"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Der Urknall

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Ich befinde mich gerade in einer ausgesprochen hellen Stimmung, welche intelligente Gedanken produziert wie jenen, dass man einmal einen intelligenten Aufsatz produzieren könnte mit dem Titel «Der Unfall als konstituierendes Element der Weltgeschichte und des Seins».
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11:04 min, 14 MB, mp3
mp3, 178 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 26.07.2017 / 16:23

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 26.07.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
In der Tat ist es wohl kein Zufall, dass «Unfall» praktisch gleich tönt wie «Urknall», und ich will einen alten IBM-Computer fressen, wenn der Urknall kein Unfall war, ein Ereignis, das aus der ruhig strömenden oder nicht mal strömenden, sondern ruhig im Weltenbett stehenden Zeit heraus trat und sie über­haupt erst in Bewegung setzte. Die gesamte Weltgeschichte, bisher ungefähr 15 Milliarden Jahre und dann nochmal so viel hinzu, ist ein einziger Unfall. Manche Leute sagen, dass es sich nur um den Traum oder gar Gedankenblitz eines über- oder untergeordneten Wesens oder um eine Aus­stül­pung einer anderen Seins-Form, nämlich vermutlich der Nicht-Seins-Form handle, aber wie auch immer, der Unfall ist mit Sicherheit ein konstituierendes Element, der überhaupt erst zu Inhalten führt wie zum Beispiel diese Sendung oder dieser Sender oder die Absprachen der deutschen Auto­mobil­hersteller zur Umgehung jener Abgasnormen, welche sie beziehungsweise ihre Lobby­is­ten in der Europäischen Union überhaupt erst eingeführt hatten. Etwas Bescheuerteres ist mir in letzter Zeit nicht untergekommen, und es gibt weiß Gott genug Idioten und Idiotien unter der sen­genden Sommersonne. Nehmen wir bloß die Polen, die eine Partei wählen und ein Parlament bestellen, wel­ches die klassische Gewaltenteilung abschafft. Die EU-Kommission droht mit Sanktionen, und darauf freue ich mich bereits, nicht etwa, weil ich für Polen eine besondere Gefahr sehe, dass da in Zukunft die Menschenrechte nur noch auf Klopapier gedruckt zum Einsatz kommen, sondern weil es einfach Freude bereitet, wenn sich die Zentralautorität der Europäischen Union anschickt, ihre Kompetenzen einmal in der Praxis anzuwenden oder auszuloten oder was auch immer dann daraus wird. Die Polinnen und Polen dagegen möge ihr Gott behüten, es ist sicher ein anderer als für die meisten Gläubigen, egal, ob Christinnen oder Muslime, aber er möge sie doch bitte schützen und dafür sorgen, dass sie ihr Land in Ehren halten und es nicht etwa in eine internationale Isolation führen oder sonstwie zugrunde richten.

Man mag den Polinnen und Polen auf einer psychologischen Ebene ihre Angst vor Russland durch­aus abnehmen, einmal abgesehen davon, dass das Land bereits zwei Mal in der Geschichte völlig verschwunden war. Auch alle Nachbarn, inklusive Russland wissen um dieses sonderbare Selbst­verständnis und finden sich damit ab, dass gelegentliche Ausbrüche einer dummen Sorte von Natio­nalismus unvermeidlich sind, aber auch nicht besonders lange anhalten. Spätestens bei den über­nächs­ten Wahlen wird der halbe Kacinsky wieder in die Wüste geschickt, und dann wird man ja sehen, wie es weiter geht. Eine Ahnung davon kann man in Ungarn kriegen, wo, wie ich an dieser Stelle bereits berichtet habe, die rechtsextreme, vielleicht sogar neofaschistische Jobbik neuerdings Positionen der bürgerlichen und liberalen Mitte vertritt, weil der ehemalige Sozialdemokrat Orban unterdessen mit seinem Vokabular derart weit nach rechtsnational abgedriftet ist, dass die Jobbik dort keinen Platz mehr findet. Dies erinnert mich wiederum an den italienischen Postfaschisten Gianfranco Fini, der vor zehn Jahren plötzlich begonnen hat, liberale Theorien zu vertreten wie zum Beispiel jene, dass auch Flüchtlinge Menschen seien und als solche behandelt werden müssten. Es kann, mit anderen Worten, heutzutage eine Partei ihre ideologische Grundlage von einem Tag auf den anderen austauschen, als handelte es sich bloß um einen Schlafanzug, und das sagt uns weniger über die ideologischen Grundlagen als vielmehr über das System, in dem wir leben: Dieses System hat keine Gegner mehr, weder von links noch von rechts. Auf der politischen Ebene finden nur noch Schattenkämpfe statt, in der Regel in der Form aufgewärmter Vergangenheit. Die Neofaschisten halten sich an ihre bekannten Vorbilder, die Linksextremen inszenieren die früheren anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Darbietungen in zu großen Teilen wörtlichen Wiederholungen, und die Apologetinnen und Apologeten des Bestehenden spielen ihre Rollen im Demokratietheater, so gut sie es eben können. Bemerkenswert dabei ist allenfalls, wie stark die nationalen Ausprägungen die Inszenierung prägen. Die nordischen Länder halten sich an eine ziemlich rationale Form, die Französinnen und Franzosen haben soeben einen kleinen Napoleon berufen, die Italienerinnen und Italiener führen ihr bekanntes Affentheater auf, sodass es nicht einmal besonders überrascht, dass der Berlusconi-Zombie wieder einen Platz auf der Bühne findet und daneben übrigens, wie Sauron im Herr der Ringe, zwar nicht mehr über die notwendige physische Präsenz verfügt, um seine Reihen zu organisieren und zusam­men­zuhalten, dass aber die Kraft des Ringes doch immer noch ausreicht, um einzelne Politiker aus der Regierung und aus dem zentristischen Lager abzuziehen. Die Ungarn und die Polen spielen das ungarische und polnische Drama, im Baltikum scheint wie in Polen die Propaganda rund um eine unmittelbar bevorstehende Invasion Russlands die nationale Identität und Politik zu bestimmen, und vom Dreizack Ukraine, Rumänien und Bulgarien wollen wir uns gerne immer und immer wieder überraschen lassen.

Den traurigsten Part spielen seit einigen Jahren die Griechinnen und Griechen. Es gibt Stimmen, die sagen, dass das Erdbeben vor der Küste von Kos von den Griechinnen und Griechen selber aus­ge­löst worden sei, als sie vor lauter Freude über die deutschlandfeindlichen Ausfälle des türkischen Staatskasper Erdogan auf den Boden gestampft hätten. Sie rechnen damit, dass sich die Nato dem­nächst aus der Türkei zurückzieht und Griechenland wieder zu dem macht, was es lange Zeit war: zum Bollwerk gegen den Islam und mögliche weitere originelle Einfälle aus dem Osten. Damit ver­bunden wäre eine Lösung für die Staatsschuldenkrise, über die ein normaler Mensch sowieso nur noch verzweifelt den Kopf schütteln kann. Die letzte vernünftige Begründung für das Beharren auf dieser Verschuldung lautete, dass man dem Land Strukturreformen aufzwingen konnte. Aber von diesen Strukturreformen hat unsereins noch praktisch nichts gesehen, und nach wie vor warte ich auf den für mich entscheidenden Parameter in dieser Frage, nämlich die Nachricht von der Ein­rich­tung eines staatlichen Grundbuchverzeichnisses. Damit ist in nächster Zeit nicht zu rechnen, und somit kann man dies als griechische Eigenheit verbuchen und schweren Herzens die Schulden ersatzlos streichen mit der Begründung: Dieses Land und seine Bevölkerung sind unbelehrbar, aber ansonsten sind sie ziemlich sympathisch.

Dann haben wir noch die Flüchtlingsfrage, unter welcher gegenwärtig vor allem Italien leidet. Irgend einem saumäßig intelligenten Gremium ist es offenbar beigefallen, dass sämtliche Flücht­linge auf dem Mittelmeer nach Italien zu pferchen sind, also so 100 000 bis 200 000 Stück pro Jahr, und dank dem Schengen-Abkommen haben die anschließend nicht mehr das Recht, sich in einem anderen europäischen Staat um Asyl zu bewerben. Das macht ja prächtig Freude, wie ihr euch vor­stel­len könnt, vor allem den Italienern, die übrigens im Teil südlich der Po-Ebene tatsächlich eine mehrtausendjährige Tradition an Flüchtlingen oder sonstigen Völkerwanderern haben. Das merkt man auch, wenn man sich in diesen Teilen Italiens aufhält. Im Norden gehört die Ausländer­feind­lich­keit zum Prêt à porter. Aber anstatt sich über Fremdenfeindlichkeit und solche Späße auf­zu­regen, sollte man sich besser Gedanken machen über mögliche weitere Entwicklungen. Es gibt eine Argumentationskette, die ungefähr so lautet: Wenn es Europa nicht gelingt, Afrika in einen eigenen Wirtschaftsraum umzubauen, mit welchem ein halbwegs anständiger Handel zustande kommt, dann schickt dieser Kontinent halt anstelle seiner Waren seine Leute nach Europa. Wenn dies auch nicht die ganze Wahrheit ist, so doch ein Teil. Wie ich schon lange sage, sollte sich die EU bemühen, mindestens in Nordafrika große Wirtschaftszentren zu fördern. Solche strategischen Projekte muss man allerdings auch korrekt kommunizieren. Wenn die europäischen Bevölkerungen nicht be­grei­fen, dass sie erstens gewisse Geschäftsbereiche dorthin auslagern müssen und zweitens im An­schluss daran massiv davon profitieren auf ganz unterschiedlichen Ebenen, dann entstehen daraus ganz gewaltige Reibereien, die sich immer wieder das Gewand des Nationalismus überziehen, ein­mal abgesehen davon, dass der Nationalismus schon seit längerer Zeit zu einer Charge geworden ist, welche im Theater der Neuzeit immer wieder gerne gegeben wird, als echte Kasper und Pajasse und Harlekine von Darstellern wie Berlusconi, Trump, Orban und dem Verein der Rechts­popu­lis­ten, aber in sozusagen gemäßigter Form immer wieder auch von den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aller Länder, egal, ob von der konservativen oder der sozialdemokratischen Parteiseite her.

Das Schwierige für unsereinen ist in dieser Situation nicht so sehr das stete Bemühen, echte Entwicklungen auszumachen hinter dem politischen Affentheater, sondern in erster Linie, so etwas wie eine neue Politik zu formulieren. In diesem Fall handelt es sich nicht um eine neue öko­no­mi­sche Politik wie in Russland zu Beginn der 20-er Jahre des letzten Jahrhunderts, sondern um neue Grundsätze, die sich nicht mehr am Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ausrichten, was in einer voll automatisierten, globalisierten und digitalisierten Wirtschaft sowieso immer aussichtsloser ist, bei einer wichtigen Zwischenbemerkung hierzu: Solange Kaufkraft und Einkommen über Arbeits­plät­ze transportiert werden, ist die Frage dieser Arbeitsplätze natürlich weiterhin von zentraler Be­deu­tung, aber sie steht nicht mehr im erwähnten ursprünglichen Zusammenhang des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, sondern praktisch ausschließlich im Zusammenhang mit Bildung und Infrastrukturen. Wenn man dies mal anerkennt, dann haben wir aber neue Ziele zu formulieren, und die müssen sich auf das Zusammenleben richten, auf das Zusammenleben innerhalb der Dörfer und Städte und auch auf das Zusammenleben der verschiedenen Länder und Bevölkerungen. Sie müssen sich weiter auf die Qualifikation der Menschen richten. Grundsätzlich müssen wir die Ziele um verschiedene Stufen nach oben schrauben. Nachdem wir jetzt die Armut definitiv abgeschafft haben, müssen wir auf eine zweite Menschwerdung des Menschen hin arbeiten, das heißt, auf die volle Entwicklung, auf den vollen Ausbau jener Infrastrukturen, welche in allen Menschen in der ganzen Pracht angelegt sind, also in ihren Köpfen. Alles, was sich diesem Ausbau in den Weg stellt und die Menschen dumm macht und roh, muss man von den Wurzeln bis zu den Spitzen be­kämp­fen. Ungefähr dies dürfte der Umriss der neuen Ziele sein, über deren Erreichung man dann weiter streiten kann, egal, ob auf der Straße oder an langen Abenden beim Rotwein in der Toskana.