"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Zukunftsspekulationen

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Dort, wo ich ganz Mensch bin, nämlich beim Spielen am Computer, schleicht sich hin und wieder ein halber Mensch ein mit einem Inserat, in welchem er für sich selber wirbt als «Europas Krisen-Experte Nummer 1» und den Währungs-Kollaps, den Wirtschafts-Crah und Chaos in den Straßen ankündigt.
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11:28 min, 6885 kB, mp3
mp3, 81 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.08.2017 / 11:21

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Klassifizierung

Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Caspar
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 22.08.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Es handelt sich um einen gewisse Guido Grant, ein Typ, der sich Mühe gibt, wie Vin Diesel auszusehen und daneben ganz simpel rassistische Blogbeiträge verfasst unter dem Oberbegriff «Unabhängig – Investigativ – Kontrovers». Ein Verschwörungstheoretiker und logischerweise AfD-Fan, von dem ich bloß mutmassen kann, was er auf meiner Spiele-Seite will, aber sogar diese Mutmaßung ist mir zu viel; es muss ausreichen, dass er sich tatsächlich selber als Europas Krisen-Experte Nummer 1 darstellt. In einen solchen Kopf hat's wohl seit langem nicht mehr hineingeschneit. Auch dies gibt es, und ich frage mich, ob diese Sorte von Dienstleistungen auch bereits ein makroökonomisch erkennbares Ausmaß angenommen hat über den Möchtegern-Vin-Diesel hinaus. Sei's drum.

Seit sich der durchschnittliche Mensch nicht mehr mit dem Existenzkampf befassen muss, widmet er einen gewissen Teil seiner Hirnkapazität der Zukunft und der Gesellschaft und der Zukunft der Gesellschaft, und daraus ist ein eigener florierender Geschäftszweig geworden, wollte man einen Kalauer machen, würde man sagen: die Politik, aber das wäre nich korrekt, denn die Politik wird noch von anderen Brennstoffen befeuert als von Zukunftshoffnungen und -ängsten. Eine Zeitlang hatten die Ökonomen in dieser Branche einen guten Ruf, aber damit ist es spätestens seit der Finanzkrise vor zehn Jahren vorbei. Allerdings konnte man von Ökonomenseite schon zuvor zuverlässig alle Tatsachen und Meinungen ebenso beziehen wie ihr Gegenteil, insofern hat sich nicht besonders viel verändert, bloß das Renommee ist dahin.

Trotzdem sind wir weiterhin versucht, die kommenden Entwicklungen vorzugsweise anhand der wirtschaftlichen Seite anzusehen. Verschiedene Trends sind gerade im Gespräch, in erster Linie die Industrie 4.0 oder die Künstliche Intelligenz, in Kombination mit der anhaltenden Digitalisierung sämtlicher Prozesse weit über den ökonomischen Kernbereich hinaus. Wir hören hier wie überall die unterschiedlichsten Meinungen. Die einen Vertreter prophezeien uns den Untergang eines substanziellen Teils, wo nicht der Mehrheit der Arbeitsplätze. Sie haben sicher insofern Recht, als verschiedene Jobsorten verschwinden werden, die sich automatisieren lassen, oder aber solche, die ins Ausland verschwinden, soweit sie sich nicht schon längst dorthin aus dem Staub gemacht haben. Anfang Jahr hörte ich einen Wirtschaftsprofessor, der voraussagte, dass die Digitalisierung sich momentan in die Mitte des Arbeitsmarktes hinein frisst, in erster Linie in die Administration, zum Beispiel auf den Anwaltskanzleien, wo verschiedene Formbriefe und noch weitere Sachbearbeiter-Funktionen demnächst von Computern erledigt werden. Dagegen entsteht laut diesem Professor ein zusätzlicher Bedarf bei hoch qualifizierten Fachleuten ebenso wie bei völlig unqualifiziertem Personal. Weitere Tendenzen bestehen in der Auflösung des klassischen oder konventionellen Arbeitsmarktes. Kürzlich erzählte mir ein Bekannter, der für ein Umzugsunternehmen tätig ist, dass dieses Unternehmen mittlerweile abgesehen von der Administration keinen einzigen eigenen Angestellten mehr beschäftigt. Die Umzugswagen, die Chauffeure, die Zügelmänner, alle arbeiten für das Umzugsunternehmen auf eigene Kosten, also mit eigener Versicherung, eigenen Sozialversicherungsrechnungen und so weiter und so fort, nicht im Anstellungs-, sondern im Auftrags-Verhältnis. So entsteht vor allem im Dienstleistungs­sektor ein Markt, wo lauter einzelne Kleinunternehmen aktiv sind, mit anderen Worten: die soziale Absicherung wird vollends prekär.

Andere, ebenfalls renommierte Leute vom Fach sprechen von neuen Möglichkeiten und von neuen Zweigen von Beschäftigung und Wertschöpfung, an die wir bisher noch gar nicht gedacht haben. Während verschiedene Wirtschaftszweige ganz oder teilweise untergehen, entstehen neue, sei es aus neuen Technologien oder aus neuen Vermarktungsformen. Bei uns ist im Moment gerade diese asiatische Fahrradverleihkette im Gespräch, welche ihre gelben Fahrzeuge überall in der Stadt abstellt, und für einen Euro pro Stunde kann man die befahren mit einer App, welche einem einen Code liefert und dafür besagten Euro elektronisch abkassiert. Solch neue Dienstleistungsformen dürften tatsächlich weiter ins Kraut schießen, wobei ich mich hier gar nicht auf die Äste hinaus lassen will und vorhersagen, in welchen Bereichen sich sowas in erster Linie durchsetzen wird. Eine sichere Zukunft hat das Geschäft mit Drohnen, und zwar von dem Moment an, an dem die Flugstraßen und Flughöhen so definiert sind, dass sich die Dinger nicht in die Quere kommen und dass sie den Luftraum über den real existierenden Menschen nicht übermässig belasten oder eben gar versperren, zum Beispiel für Rettungsaufgaben, aber wahrscheinlich eher für Überwachungs­aufgaben.

Die Umwandlung klassischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ich-AGs war ja ein Kernmerkmal der Hartz-Reformen und hat im Verbund mit 1-Euro-pro-Stunde-Jobs einen ultra schlechten Ruf, zu Recht zum einen, was nämlich die ursprüngliche Intention und Praxis angeht, aber nur bedingt zu Recht zum anderen, was nämlich die Praxis auf dem normalen Markt angeht. Man kann davon ausgehen, dass die Umzugskräfte aus dem erwähnten Beispiel die schwere Arbeit nicht einfach für ein Butterbrot erledigen werden. Unter Umständen können sie sogar mehr verlangen als zuvor die Festangestellten, die vermutlich auch schon als Festangestellte nicht besonders vorteilhafte Termini aushandeln konnten. Es ist nicht gesagt, dass sich die Kosten vom Arbeitgeber weg und die Vorteile vom Arbeiter weg verschieben. Im Vordergrund steht hier die Vermutung, dass die Lohnbeiträge zur Sozialversicherung mindestens zum Teil wegfallen. Andere Verschiebungen im Preisgefüge sehe ich zunächst nicht, mit einer Ausnahme: Wenn dann tatsächlich importierte Arbeitskräfte aus den Billiglohnländern in Osteuropa die, sagen wir mal: normal teuren inländischen Muskelpakete verdrängen. Davon war aber im Gespräch mit meinem Bekannten nicht die Rede, wenn auch feststeht, dass in diesem Bereich schon heute recht viele Männer ausländischer Herkunft tätig sind; aber die meisten haben sich schon länger hier niedergelassen und zählen insofern zur Wohnbevölkerung.

Ebenfalls in der Mehrheit ausländischer Herkunft sind die Reinigungskräfte, welche mindestens in der Schweiz seit längerer Zeit in fast ausschließlich alle Haushalte eingesickert sind. In diesem Bereich ebenso wie bei der Kinderbetreuung haben sich die Stellen in den letzten zwanzig Jahren, was soll ich sagen: verfünffacht? – Und wenn ich dies auf einer etwas höheren Ebene, so quasi halb-makroökonomisch betrachte, dann würde ich hierzu sagen: Hier ist ein Sektor entstanden, der nicht mehr vom gesamtgesellschaftlichen produktiven Kapital alimentiert wird, sondern von einem Teil jener Überschüsse, welche die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihren normalen Berufslöhnen anhäufen können. Das heißt: Sie sparen nicht mehr alles, sondern geben einen Teil ihrer Löhne dafür aus, andere Leute anzustellen oder zu bezahlen. Diese anderen sorgen ihrerseits dafür, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihr anständiges Geld verdienen können, indem sie ihnen die Haushaltarbeit abnehmen und sie dadurch für die Wertschöpfungs-Arbeit im engeren Sinne freistellen. Das gleiche gilt für die Kinderbetreuung.

Die Freistellung der Eltern von der Kinderbetreuung für die produktive Arbeit kennen jene, welche dort aufgewachsen sind, noch aus der ehemaligen DDR. Mindestens in der Schweiz ist die Umstellung auf dieses System in der Zwischenzeit praktisch abgeschlossen. Es betrifft vor allem die Frauen: Tausende von ihnen können jetzt früher oder überhaupt oder mindestens für längere Zeit in die Produktion zurückkehren, und dafür sind hunderte von Stellen in Krippen, Tagesstätten und anderen Angeboten entstanden, ganz abgesehen von den Haushalthilfen. Beides führt zu noch nie dagewesenen Höchstständen in der Beschäftigung und der ihr zugeordneten Statistik.

Man fragt sich hier natürlich, was die so befreiten beziehungsweise neu eingespannten und Geld verdienenden Frauen denn in der Produktion tatsächlich produzieren? Und indem man sich dieses fragt, fragt man sich gleichzeitig, was die in der Produktion eingespannten und Geld verdienenden Männer denn tatsächlich produzieren? Denn es sind ja nicht alle in der Forschung an Spitzen­technologien tätig. Aber darüber beziehungsweise über das Wunder der Wertschöpfung will ich mich hier nicht auslassen.

Alles, was ich hier und heute sagen will, ist: Man weiß es nicht, zum einen, nämlich was uns die Zukunft bringen wird. In einem wiederum halbwegs makroökonomischen Abstecher bin ich versucht zu sagen, dass in Zukunft die Gehälter eines Mittelstandes, der schon recht weit unten auf der Lohnskala ansetzt, nicht nur ausreichen, um etwas auf die hohe Kante zu legen, sondern dass die Ersparnisse dieses Mittelstandes mit der Zeit auch dafür mobilisiert werden, ihrerseits eine Wertschöpfung auszulösen, in erster Linie im Dienstleistungsbereich. Wobei ich diese Dienstleistungen hier gleich wieder etwas verächtlich machen möchte, denn selbstverständlich zählen hierzu Dinge wie der Ponyhof, auf welchem offenbar heutzutage jede halbwegs gesunde 9-jährige mindestens vier Stunden pro Woche zu verbringen hat, abgesehen von den Sitzungen des familieneigenen Kanarienvogels beim Tierpsychologen, die Animal Care und wie solche Dinge alle heißen mögen; die psychische Betreuung für die Menschen hat sich ja schon vor zwei Generationen flächendeckend etabliert, sozusagen als Vorreiterin dieser Tendenz. Aber an diese originelle Seite der gesamtgesellschaftlichen oder gesamtwirtschaftlichen Sparquote hat bisher noch fast niemand gedacht, dabei versteckt sich hier ein Potenzial, das in der Lage ist, die gesamte Arbeitslosigkeit auf einen Schlag zu beseitigen. Voraussetzung ist nur, dass das Geld frei zirkuliert, und dies ist offenbar der Fall und in den nächsten Monaten immer zuverlässiger der Fall, wenn man den Konjunktur­propheten Glauben schenken darf.

Die Mittelklasse als Investitionsmotor für Anstellung jenseits der Technologie – das ist auch für mich eine überraschende Einsicht aber im Moment sehe ich nichts, was dieser Beobachtung, die ich bereits in den Rang einer Arbeitshypothese erhoben habe, widersprechen sollte. Man könnte sich noch fragen, wie es sich dabei verhält mit den zunehmenden Diskrepanzen bei der Vermögens­verteilung. Das scheint eben auch zu gehen. Die akkumulierten Großvermögen sind unterdessen derart absurd hoch geworden, ebenso wie die daraus erzielten Einkünfte, die wiederum zurück fließen, dass diese Ebene jede praktische Bedeutung verloren hat. Die neuen sozialen Taktgeber, das sind die Menschen untereinander, mit Ausnahme ein paar verbliebender Großmotoren wie zum Beispiel der Automobilindustrie. Dazu gesellt sich selbstverständlich der in stetigem Wachstum befindliche Bereich von Forschung und Entwicklung in allen Branchen, einschließlich der Entwicklung völlig neuer Branchen; auch hier bin ich absolut zuversichtlich, dass der Welt oder dem System oder am Schluss sogar den Menschen selber auf absehbare Zeit immer wieder etwas Neues einfallen wird.

Ich bin zuversichtlich, muss aber gleichzeitig einräumen, dass alles ganz anders kommen kann. Wenn es aber auf dem aktuellen Pfad weitergeht, dann lassen sich mit diesen Mechanismen recht viele der aktuellen Probleme einer produktiven Lösung zuführen. Nicht zuletzt jenes der Integration einer großen Zahl an Zuwandererinnen und Zuwanderer, welche nichts sehnlicher wünschen, als sich in unseren Gesellschaften irgendwo einzuloggen.