Vive la Commune partout!

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Gespräch mit zwei Aktivisten aus Paris und Lyon/Rennes. Unter der Losung "Vive la Commune" haben in der Nacht der Erklärung des Präsidenten Chirac zur Aufrechterhaltung des CPE mehere tausend Menschen in Paris demonstriert und schließlich die Kirche Sacre Couer angegriffen wegen ihres Symbolcharakters für die Niederlage der Pariser Commune bzw. als Symbol des Sieges der Reaktion über die CommunardInnen. Die Aktivisten berichten auch über die Besetzung einer Landebahn im Airbus Werk Tolouse und über eine Besetzung und Blockade eines zentralen Postverteilzentrums. Erscheint am 24.05.2006 gekürzt in der Jungle World: http://jungle-world.com/redirect/2.php
Audio
52:23 min, 24 MB, mp3
mp3, 64 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 23.05.2006 / 00:00

Dateizugriffe: 491

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Entstehung

AutorInnen: Recycling-Redaktion
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 23.05.2006
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ein Hauch der Pariser Kommune
Gespräch mit zwei Aktivisten aus Frankreich am 21.04.06, 16:10-17:10 Radio FSK

Freitag, der 21.04.06, 16:10 Uhr, Studio 1 des Freien Sender Kombinats Hamburg (FSK)

Moderator (M): Zu Gast sind heute Leute aus Frankreich. Hallo.

Französische Aktivisten 1 & 2 (F1 & F2): Hallo.

M: Ihr seid Studierende, die sich an der CPE-Bewegung beteiligt haben und hier zusammen mit Leuten von der Hamburger Uni. Auch hallo.

Hamburger Aktivisten 1 & 2 (H1 & H2): Hallo. Wir grüßen euch.

M: Ihr seid Leute, die seit gestern nicht mehr im Amt sind.

H1: Genau. Vielleicht kurz dazu. Einige Leute haben das vielleicht schon mitbekommen. Der AStA der Uni Hamburg wurde gestern abgewählt. Wir haben jetzt hier in Hamburg einen rechten AStA könnte man sagen. Der Vorstand besteht aus der Jura-Liste und der WiWi-Liste und das ist einfach ein katastrophales Zeichen, jetzt angesichts der drohenden Einführung von Studiengebühren. Die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, ob wir mit der Intensität unseres Widerstandes jetzt weitermachen können. Wir werden alles daran setzen, dass der Widerstand jetzt weitergeht.

M: Vielleicht seid ihr ja jetzt auch freier.

H1: Ja, ich glaub schon, dass wir jetzt wieder gewisse Freiheiten gewonnen haben, dadurch dass institutionelle Zwänge weg sind. Das hat Vor- und Nachteile. Ich schwanke grad noch in der Interpretation und hoffe, dass ich in Bälde sagen kann, dass die Vorteile überwiegen. Da steckt ja auch einiges an Potential drin. Das hat man auch gestern Abend schon gesehen. Wir hatten seit längerem nicht mehr so viele Leute an der Uni auf dem Campus, die aktiv gesagt haben, welche studentische Politik sie haben wollen.

M: Aus Frankreich. Seid ihr in der Stimmung eines großen Erfolges hier hergekommen? Oder wie ist es für euch nach der CPE-Bewegung?

F1: Also, die Bewegung ist gestorben – aber lang lebe die Bewegung! Wie immer in solchen Lagen, kann man sagen: Was aussieht wie ein Erfolg, ist der Tod der Bewegung. Diese Tatsache ist für uns kein Problem, weil seit einigen Monaten sich in Frankreich irgendeine aufständische Stimmung entwickelt. Der Aufstand und die Praxis, die stattgefunden haben, werden deshalb sowieso wiederkommen. Jetzt ist es eine komische Lage. Viele Kerne, viele sehr entschiedene Kerne sind in der Bewegung geboren und keiner weiß genau, was jetzt zu machen ist. Die Gewerkschaften haben gesagt: „Wir haben gewonnen! – Die Bewegung ist zu Ende! – Beenden wir die Blockaden der Unis!“ Und solche Sachen. Das heißt, dass die Bewegung jetzt durch einige Gruppen und Kerne reduziert worden ist. Das ist die Lage jetzt.

M: Erzählt ihr beide uns vielleicht noch, welche Rolle ihr persönlich in der Bewegung gespielt habt.

F1: Also, ich war in Paris und Pierre war in Lyon und Rennes. Man kann von Paris sagen, dass trotz dem die Bewegung hier am stärksten war, sie nie über ihre Anfänge hinausgekommen ist. Jedoch hat es ein paar schöne Krawallnächte gegeben, wie man sie in Paris lange Zeit nicht gesehen hat. Die Polizei wurde angegriffen – es ist zu radikalen politischen Ausdrucksformen gekommen. In Paris hat sich alles auf die „Sorbonne-Sache“ reduziert. Die Sorbonne ist eine rote Zone geworden. Nach der Räumung der sehr kurz, aber entschlossen besetzten Uni haben sich an zwei Abenden um die 1000 Leute zusammengefunden. Mit Steinen, Mollis, mit [Kasken????] [um die Sorbonne zu befreien???]. Eine für Deutschland vielleicht traditionelle Sache, aber in Frankreich passiert das nicht so oft. Es wurde probiert das wirtschaftliche Leben zu blockieren und einen chaotischen Zustand herbeizuführen. Auf die Barrikaden zu gehen. Am 31. März, als Chirac im Fernsehen sagte, dass die Regierung den CPE konserviert, kam es zu einer unangemeldeten Demo, die mit 3000 Leuten acht Stunden lang nachts durch Paris zog und vorhatte zum Elysee[-Palast??? Oder Champs-Elysee???] zu gelangen. Es war eine „unheimliche“ Nacht: 3000 Leute die erst zur Nationalversammlung zogen, um zu versuchen da reinzukommen, dann zum Senat. Es hat zwar nie geklappt, obwohl wir jedes mal vor der Polizei angekommen sind. Danach sind wir nach [Nord – populäre Stadtviertel???]. Dort sind Zeitarbeitsfirmen zerstört worden, Banken, Western Union, McDonalds – nicht sehr originell. Um 2 Uhr nachts [kam es im „Rotlichtviertel“ Pigalle zu komischen Kommunikationen zwischen Prostituierten (Frauen von Pigalle) und der Bewegung???] haben wir entschieden zur Sacre Coeur zu gehen. Sacre Coeur ist das Symbol für die Reaktion nach der Pariser Kommune. 3000 Leute sind dann zur Sacre Coeur gestürmt, um zu versuchen sie niederzubrennen, begleitet von „Vive la commune!“-Rufen. Eine unvergleichbare, nie zuvor geschehene Aktion, die bis 4 Uhr morgens andauerte. Aber das waren auch die einzigen interessanten Sachen in Paris, viel spannender ist zum Beispiel von Rennes zu sprechen, dass in den Medien etwas ignoriert wurde, da die sich meist nur auf Paris bezogen. Das Interessante an der Bewegung ist, dass es überall in Frankreich Auseinandersetzungen mit der Polizei gegeben hat. In den meisten Städten haben Banlieue-Kids zusammen mit Studenten demonstriert. Selbst in Städten, in denen es seit 1945 keine Demonstrationen gegeben hat, gab es Aufstände. Doch dazu kann Pierre mehr berichten.

F2: In Paris gab es einen großen Unterschied zwischen dem, was in den Studierenden-Vollversammlungen geschehen ist – nämlich nichts – und dem, was auf der Strasse passiert ist. In Rennes gab es keinen Unterschied. Die Studenten haben erst die Uni blockiert, um dann die ganze Stadt zu blockieren. Die Praxis, die in den Vollversammlungen entschieden wurde, hatte ebenso Auswirkungen auf die Situation auf der Strasse.
In Rennes hat die Bewegung bereits sehr früh abgelehnt zwischen guten Demonstranten und schlechten Chaoten zu unterscheiden. Die Vollversammlung hat deshalb ein Transparent mit dem Schriftzug „Wir sind alle Chaoten!“ beschlossen. Der Staat probierte immer diese Trennung zu machen zwischen den offensiven aggressivem Teil der Demo und den friedlichen zurückhaltenden Pazifisten. Bis zu dem Punkt bei der letzten Demo in Rennes, wo die Pazifisten lautstark von der Demo vertrieben wurden, mit Sprechchören wie „Wir sind keine Pazifisten, wir sind im Krieg mit dem Kapitalismus!“. Das waren nicht nur einige Radikale innerhalb der Demo, sondern die ganze Studenten-Demo.
Dass dieses Transparent von allen bei der Vollversammlung beschlossen wurde, bedeutet nicht, dass alle dazu bereit waren sich konfrontativ mit der Polizei auseinander zu setzen. Man wollte damit eher Position beziehen gegen das staatliche Vorhaben die Bewegung in gute und böse Demonstranten zu spalten und dadurch zu schwächen. Dies war nämlich bereits 1994 bei einer anderen Bewegung in Frankreich passiert und deswegen hat man sich für die Strategie „Wir sind alle Chaoten!“ entschieden.
In Rennes gab es über anderthalb Monate lang, mehrmals wöchentlich Krawalle und Demonstrationen – es war schon Gewohnheit geworden. Im Laufe dieser Zeit wurde das paradoxe Verhalten der Pazifisten deutlich. Ihr Vorhaben die Polizei zu schützen, setzten sie mit gewalttätigen Mitteln durch. [???] Deshalb mussten sie nicht nur aus ideologischen Gründen von der Demo ausgeschlossen werden.
Inhalt der Bewegung war aber nicht nur die Auseinandersetzung mit der Polizei. Es hat eine zweite Ebene gegeben. Die Studenten haben ganz gut kapiert, anhand der Beispiele von vor einigen Jahren in Argentinien oder anderswo, dass es sich als die einzige effiziente Protestform erweist, das wirtschaftliche Leben zu blockieren. Die Studenten sind aus ihren Unis gegangen und haben angefangen Autobahnen, Bahnhöfe, Industrie, Post zu blockieren. Manchmal mit ganz interessantem Erfolg. Z. B. in Rennes sind die Studenten zur Postzentrale gegangen und reingekommen. Sie haben eine Vollversammlung mit den Angestellten gemacht. Der Boss von der Postzentrale wollte der Polizei die Räumung erleichtern und das Haus öffnen und ist dabei selbst von seinen Angestellten daran gehindert worden. Als Elitetruppen der Polizei angerückt sind, um die Postzentrale zu räumen, haben sich die Angestellten mit den Studenten zusammengeschlossen und es kam zu Prügeleien mit der Polizei.
In Deutschland kennen sie sicher Airbus. Die Leute in Toulouse haben die Airbus Industrie besetzt, auch der Flughafen wurde mit kleinen Sabotagen an der Start- und Landebahn behindert und somit das wirtschaftliche Leben erfolgreich lahm gelegt.
Nach diesen Blockadeaktionen hat der Staat gesagt: „Okay – CPE, kein Problem, wir nehmen es zurück.“

M: Vielleicht noch einmal zu Lyon.

F2: Innerhalb der Bewegung in Frankreich gibt es große lokale Unterschiede zwischen den einzelnen Städten. In Lyon herrscht ein eher rechtes, konservatives Klima und es gibt sehr große faschistische Pole [Nazis???]. Traditioneller Weise gibt es hier eine starke Bourgeoisie. Lyon ist eigentlich typisch dafür, dass hier nichts passiert. Die klassischen Formen der Bewegung sind nie überwunden worden.
Das größte Hindernis der Bewegung in Lyon war, dass sie die demokratische Praxis bei den Mehrheitsentscheidungen innerhalb der Vollversammlungen, die von den Bürokraten und Gewerkschaften kontrolliert wurden, respektierte und akzeptierte. Da haben Leute, die gegen Blockaden waren zusammen mit Leuten, die dafür waren, demokratische Entscheidungen treffen wollen. Als ob dies möglich wäre mit Leuten, die eigentlich Feinde sind. Dieser Fakt hat in den letzten zwei Wochen wirklich die Bewegung getötet.

F1: In Rennes z.B. gibt es eine Vollversammlung mit 4000 Leuten und da haben etwa die Hälfte der Leute für die Aufhebung der Uni-Blockade gestimmt, die andere Hälfte wollte trotz der Rücknahme des CPE die Blockade aufrecht erhalten. Im Endeffekt haben 100 Stimmen für die Aufhebung der Blockade entschieden. – Als ob 2000 Leute nicht genug gewesen wären, um die Uni für einen weiteren Monat zu blockieren.
In einer Kampfgemeinschaft ist vielleicht Demokratie möglich – aber es gibt keine Demokratie, wenn man keinen Unterschied zwischen Freunden und Feinden macht.
In Rennes haben die Leute entschieden weiterzublockieren, aber mit einem nicht so gutem Gefühl, da es eigentlich gegen die Wahl und den Beschluss auf der Vollversammlung war.

F2: Die Bewegung hat nicht begriffen, dass der Feind nicht nur die Regierung und das CPE-Gesetz ist, sondern auch innerhalb der Bewegung Leute wie Feinde gehandelt haben, z.B. Gewerkschaften, die gegen Blockaden und Besetzungen waren. Man wollte die Bewegung immer für möglichst viele offen halten und eine breitgefächerte Kraft sein und hat die dabei die bewegungsfeindlichen Kräfte in den eigenen Reihen übersehen.
Mit jemanden innerhalb der Bewegung zu diskutieren, der keine Bewegung will ergibt einfach einen Widerspruch. Das man das trotzdem tut, liegt, denke ich, daran, dass innerhalb jeder Bewegung das Ziel besteht einen Konsens mit allen finden zu wollen. Jeder fürchtet ein wenig den Punkt, wo sich innerhalb der Bewegung politisch entscheidet wer mit dir ist und wer gegen dich. Wir müssen davon wegkommen immer einen Konsens finden zu wollen.
Wir dürfen uns nicht davon entmutigen lassen, wenn die Gewerkschaften, „rechte Studenten“ und die Medien sagen, dass die Bewegung zu Ende ist. Das sollten wir hinnehmen und trotzdem weiter machen. Wir sollten deren widersprüchliche demokratische Sitten nicht akzeptieren. Da haben so viele Leute wie nie zuvor an der Abstimmung über das Ende der Blockaden und somit auch der Bewegung teilgenommen. Nur deswegen konnte von den Feinden „demokratisch“ entschieden werden, dass die Bewegung zu Ende ist.

M: Die Sendung habt ihr quasi mit dem Satz eröffnet: Es sei schon vor der CPE-Bewegung und erst recht danach festzustellen, dass durch Frankreich ein unterschwelliges Gefühl des Aufstandes geht. Jetzt in diesem Moment, um 16:54 Uhr am Freitag, den 21. April 2006 weht hier durch das Studio 1 bei FSK nicht nur ein scharfer Baustellenwind, sondern auch ein doch ziemlicher spürbarer Hauch der Pariser Kommune. Wie beschreibt ihr den Spirit des Aufstandes der in Frankreich in der Luft liegt? Wo kommt das her? Was sind die Zeichen? Wo liegen die Signifikanten?

F1: Vor fast einem Jahr hat es diese komische Sache gegeben, dass die gesamte politische Klasse und die Medien eine massive Kampagne für das EU-Referendum gemacht. Trotz der Kampagne haben die meisten Leute gegen das Referendum gestimmt.
M: Einspruch. Unter den Gegenstimmen sind doch auch viele nationalistische Abstimmende dabeigewesen.

F1: Jaja. Dies hat die Politik und die Medien in eine ganz schreckliche Lage gebracht. Sie scheinen länger nicht mehr nur das Interesse zu haben das alltägliche Leben darstellen zu wollen und sich darauf zu beziehen. [???hab ich nicht ganz gecheckt] Sie scheinen eher eine Partei im Bürgerkrieg zu sein. Sie sind keine neutrale Sache mehr, sondern eine Partei, die eigene Interessen verfolgt. Das ist der erste Grund für die Aufstandsstimmung.
Dann haben im November die Banlieues gebrannt. Man kann nicht sagen, dass dies dumme, unpolitische Aktionen waren – vielleicht war es die politischste Sache, die in den letzten Jahren in Frankreich passiert ist. Wer denkt Schulen, Kaufhäuser, Firmen – ganze Viertel niederzubrennen ist eine sinnlose, unpolitische Sache, der irrt sich gewaltig. Die politische Botschaft darin ist: überhaupt keine Forderungen zu stellen, sondern einen reinen Angriff auf ein System durchzuführen. Diese Geschehnisse im November haben die elementaren politischen Ausdrucksformen etwas erweitert: Dass auch brennende Dinge politisch sein können und Sinn machen. Ich denke dass die Studentenbewegung nicht so entschieden in ihrer Praxis gewesen wäre, wenn im November diese Erweiterung [Erhöhung] der elementar-politischen Ausdrucksformen nicht geschehen wäre. Man kann in vielen Städten nicht die November-Kids und die Schüler- und Studentenbewegungen trennen. In vielen Banlieues haben die Schüler ihre Schulen blockiert. Z. B. in Saint-Denis haben sie das ganze Stadtzentrum geplündert. Da gibt es wirklich einen Faden zwischen dem, was im November passiert ist und dem, was in der Studentenbewegung geschah. Leute, die verhaftet worden sind haben auf dem Revier Banlieue-Leute getroffen und die meinten „Ja, im November haben wir alles angebrannt und jetzt seid es ihr die alles anzünden. Ja, das ist gut. Machen wir so weiter“. Also es gibt eindeutige Zusammenhänge.
Was interessant ist, dass es in dieser Lage gibt es einen Aufstand, der keine Forderungen stellt. Die Politik ist vollkommen unfähig darüber zu sprechen. Denn keiner von den Parteien kann über die Lebensbedingungen sprechen – sie leben auf dem Mars, oder ganz woanders. Es gibt einen hier einen freien Raum in der krisenhafte Lage des politischen Systems in Frankreich für einen Aufstand [???das passt irgendwie nicht]
In einigen Ländern, z.B. in Italien, ist den Leuten das politische System scheiss-egal. Sie leben, machen ihr Geschäft, Politiker sind immer Witzfiguren gewesen, schlechte Schauspieler – wie in einem schlechten Film mit schlechten Schauspielern. In Frankreich ist das nicht so. Das politische System ist etwas ganz wichtiges. Jeder in Frankreich ist ganz politisch, hat eine politische Idee. Politik ist da nicht nur eine abstrakte Sache, sondern eine sehr reale Sache. In Frankreich heißt eine Krise des politischen Systems, eine Krise der ganzen Gesellschaft. Das ist nicht überall so.

M: Vielleicht lassen sie hier unmittelbar um 17:04 Uhr gleichen Datums, so ca. zehn Minuten später schon Schlussfolgerungen ziehen für beispielsweise die Entfaltungen des Kampfes gegen Studiengebühren auf einem darauf aufbauendem Niveau?

H1: Ich glaube schon, dass das was in den letzten Wochen in Frankreich gelaufen ist auch hier angekommen ist an den Universitäten. Erst einmal vom Informationsgehalt her. Das ist ja jetzt mittlerweile die dritte oder vierte Veranstaltung mit Franzosen, ob es jetzt über den Sender läuft, oder eine Veranstaltung an der Universität ist. Die Veranstaltungen letzte Woche waren sehr gut besucht und ich glaube schon das, was ich grad eben auch spüre, man hört schon das, was ihr Franzosen erzählt und entdeckt gewisse Anknüpfungspunkte. Man hat schon so irgendwie die Lust und den Willen das zu übertragen hier auf Deutschland, was in der Form überhaupt nicht geht. Aber ich glaube, dass das so einen gewissen Kick gibt für uns und dass uns das zeigt, das gewisse Dinge möglich sind, die wir überhaupt nicht geglaubt haben und so. Man darf auch nicht vergessen Frankreich ist direkt neben Deutschland. Das ist überhaupt nicht weit weg und die Geschichten, die man hört, die klingen wie vom andern Stern. Aber wir müssen halt merken es passiert direkt vor unserer Haustür und wir machen diese Verhältnisse, wenn wir wollen. Vielleicht schaffen wir das ja auch. Vielleicht noch kurz ein paar Termine. Wir haben ja an der Universität Hamburg die französischen Wochen ausgerufen. Da findet nächste Woche Donnerstag um 16 Uhr ein Barrikadenbau-Workshop statt. Ein Wettbewerb. Jeder der Lust hat, kann sich beteiligen. Wir haben einiges an Material da. Bringt mit, was ihr habt an Holz, an etc-Materialien. Wir werden dann einfach mal schauen, was wir verbarrikadieren und wie wir die dann stürmen. Ich habe auch gehört, dass hier gestern Nacht der Campus an der Universität mal wieder gebrannt hat. Dass hier ein Feuer war und die Polizei und die Feuerwehr letzte Nacht löschen mussten. Ich glaube das ist schon ein Zeichen dafür, dass wir hier in Hamburg noch längst nicht am Ende sind mit unseren Kämpfen. Wer Lust hat sich hier an der Universität hochschulpolitisch zu betätigen [Termin nicht so interessant, oder]

H2: Was ich auch denke bezüglich Frankreich. Wenn du auch sagst, dass die Rücknahme des CPE irgendwo auch der Tod eurer Bewegung ist, so ist hier in Deutschland auf jeden Fall angekommen, dass der CPE zurückgenommen wurde und dass dies ein Erfolg ist. Ob das nun ein Teilerfolg ist oder ein Gesamterfolg, das sei dahingestellt. Es ist auf alle Fälle ein Riesenerfolg, dass ein Gesetz, was schon beschlossen war, wieder zurückgenommen wurde. Ich glaube das ist das was hier in Deutschland richtig ankommen muss. Wenn wir uns die Studentenproteste angucken, dann entdecke ich eine riesengroße Resignation. Ein Gefühl von „Wir können es ja sowieso nicht ändern“. Das bricht Frankreich gerade elementar auf. Diese Hoffnung wenn wir uns wirklich zusammenschließen und versuchen zu kämpfen, können wir auch Erfolge haben. Wie du gerade sagtest, dass die Wirtschaft blockiert wurde und dann das eben zurückgenommen wurde. Ich denke auch dass das eben der Weg ist hier in Deutschland, speziell auch für uns hier in Hamburg Druck auszuüben. Wir haben jede Menge Angriffspunkte hier in Hamburg. Wie wir schon immer gesagt haben: Ein Streik der Studenten ist nicht nur dazu da den Uni-Betrieb lahm zu legen sondern der Uni-Betrieb steht still, damit Zeit ist für genau solche Aktionen. Das werden wir wohl vorhaben und durchziehen wollen.

F2: Wenn es einen Erfolg der Bewegung in Frankreich gibt, dann ist es der Erfolg derer, die Bewegung wirklich gelebt haben. Die, die im Knast waren und die, die offensiv auf die Strasse gegangen sind. Für die gibt es keine Rückkehr zum vorherigen Zustand. Das ist die wichtige Sache. Das Ende mit der Rücknahme des CPE ist nichts im Vergleich zu der subjektiven Tatsache, dass wir jetzt nicht dieselben sind, wie zuvor. Irgendwas hat begonnen und soll auch weitergehen.

H2: Da finde ich ganz wichtig, was du auch uns gesagt hast. Dass ihr hierher gekommen seid, um eine Vernetzung stattfinden zu lassen, zwischen Frankreich und Deutschland. Da die Sachen für die wir kämpfen, eigentlich in beiden Ländern da sind. Dass alles EU-weit passiert, wenn nicht sogar weltweit. Dass gerade mit dem Zusammenschluss unserer Bewegungen die größte Stärke liegen kann und wir Erfolge erzielen können. Ich denke, da machen wir heute wieder einen weiteren Schritt, in dem wir uns austauschen. Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit, denn wir brauchen ein wenig von eurem französischen Geist, das will ich wohl zugeben.

[Terminhinweis]

Werdet Fördermitglied bei FSK, damit auch der Geist der Kommune immer fleißig durch die Stadt rauschen kann.
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Nachtrag:

Sonderausgabe des Nachmittagsmagazins für subversive Unternehmungen vom

Samstag, den 22.04.06, 19:00 Uhr

M: Zu Gast sind heute noch mal unsere beiden Freunde aus Paris und Rennes bzw. Lyon. Wir haben ja gestern bereits ausführlich über die bambulistischen Aktivitäten innerhalb der CPE-Bewegung gesprochen. Wir haben von eurer nächtlichen Demonstration zu Sacre Coeur, von eurem Angriff auf dieses Symbol der Konterrevolution gehört. Es haben sich im Anschluss an dieses Gespräch noch ein paar Fragen ergeben, die wir jetzt kurz besprechen wollen.
Ihr habt heute ein Plakat mitgebracht: „Vorbei mit der Apathie! Es lebe die Kommune!“ In den Geschichten, die ihr erzählt habt, lebt der Geist der Kommune in einer Weise, dass jemand, der in den letzten Jahren teilnehmend oder beobachtend in Hamburg unterwegs war, sich an Bambule und bambulistische Aktivitäten erinnert fühlt. Es gibt auch einige Besonderheiten, z.B. die Banlieue-Kids über die wir dann gestern nach der Sendung noch gesprochen haben. Ihr habt davon berichtet, wie die Banlieue-Kids durch die organisierten Strukturen regelrecht in die Auseinandersetzung mit der Polizei getrieben worden sind. Erinnert ihr euch noch an diese Gesprächspassage?

F1: In Frankreich wird seid November viel über die Leute aus den Banlieues gesprochen. Viele Soziologen sind in die Banlieues gegangen und haben Gespräche mit den Leuten geführt, um herauszufinden wo die Gründe für die Aufstände liegen, wie die Leute wirklich leben, was sie wirklich sagen, wie sie wirklich denken. In der Öffentlichkeit wird offensichtlich in einer soziologischen Weise über die Banlieue-Bewohner gesprochen. Oft in einer Art und Weise die Ereignisse nicht zu verstehen, obwohl sie eigentlich ganz einfach zu verstehen sind. Die Gewerkschaften und andere Leute scheuen sich viele Dinge in Frage zu stellen [?] und können nicht nachvollziehen, warum die Leute Sachen zerstören. Dabei gibt es viele Gründe dafür.
Nach den Angriffen von Banlieue-Kids auf die Studentendemonstration gab es in den Medien eine große Kampagne, welche die Leute als Barbaren darstellte, die nur Zerstörung wollen und gegen die Demonstration sind . Wenn man aber die Lage in Paris einige Tage zuvor ein bisschen analysiert, wird deutlich, dass durch die Gewerkschaften bereits deutlich eine Trennung zwischen „Chaoten“, [also Autonome, Schwarzer Block], Demonstranten, die sich mit der Polizei auseinandersetzen, kämpfen wollen und dem Rest der Demo verfolgt haben. Zwei Tage zuvor haben die Gewerkschaften die Demo vor den Banlieue-Leuten „geschützt“, d. h. sie haben Ketten gebildet, um die Leute nicht auf die Demo zu lassen. Sie haben einfach alle Schwarzen, die sich ja offensichtlich ganz einfach identifizieren lassen, nicht zur Demo durchgelassen. Das ist viermal an diesem Dienstag passiert. Es waren viele Leute aus den Banlieues gekommen, das es in den Tagen zuvor schon große Auseinandersetzungen mit der Polizei gab. Die Gewerkschaften haben während der ganzen Demo Ketten gebildet, um die physische Trennung der Leute aufrechtzuerhalten. Die Banlieue-Leute und der „Schwarze Block“ [evtl.: Autonome] liefen also separat am Anfang der Demo. Zum Schluss ist dann die geschlossene Gewerkschaftsdemo in einer kleinen Strasse einfach links abgebogen und in eine andere Richtung gegangen und hat die Banlieue-Leute und den „Schwarzen Block“ mit den Spezialtruppen der Polizei und Zivilpolizisten allein gelassen. Da kann man ganz gut verstehen, wenn zwei Tage später die Leute von überall aus den Banlieues kommen und etwas gegen die Studentendemo haben, die auch von den Gewerkschaften organisiert war. Ca. 200 Leute aus dem „Schwarzen Block“ haben versucht aus dieser Demo rauszukommen. Da haben sie wieder innerhalb von fünf, zehn Sekunden Ketten gebildet, damit keiner mit uns kommt. Und auch, damit wir nicht mehr zurück in die Demo kommen. Die Trennung zwischen der „Bewegung“ und anderen, „unkontrollierten“ Leuten ist bewusst und aktiv von der „Gewerkschafts-Polizei“ durchgezogen worden. Und dann sagen alle Journalisten, sie verständen nicht, warum die Studentendemo attackiert wurde. Doch das versteht jeder.

M: Du hast gezeigt, wie die Organisationen der Demoleitung dafür gesorgt haben, dass die Banlieue-Kids, zwei Tage vor diesen Angriffen, in die direkte Konfrontation, in die Falle gegenüber der Polizei geleitet worden sind. Du hast damit auf die Quellen verwiesen, wie die Konfrontation zwischen den organisierten politischen Strukturen und den Banlieue-Kids zustande gekommen sind.

F1: Man muss dazu sagen, dass es diese Trennung durch die Demoleitung nur in Paris gegeben hat und da auch nur an diesem Dienstag. Vorher, z.B. bei der Sorbonne-Besetzung haben alle zusammen gekämpft. Es gab gemeinsame Aktionen auch mit Leuten, die Wände besprühten, Steine oder Mollis werfen. Es gab eine direkte Kommunikation zwischen allen Arten von Leuten. Man braucht also nicht über die Banlieue-Leute als irgendein unverstehbares, besonderes soziales Subjekt zu forschen.
In anderen Städten, wo die Gewerkschaften nicht in der Lage waren, die „Bewegung“ zu trennen, da ist gar nichts dergleichen passiert. In Rouen [richtig?] z.B. hat es mehrere Krawallnächte gegeben und in einer besonderen Nacht, nach welcher die Medien von einer „Stadt-Guerilla“ sprachen, wurden viele Geschäfte geplündert, Schaufensterscheiben zerschlagen und die Polizei wurde angegriffen. Hier konnte auch nicht unterschieden werden [es gab keine Trennung] zwischen Studenten, Banlieue-Kids, Alkoholiker oder Obdachlosen. Eine starke gemeinsame Kraft.

M: Du hast im Gespräch gestern allgemein zwei Lebenswelten beschrieben. Einerseits revolutionäre Linke, andererseits Banlieue-Kids.

F1: Unter den Linksradikalen in Frankreich herrscht der Mythos von den Banlieue-Bewohnern als das neue Proletariat, als „Subjekte des Endes vom Kapitals“ [?]. Die Linksradikalen verhielten sich im November sehr distanziert zu den Aufständen in den Banlieues. Sie waren so erstaunt von dem Niveau der Offensive, dass sie nicht auf die Idee kamen an den Aufständen teilzunehmen, indem sie z.B. Anschläge auf Orte oder Dinge ausüben, die sie wollen und ihre eigenen Inhalte so zu vermitteln [das könnte man besser formulieren!!!]. Sie sind stattdessen so verwundert und erstaunt geblieben und wollten lieber nur bei den Gerichtsprozessen die verhafteten Banlieue-Leute unterstützen. Sie waren wie ein Hund der der Geschichte und den Vorstellungen von Proletariat hinterherläuft. [???] Die ganze ideologische Welt der Linksradikalen ist explodiert und zu Grunde gegangen und sie bemerken „Oh, das ist eine neue Phase der Geschichte, die nicht mit uns läuft.“ Was in den Banlieues passierte, hat sich jeder Linksradikale gewünscht. Doch haben sie es nur geträumt und die anderen haben es einfach gemacht. Ich denke, dass die Linksradikalen jetzt peu a peu verstehen werden, dass sie wegkommen müssen von ihrer Ideologie und zu einem pragmatischen, realistischem [Weltbild?] gelangen. Es gibt jedoch keine Vernetzung zwischen Linksradikalen [Spiessbürgern?] und Banlieue-Leuten, sondern es bestehen nur Phantasiebilder über die jeweiligen anderen.

F2: Unter Linksradikalen herrschte bisher meist ein eher abschätziges Bild von den Leuten aus den Banlieues. Es sei unpolitisch was die Leute da machen, sie verhielten sich mit ihren kriminellen Geschäften und Deals wie Kleinkapitalisten. Es ist scheisse und hat keinen Inhalt. Andere wiederum sagen, es sei übermäßig politisch, was sie machen, es sei toll – jedoch wurden die Leute immer aus der Distanz, aus Vorstellungen über sie, heraus bewertet. Während der Anti-CPE-Bewegung hat man dann zusammen gegen die Polizei gekämpft und es hat sich gezeigt, dass es eine Sache der Praxis ist und nicht eine der Identität [?].

M: Gestern meintet ihr bei der Beschreibung der Banlieue-Aufstände: Das radikalste und politischste daran war, dass sie keine Forderungen hatten.

F1: All diese Angriffe im November auf Schulen, Supermärkte, die Polizei sind wortlos passiert. Ohne Parolen, ohne Flugblätter. Mit dem Staat nicht zu sprechen, bedeutete hier „Wir haben keine gemeinsame Sprache“. In diesem Zusammenhang sind dann komischerweise die Forderungen vom Staat gekommen. Nach drei Wochen Aufständen hat der Staat gesagt „Ah, diese Leute machen das, weil sie mehr Schulen wollen (obwohl sie diese niederbrennen), sie wollen mehr Geld für kulturelle Vereine (obwohl sie diese auch attackieren), sie wollen Arbeit.“ Das CPE-Gesetz ist unheimlicher Weise als eine Antwort auf die Ereignisse im November gedacht worden. [?]
Soziale Bewegungen in Frankreich stellen eigentlich immer Forderungen. Die Tatsache etwas vom Staat zu fordern, bedeutet automatisch, dass man sich unterordnend als „Schwacher“ unter den Staat stellt. Dabei ist das Gegenteil zu machen: Wenn man etwas will, sollte man nicht sagen „Ich will das!“. Dann wird der Staat sagen „Äh, was wollen sie?“
Nach dem November wurde ganz viel Geld in die Banlieue-Viertel gesteckt. Die Beamten der Arbeitsämter haben die Anordnung bekommen, die Leute nicht mehr aus der Sozialhilfe zu werfen, sonst könnte es Probleme geben und die Lage wieder verschärfen. Die Banlieue-Leute haben also je mehr gewonnen, desto weniger sie danach gefragt haben. Dies ist meines Erachtens eine sehr wichtige Sache, die es zu verstehen gilt.

M: Ihr habt gestern auch über die Koordinationszusammenhänge innerhalb der CPE-Bewegung gesprochen. Ihr habt dabei festgestellt, dass diese das Terrain von politischen Funktionären sind.

F1: Wenn man die gesamte Lage beschreiben will, gibt es erst einmal die gesamten gewerkschaftlichen Strukturen, die für die ganze Bewegun

Kommentare
10.06.2006 / 20:10 RDL, Radio Dreyeckland, Freiburg
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