Lorettas Leselampe - Januar 2006

ID 11581
 
'Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen' Hg von Schnittpunkt - Beatrice Jaschke, Charlotte Martinez-Turek, Nora Sternfeld.
Audio
22:21 min, 5240 kB, mp3
mp3, 32 kbit/s, Mono (24000 kHz)
Upload vom 20.02.2006 / 11:34

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Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur
Serie: Lorettas Leselampe
Entstehung

AutorInnen: Lorettas Leselampe
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 20.02.2006
keine Linzenz
Skript
Schnittpunkt – Beatrice Jasche / Charlotte Martines-Turek/Nora Sternfeld (Hg): Wer spricht. Autorität und Autorschaft in Ausstellungen. Wien: Turia und Kant 2005.
Antonio Gramsci: Erziehung und Bildung. Gramsci Reader. Argument 2004.

Wer spricht? lautete Ende der Siebziger Jahre ein Doppelheft der Alternative, in dem es darum ging, wer Zugang zu den gesellschaftlichen Medien, insbesondere dem Radio hat. Wer spricht, wenn wir das Radio anschalten? Wer hat Zugang zum Mikrophon? Wie sind die Stimmen verteilt? Wie können andere Verteilungen aussehen? Dies waren keine theoretischen Fragen, sondern sie entstanden in der Praxis der Aneignung von Sendern insbesondere in Italien. Diese Frage ist für Projekte wie FSK bis heute leitend. Wer spricht? Sind es individuelle Stimmen, die sich ausdrücken? Kaum. So sehr viele auch hier im Projekt glauben, dass es darum beim freien Radio gehen müsse, so oft individueller Ausdruck mit gesellschaftlicher Freiheit verwechselt wird, bleibt wahr, dass die Praxis freien Sendens Situationen entwickeln muß, in denen kollektive Prozesse mit von einzelnen unkontrollierbaren Ausgang entstehen. Der einzelne, individuelle Ausdruck bleibt ganz bürgerlicher Ästhetik verhaftet. Die Sehnsucht nach Anerkennung durch die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnet ganze Subkulturen. Abweichen, um dazu zu gehören. Wer im Freien Sender Kombinat spricht, tut dies aufgrund einer kollektiven Praxis, die mehr und etwas ganz anderes ist als individueller Ausdruck. Das bedeutet noch lange kein autorisiertes Sprechen, wie es die parteikommunistische Linke pflegte und pflegt, sondern genau ein Sprechen, das immer in der kollektiven Kritik steht, ein bezweifeltes Sprechen.
Wer spricht? Diese Frage war und ist immer auch eine Waffe gegen behauptete Autoritäten. Die Gruppe Schnittpunkt hat den ersten Band einer Reihe über Ausstellungstheorie und Praxis bei dem Wiener Verlag Turia und Kant so benannt, um zu thematisieren, wie in den Institutionen der Kunst diese vermittelt wird. Wer spricht, wenn auf einem Zettel den BesucherInnen mitgeteilt wird, wo eine Künstlerin steht? Wie entsteht die Wahrheit im Museum?
Museen sind nicht zuletzt vom Bürgertum geschaffene Institutionen, in denen sich das Bürgertum nicht nur artikuliert, sondern zugleich auch seine ideologischen Staatsapparate reproduziert. Deshalb ist besondere Aufmerksamkeit geboten, ob sich gerade diese Institutionen wenden lassen für eine emanzipatorische Politik, als Orte, an denen sich nicht nur Kritik artikuliert, sondern auch eine Praxis vervielfältigt, mit der heute und nicht erst am St. Nimmerleinstag die Macht des Bürgertums angegriffen werden kann.
Auf den ersten Blick mag das so erscheinen, wie Nora Sternfeld in ihrem einleitenden Beitrag feststellt, versuchen die Museen und insbesondere die Museumspädagogik doch für alle Zielgruppen offen zu sein. Das allerdings sollte wenig verwundern, erzeugt doch die Fiktion von gesellschaftlicher Teilhabe das Minimum an Zufriedenheit, das revolutionäre Organisationen verhindert. Und gewiß: das Bürgertum ist in unseren Breiten im Zuge der Proletarisierung der Welt größer geworden, wer wollte sich heute noch als Proletarier verstehen – außer jenen, die eben konstitutiv aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, wie illegale MigrantInnen beispielsweise? Sie sollen gar nicht integriert werden – erst wenn sie Staatsbürger sind. Nora Sternfeld kritisiert dies implizit, indem sie diejenigen bürgerlichen Vorstellungen angreift, die ideologisch diesen Ausschluß verdecken oder verschieben. Wer wollte sich dieser Kritik verschließen? Es muß immer um die kollektive Aneignung eines Wissens gehen, das eben letztlich hilft, die bürgerliche Vergesellschaftung hinter sich zu lassen. Sternfeld propagiert zu diesem Zweck das Konzept der Selbstermächtigung:
Zitat S. 26.
Wer die bürgerliche Vergesellschaftung hinter sich lassen will, sollte auch die bürgerliche Denkformen hinter sich lassen können. Was heißt es, 'ein Bewußtsein über die eigene Lage zu entwickeln'? Sternfeld bezieht sich in diesem – wie ich finde – idealistischen Modell, dass erst das Bewußtsein und dann die Praxis verändert wird, auf keinen geringerern als Antonio Gramsci, dessen politische Pädagogik vor einiger Zeit beim Argument-Verlag in dem Band Erziehung und Bildung zugänglich gemacht wurde.
Zitat S. 27
Die unbestreitbare Leistung dieses Ansatzes – Abschied von der Naturbegabung – bleibt dennoch ganz im Rahmen der Bewußtseinsphilosophie und ist entsprechend kaum materialistisch zu nennen. Die alltäglichen Praktiken lassen sich kaum durch das Bewußtsein von ihr verstehen – und seit den Reflexionen von Marx über den Fetischcharakter der Waren könnte es auch selbst-verständlich sein, dass 'Selbstaufklärung' nicht mehr als ein bürgerlicher Fetisch ist, der davon ablenkt, dass ein Großteil der Dinge, die uns als Subjekt konstituieren, hinter unserem Rücken passieren. Die Verschiebung vom ahistorischen 'Erkenne dich selbst' zum hsitorischen 'Erkenne dich selbst im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse' verschleiert, dass dieser Erkenntnisprozess niemals vollständig ist, dass er allenfalls als kollektive Praxis interessant sein kann, die sich nicht abschließen läßt.
Letztlich beschließt auch Nora Sternfeld ihre Überlegungen mit dieser Perspektive:
Zitat S. 32
Für diese Kämpfe liefert der Band Wer spricht? unterschiedliche Materialien. Oliver Marcharts Analyse des Museums als Disziplinarinstitution und ideologischer Staatsapparat ist relativ flüchtig und desavouiert sich auch schon mal selbst:
Zitat S. 41^
Seine Antwort in Bezug auf die dokumenta11 als "Gegenkanonisierung" bleibt allerdings Aufklärung darüber schuldig, um welchen Kampf es da gegangen sein soll. Stattdessen klingt es wie ein Selbsterfahrungsbericht, wie die verschämt Guides genannten Führer durch die Ausstellung ausgebildet wurden:
Zitat S. 53
Ich habe damals eine Führung mitgemacht, die, vorsichtig gesagt, nicht so konventionell war wie früher, aber wirklich auch alles andere als institutionskritisch. In diesem Zusammenhang wirkt Rahel Pufferts Rückbezug auf Volosinov sehr erfrischend, in der sie fragt, was bei der Kunstvermittlung überhaupt zur Sprache kommt.
Der Teil der Reflexionen wird ergänzt durch Präsentationen und einen Überblick über Wiener Institutionen, die eine ganze Menge Material für alle bieten, die sich über die Institution Museum und deren Veränderung praktisch Gedanken machen wollen. Dabei ist es zum Teil ernüchternd, wie im Falle der Ausstellung gastarbejteri – vierzig Jahre Arbeitsmigration, wenn Martina Böse resümmiert:
Zitat S. 145
Was soll eine produktive Hinterfragung anderes leisten, als die Stabilisierung der Ausschlüsse aufgrund des schlechten Gewissens? Welche produktive Veränderung der Ein- und Ausschlußmechanismen ist denkbar? Wie lassen sich diese testen? Wer spricht? – von der Reihe der Gruppe Schnittpunkt ist noch einiges zu erwarten, wenn es ihr gelingt, sich gegen die einfachste Form der Vereinnahmung zu wehren.