menschen fest. Die Gewerkschaften solidarisierten sich mit den Protesten und riefen für den 13. Mai zum Generalstreik auf. Am 14. Mai kam es zu zahlreichen Besetzungen von Unis und Schulen, die Arbeiter_innen einer Flugzeugfabrik in Nantes nahmen ihre Arbeit nicht wieder auf und streikten wild. Studierende und Arbeiter_innen kooperierten, die Streiks dehnten sich aus und am 16. Mai rief das Besetzungskomitee der Sorbonne auf:
„Besetzung der Fabriken, Alle Macht den Arbeiterräten, Abschaffung der Klassengesellschaft, Nieder mit der spektakulären Warengesellschaft, Abschaffung der Entfremdung, Ende der Universität.“
Am 17. waren 200.000 im wilden Streik, am 18. schon zwei Millionen. Am 24. bot die Regierung Reformen des Bildungssystems und massive Lohnsteigerungen an, parallel wollten sie und die KPF ein Demonstrationsverbot beschließen. Am 30. lies Präsident de Gaulle sich öffentlich die Loyalität des Militärs versichern, nachdem schon Truppen um Paris zusammengezogen wurden, und drohte mit dem Ausnahmezustand. Als die Gewerkschaften umschwenkten und die Arbeiter_innen aufforderten, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, bröckelte der Streik. Die Gewerkschaften behielten vorerst ihre Rolle als anerkannter Verhandlungspartner, die verbliebenden Streikenden wurden bis zum 18. Juni Stück um Stück von der Polizei aus ihren Fabriken geräumt.


An den hier dargestellten Ereignissen zeigt sich immer wieder auf unterschiedliche Weise: Die Geschichte des 1. Mai ist keineswegs eine Geschichte der Siege progressiver politischer Bewegungen – der 1. Mai ist die Geschichte ihrer Niederlagen. Die Niederlage der amerikanischen Arbeiter_innen gegen staatliche Repressionen und Klassenjustiz, der Verrat der Sozialdemokratie an den Räterepubliken, das Aufgehen der Gewerkschaften und vieler Arbeiter_innen in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft, das in der Shoah mündete, und die Niederringung der Selbstorganisation der 68er Proteste in Frankreich, Hand in Hand durch Polizei, die kommunistische Partei und die Gewerkschaften.

Völlig geschichtsblind mutet daher die Formulierung des DGBs zum 1. Mai 2013 an, wenn sie diesen Tag als den Seinigen deklarieren. Damit leugnet er die Rolle der Gewerkschaften, in diesem Falle der ADGB, im frühen „Dritten Reich“. Denn viele organisierte Gewerkschaftler_innen beteiligten sich am 1. Mai 1933 an den zentralen NSDAP-Kundgebungen. Und auch wenn der DGB mit dem Slogan „Gute Arbeit. Sichere Rente. Soziales Europa.“ in „seinen“ „Tag“ startet und eine europäische Solidarität einfordert, ist seine Politik eine andere. Zusammen mit der Sozialdemokratie setzt er auf eine deutsche Solidarität, statt sich mit den Arbeiter_innen Griechenlands, Portugals etc. zu solidarisieren. Die Gewerkschaften setzten sich eben weder für eine Steigerung der deutschen Stückkosten qua ernsthaften Lohnerhöhungen ein, um ihren Standortvorteil gegenüber diesen Ländern zu reduzieren und deren Lage etwas zu entspannen, noch beteiligen sie sich an europaweiten Protestaktionen. Sie verteidigen einzig nationalistische Interessen der deutschen Arbeiter_innen. Hier zeigen sich die Grenzen der vielbeschworenen „Idee Europa“, wenn nationalistische Interesse gegenüber globaler Solidarität überwiegen.
Insofern ist es absurd und falsch, wenn immer wieder den Neo-Nazis von jenen Gewerkschaftler_innen und Sozialdemokrat_innen vorgeworfen wird, sie rauben den 1. Mai und versuchen seine „gute“ Tradition für ihre Zwecke zu nutzen. Das Motto der Freien Kräfte Thüringen „Arbeit zuerst für Deutsche“ entspricht damit der gegenwärtig praktizierten Politik der Gewerkschaften: Ihnen geht es ebenfalls darum, ihre deutschen Interessen in der globalen Standortkonkurrenz durchzusetzen, dabei nehmen sie eine massenhafte Verelendung großer Teile der Bevölkerung etwa in Spanien und Griechenland in Kauf.
Letztlich ist diese Politik Ausdruck einer deutschen Volksgemeinschaft, die sich vom rechten politischen Spektrum bis weit ins linke erstreckt: Sie findet ihren wirkmächtigen Ausdruck im „sozial-partnerschaftlichen“ Korporatismus des DGBs, in der „nationalen Sozialdemokratie“ der SPD wie bei Die Linke – wenn etwa Lafontaine gegen Fremdarbeiter_innen hetzt oder Wagenknecht gegen den „Kasinokapitalismus“ den besseren, deutschen Kapitalismus herbeisehnt – sowie in der aktuellen Europapolitik der CDU/FDP-Regierung, die die deutsche Vorherrschaft in Europa abfeiert, wenn sie sich freut, dass in Europa wieder „deutsch gesprochen“ wird; und natürlich in der neugegründeten „Alternative für Deutschland“, die die D-Mark wieder einführen will, und nicht versteht, inwiefern der Euro Instrument der Durchsetzung deutscher Interessen war und ist.

Es gilt also nicht „unseren“ 1. Mai gegen die Nazis zu verteidigen, sondern im Gedenken an die Geschichte des Tages den Volksgemeinschaftsgedanken zu bekämpfen. Dass dabei der Widerstand gegen Neonationalsozialist_innen und Faschist_innen unabdingbar ist, zeigt die Geschichte ebenso wie die derzeitige Lage etwa in Griechenland oder Ägypten. Bei ihnen darf die Auseinandersetzung aber nicht enden, der 1. Mai erinnert ebenso daran, dass der wirklichen Bewegung mehr als nur Nazis, und auch mehr als Staat und Kapital, entgegenstehen.

Dementsprechend muss der 1. Mai als ein Tag der Niederlage progressiver Politik verstanden werden:
Der 1. Mai ist auf jeden Fall kein Feiertag – der 1. Mai ist ein Gedenktag.



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