Lorettas Leselampe - Februar 06

ID 11743
 
Anfang der Sendung. Anlässlich von Hubert Fichtes 20. Todestag erscheint der letzte Band seiner umfangreichen 'Geschichte der Empfindlichkeit': 'Die zweite Schuld'. Peter Brauns 'Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte' wird ebenfalls besprochen. Mit den Studiogästen und Fichtelesern Jan-Frederik Bandel und Mario Fuhse.
Audio
39:33 min, 18 MB, mp3
mp3, 64 kbit/s, Stereo (24000 kHz)
Upload vom 03.03.2006 / 16:20

Dateizugriffe: 5

Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Schwul
Serie: Lorettas Leselampe
Entstehung

AutorInnen: Lorettas Leselampe
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 03.03.2006
keine Linzenz
Skript
Peter Braun: Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Fischer 2005. 9,95 Euro.

 Peter Braun: Autor von Die doppelte Dokumentation – ein Buch über die Zusammenarbeit von Fichte und Mau.
 Gliederung nach Orten drängt sich bei Fichtes Werk auf, wo viele Titel Orte benennen. Insofern ein Lustiges Buch, das einen neuen Zugang zum Werk ermöglicht.
 Problem des Ansatzes ist die Poetik: „Der Schriftsteller erschafft die Orte in seinem Medium der Sprache neu“ – heißt: den Schaffensmythos von Autorschaft und Männlichkeit zu reproduzieren (das ja bei Fichte oft genug ironisiert wird, dieser ganze Mythos der Fruchtbarkeit usw. – hier gibt es ja doch einige heterosexistische Normierungen).
 Dabei ist das Buch versiert geschrieben, stilsicher und angenehm lesbar: „Er buchstabiert sie, verwandelt sie in Sprache, Rhythmus, Klang. Er setzt sie aus Wörtern neu zusammen. Dadurch gewinnen sie ein literarisches Eigenleben und werden zu Schauplätzen der Schrift.“ Das Wortspiel vom Schauplatz (des Romans) und Schauplatz der Schrift ist sicher nicht neu, aber unterhaltsam.
 Doch was das im Werk Fichtes bedeutet – löst Braun nicht ein: er erzählt die Werke eher nach, als dass er sie interpretiert, genauer gesagt: er geht sie durch. Das ist bei einem 32bändigen Werk sicher auch hilfreich – enttäuscht im Detail aber dort, wo die Interpretation in der Beschreibung verharrt oder mögliche Kontextualisierungen werkimmanent bleiben. Zum Beispiel bei seiner Besprechung von Psyche, dem gemeinsamen Buch von Fichte und Mau: „Sicherlich ein Höhepunkt der gemeinsamen doppelten Dokumentation von Leonore Mau und Hubert Fichte. So vietet der Band eine hervorragende Möglichkeit, das genaue und diffizile Zusammenspiel der Fotografien und Texte zu betrachten und damit beispielhaft die doppelte Lektüre nachzuvollziehen, die dieses bimediale Zusammenspiel fordert. Jedes Medium will gemüß seiner spezifischen Qualitäten und Schönheiten wahrgenommen werden.“ Was dann folgt, enttäuscht gerade deshalb, weil Braun gerade über die Zusammenarbeit der beiden schon veröffentlicht hat. Die Fotos von Mau werden beschrieben, die Texte von Fichte zwar ausführlich zitiert, aber das „Bimediale“ dieser Arbeit, was spezifisch durch die Konstellation der Medien im Material entsteht, bleibt unerklärt. Das Kapitel macht stellenweise eher den Eindruck einer Inhaltsangabe. Literaturwissenschaft am Material sähe anders aus. (Ein weiteres Beispiel, wie anspruchslos offenbar die bundesdeutsche Literatur-wissenschaft geworden ist. Der Dozent für neuere Deutsche Literatur an der Uni Konstanz präsentiert seine Lesefrüchte und gilt wahrscheinlich schon dafür als Fichte-Experte.)
 Das Fehlen einer materialnahen Lektüre ist umso verstörender, als Braun zu Beginn sich dieser Methode verpflichtet zeigt: Eine „Einstellung, die zu einem genauen Lesen literarischer Texte auffordert, halte ich gerade gegenübereiner Literatur wie der von Hubert Fichte für angebracht, die so eng mit seinem Leben – und damit auch mit dem Leben all jener Menschen, deren ‚Stimme‘ er in seine Texte integriert hat – verwoben ist“. – gerade dieses genaue Lesen läßt sich in manchem Kapitel vermissen. Es sind eher Fundstellen, Notizen beim Lesen, die hier versammelt sind, denn Interpretationen. Das mag an der Größe der Aufgabe liegen – in das Gesamtwerk einzuführen – aber gerade diese Aufgabe stellt sich genauen LeserInnen immer. Die genaue Lektüre am Material löst sich von der engen Bindung mit dem Leben und den – scheinbar so authentischen Stimmen der anderen – um in der fremden Materialität der Schrift noch ganz andere Stimmen zu entdecken.
 Genaue Lektüre muß sich entsprechend über die Fundstelle hinaus eben zur Interpretation wandeln, eine Poetik, die nicht alles erklärt, sondern den Text vervielfältigt. Wie kurz dies bei Braun dementgegen gedacht wird, zeigt ein vorletztes Zitat:
 „Auch ist in vielen Fällen ein bestimmtes Hintergrundwissen notwendig, um die literarische Gestaltung Fichtes nachvollziehen zu können.“
 Die genaue Lektüre bietet aber nicht nur diese Hintergründe, sondern erweitert den Text.
 „Das Vergnügen, Fichte zu lesen, wächst in dem Maße, in dem man sich als Leser in dieses Netz aus Bezügen verstricken läßt“.
 Dieses Netz ist auch ein Netz der Orte, das eine andere Weltkarte erzeugt, die sich zu lesen lohnt – die Reisen Hubert Fichtes, die eine Schicht der Welt freilegen, die in der hiesigen Literatur zwar ihre Geltung hat, aber noch viel zu oft ignoriert wird. Insofern darf Brauns Buch – jenseits literaturwissen-schaftlicher Ansprüche durchaus als gelungen gelten – insofern es das Vergnügen Fichte zu lesen überträgt und verspricht.