"Gut aufgestellt" und "Hausaufgaben gemacht" -- Die Renaissance des schaffenden Kapitals

ID 28266
 
Ein längerer Kommentar der Redaktion SACHZWANG FM zu deutschen Wortmonstern wie "Autobauer", "Heuschrecken", "Realwirtschaft", "Rettungsschirm"; über "gesunde Familienunternehmen" und eine "gut aufgestellte" Wirtschaft; Politiker, die ihre "Hausaufgaben gemacht" haben; Banken, die "Spielregeln" brauchen; Betriebe, die nicht "im Regen stehen gelassen" werden dürfen; andere, die "ihre Schäfchen ins Trockene bringen" sollen. Über Grippen, Krisen, Seuchen und übertretende Flüsse, die immer aus dem "Ausland" kommen.

Des weiteren wird beleuchtet, was es mit einer "Krise als Chance" auf sich haben kann, ob man "den Kapitalismus reiten" und ob man "gestärkt aus der Krise hervorgehen" kann. "Wir alle haben über unsere Verhältnisse gelebt." (Bundespräsident Köhler)

Ach ja, nebenbei wird noch der Kapitalismus erklärt und analysiert und kritisiert.
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33:41 min, 19 MB, mp3
mp3, 80 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 23.06.2009 / 17:59

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Arbeitswelt, Kultur, Politik/Info
Serie: Sachzwang FM
Entstehung

AutorInnen: Dr. Indoctrinator
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 01.06.2009
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
DIE RENAISSANCE DES SCHAFFENDEN KAPITALS

Schon mehr als einmal hat man sich als Fernsehzuschauer sicher auch schon vor der manifesten Krise gefragt, warum seit einiger Zeit selbst in halbwegs seriösen Nachrichtenmagazinen wie der Tagesschau nicht mehr von Autofirmen, Autofabrikanten oder Automobilkonzernen die Rede ist, sondern im Sandkastensprech von „Autobauern“. Doch genaueres Hinhören offenbart, daß damit eben nicht General Motors, Ford oder Toyota gemeint sind, sondern Audi, Mercedes, VW, Opel und BMW, eben die deutschen. Konzerne, das ist doch sowas überdimensioniertes, großes, kaltes, anonymes, das sind die anderen. Die produzieren Autos ja nur zum Zwecke des Profits. Aber die Deutschen, das sind „Autobauer“, schaffende quasi. Was man zunächst als verbalen Ausrutscher hätte einstufen können, hat seit längerer Zeit System. Die neue deutsche Sprachregelung zeigt, wie gedacht wird: Opel ist ein „Autobauer“, General Motors der „Mutterkonzern“, eine Rabenmutter quasi, Kapitalismus findet in den USA statt. Diese Sprache ist in übelstem Maße dazu angetan, einer emotionalen Sicht auf das kapitalistische System Vorschub zu leisten. Um gute und böse Mitspieler definieren zu können, um nicht übers Spiel selbst reden zu müssen.
Und mit Kategorien wie diesen wird ja das ganze Treiben verniedlicht. Ausnahmslos alle Parteien, nicht nur die der Mitte, beklagen seit jeher, daß doch dem „Mittelstand“ geholfen werden müsse. Hier wird nämlich noch redlich gearbeitet, geschafft.

„Wir definieren den wirtschaftlichen Mittelstand als diejenigen, die Unternehmen selbst leiten. Also alle vom Inhaber selbst geführten Unternehmen, unabhängig von der Unternehmensgröße.“

Da sind „gesunde“ „Familienunternehmen“, die ganz vergessen lassen, wie repressiv die „Sozialpartnerschaft“ doch im Mikrokosmos dieser Arbeitshäuser tagtäglich praktiziert wird. Solchermaßen „gesunden Betrieben“ können natürlich nur Krankheitserreger von außen etwas anhaben. Und nach landläufiger Meinung und oberflächlichster Evidenz „kommt“ die Krise ja auch aus den USA. Man erinnere sich an die ersten Verlautbarungen der Bundesregierung, nach denen kein Grund zur Beunruhigung bestehe: Die deutsche Politik habe ihre „Hausaufgaben gemacht“, die „heimische Wirtschaft“ sei „gut aufgestellt“. Das Vokabular ist nicht zufällig und nicht bloß dämlich: gut aufgestellt ist man in einer Kadettenanstalt, also beim Militär, das brave, streberhafte Machen der Hausaufgaben ist nur eine der autoritären Metaphern aus der Schule. Beides gemahnt an äußerst unmündige Milieus, die in Deutschland (oder wo sonst noch ergeht man sich in solchem Jargon?) offenbar Vorbildcharakter haben. Gut aufgestellt, wie Zinnsoldaten aus Bismarcks Zeiten – von der phallischen Konnotation ganz zu schweigen. „Gut aufgestellt“ implizierte dann doch recht eigentlich – und mit einer unüberhörbaren Portion Schadenfreude –, daß andere eben „nicht gut aufgestellt“ seien, also quasi selbst Schuld an der Krise. Ein weiterer Schatz aus der Grabbelkiste infantiler Sprache sind die „Spielregeln“, derer das Bankgewerbe angeblich ermangele. „Spielregeln“, so die gängige Kindervorstellung, kann man nach Belieben setzen, und dann sind sie von jedermann zu akzeptieren.
Eine einzige Verharmlosung: Was man da alle Jahre wieder, alle Weltwirtschaftskrisen wieder mit neuen Spielregeln zu bändigen versucht, ist kein Spiel. Sondern ein gigantischer Menschenversuch, der seit Jahrhunderten andauert. Hatte man nicht gelernt, den „totalitären“ Staatssozialismus als (gescheiterten) Menschenversuch zu diskreditieren? Dabei war doch auch er schon nur ein Reflex auf die immanenten Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft. Die Reaktion auf marktwirtschaftlich produziertes Elend einen Menschenversuch zu nennen, nicht aber den marktwirtschaftlichen Menschenversuch selber, ist allerdings ein Kunststück, das vom Unwillen oder aber der Unfähigkeit zeugt, dialektisch zu denken.
Man hat doch schon alles ausprobiert, um dem Kapitalismus ein menschliches Antlitz zu geben: einen Völkerbund, eine UNO, einen Keynes, einen IWF, eine Weltbank. Und immer ging es um „Spielregeln“ und Fairneß und so weiter. Trotzdem wankt die Wirtschaft wie nie zuvor. Jedem denkenden Menschen müßte dies als Beleg dafür dienen, daß das System eben nicht kontrollierbar ist, eben nicht menschlichen Zwecken dient, eben nicht reformierbar ist: Man erinnere sich, welche Folgen die letzte vergleichbare Weltwirtschaftskrise nach 1929 zeitigte.
Das kapitalistische System hat sich bekanntermaßen über Jahrhunderte herausgebildet. Was Globalisierungsgegner nicht wahrhaben wollen, daß nämlich bereits vor einem Vierteljahrtausend ein beträchtlicher Handel auch international und interkontinental getrieben wurde und daß die sog. Globalisierung eben kein neues Phänomen ist, sondern zum Fortschritt der Menschheit genauso notwendig dazugehört wie zur Genese seiner falschen Ausprägung, – kurzum: diese bleierne, ewig und alternativlos scheinende Präsenz des Kapitalismus – ist anderen wiederum Grund dazu, diese Gesellschaft für die einzige und damit beste aller Welten, wenn nicht gar für naturgegeben zu halten. Und so reden sie schon jetzt, da nach einhelligem Urteil der Wendepunkt (geschweige denn ein Ende) der Krise noch gar nicht abzusehen ist, davon, Ziel müsse es sein, „gestärkt aus der Krise hervorzugehen“. Da spukt dieselbe Binnenlogik, die auch noch die absurdesten Menschenopfer in militärischen Schlachten zu relativieren und zu eskamotieren trachtet, wenn sie nur geringer sind als die des Gegners.
„Gestärkt aus der Krise hervorgehen“, als wäre das totale Klemmen der gesellschaftlichen Reproduktion eine reguläre Verschnaufpause, vergleichbar der Halbzeit bei einem Fußballspiel. „Gestärkt aus der Krise hervorgehen“ – gerade so, wie man gewaschen aus der Badewanne steigt; oder porentief erfrischt aus dem Schwitzkasten einer Sauna. Das katastrophische Mysterium der bürgerlichen Gesellschaft als Jungbrunnen, darauf muß man erstmal kommen. Das können vor allem diejenigen liberalen Ideologen, die ohnehin vermeinen, den Kapitalismus reiten zu können. Schon, als das selbstgenügsam-selbstzweckhafte System sich im 18. Jahrhundert herauszubilden begann, ohne jedoch bereits totalisiert zu sein, faselten sie, die Ideologen der Nationalökonomie (heute: Volkswirtschaftslehre) davon, das System sei zwar anonym und folge seinen eigenen, nicht kontrollierbaren Regeln; diese seien doch aber letztendlich nur dazu da, den Menschen über den Umweg der Marktwirtschaft Gutes zu tun. Ihren Bedürfnissen sei am besten gedient, wenn diese am Markt als Nachfrage auftreten. Das unbewußt konstituierte System wurde also wissenschaftlich eingehegt und ideologisch umwoben, so als sei es irgendwann vor Jahrhunderten gezielt entwickelt und installiert worden, um Gebrauchswerte via Tauschwert zu produzieren. Dabei verhält es sich genau umgekehrt. Nicht Karl Marx, den man ja aus Gründen der Befangenheit noch ignorieren und verdrängen könnte, sondern niemand anders als die Krise selbst zeugt davon, daß die Kapitalakkumulation eben nicht Mittel zur Gebrauchswertproduktion ist, sondern – umgekehrt – Zweck der ganzen Veranstaltung. Wer dies ausspricht, wird seit 150 Jahren Miesepeter, Marxist oder (was das lustigste ist, stellt es doch die Sache auf den Kopf) „Ideologe“ genannt. Die Existenz von Wörtern wie Krise und Sachzwang, der Sachverhalt des schon immer verselbständigten Weltmarkts deutet darauf hin, daß faktisch schon längst die Produktion die abhängige Variable der Kapitalverwertung ist, nicht ihr Zweck. Wer DAS nicht wahrhaben will, darf mit Fug und Recht ein Ideologe genannt werden. Wer aber „gestärkt aus der Krise hervorgehen“ will, blamiert sich als Wortführer der Politikillusion, daß immer noch der Tauschwert Mittel zum Zweck des Gebrauchswerts sei. Wer den Kapitalismus reiten möchte, findet sich schließlich mit blauen Flecken als Rodeo wieder.

Jedenfalls stellt sich die pikante Frage, wie der Staat, an dem nach der Implosion der privaten Kreditwirtschaft alle Forderungen und Hilferufe kleben bleiben, zu handeln gedenkt. Jeder hätte gern einen „Rettungsschirm“, wie er schon im Herbst 2008 mit exorbitanten Summen für das Kreditwesen bereitgestellt worden war. Dabei ist „Rettungsschirm“ ein veritabler Kandidat für das Unwort des Jahres: Ist damit ein Fallschirm gemeint, der den Aufschlag auf den Boden der marktwirtschaftlichen Tatsachen nur verzögert und etwas abmildert statt ihn aufzuhalten? Oder ist damit ein Regenschirm gemeint? Ganz nach der dummdeutsch naturalisierenden Devise, man dürfe fleißige Unternehmen und Betriebe „nicht im Regen stehen lassen“; andererseits müßten diese aber auch ihre „Schäfchen ins Trockene bringen“. Wie auch immer, es ist ein müßiges Kurieren an Symptomen.

„Der Markt kennt keine Gnade. Der Staat kann vielleicht das Überleben von Marktteilnehmern sichern – kurzfristig; aber kann er langfristig dafür sorgen, daß mehr Menschen Opel kaufen?“

Und die Metapher, daß die Wirtschaft als Niederschlag dem Wetter ähnele, verweist immerhin auf das tiefere Wissen – eher noch ein Ahnen –, daß die Marktwirtschaft ja als unkontrollierbarer Selbstläufer auch quasi-Natur ist, „zweite Natur“.
Alle blicken also auf den Staat, wie nach 1929 schon. Was er auch tut, die aktuelle Situation ist dazu angetan, den ideologischen Kokon, der die nackten ökonomischen Interessen mit dem moralischem Blendwerk der „sozialen Marktwirtschaft“ ummantelt, aufzusprengen. Beispiel Opel.

„Unser Wirtschaftssystem wackelt. Hart bleiben? Oder eine Ausnahme machen? Alleine schafft es Opel nicht.“

„Hinter dicken Mauern prüft ein geheimes Gremium den Geldbedarf von Opel. Soll eine marode Automarke, die alleine auf dem Markt nicht überlebensfähig ist, vom Staat gerettet werden?“

Wie auch immer man hier handelt, es werden Illusionen zerschlagen und es wird ein Präzedenzfall geschaffen:
Hilft man der maroden Firma, so käme das einem Eingeständnis gleich; man desavouiert die neoliberale Litanei, die man doch jahrzehntelang und mit beachtlichem Erfolg in die Köpfe der Bevölkerung gehämmert hat. Billig wird das nicht, und vor allem: Es wird unerwünschterweise die Runde machen, daß sich Verlierer auf den Staat verlassen können und der knallharte Liberalismus so ernst nun doch nicht gemeint gewesen sei. Denen, die dann rufen „Das ist ja Sozialismus!“, wird übrigens ganz zurecht gekontert, daß das natürlich Unfug ist, denn dann müßten gut funktionierende Wirtschaftszweige vergesellschaftet werden, nicht defizitäre.
Hilft man dem redlichen „Autobauer“ aber nicht, so werden Millionen enttäuschter Staatsbürger (allerdings, ohne daß dies weitere Folgen haben müßte) mitansehen müssen, daß man die zehntausende armen Arbeitnehmer im Regen stehen lasse. So sei das nunmal in der Marktwirtschaft; wo man gewinnen könne, müsse es auch Verlierer geben.
Die geniale Lösung in diesem peinlichen Dilemma ist, was man seit einem halben Jahr erlebt. Da jede der beiden Alternativen inakzeptabel ist, versucht man besinnungslos die Situation zu verlängern in der Hoffnung, das öffentliche Interesse werde sich schon legen. Die Betroffenen können einfach noch länger zappeln, mental sind sie ja ohnehin schon der ideelle Gesamtautobauer: „Wir sind Opel.“ Und „Du bist Deutschland.“

Und dann gibt es da noch die, die gegen jegliche staatliche Eingriffe plädieren – aus durchaus dogmatisch zu nennenden Gründen. Ihr Schlagwort heißt „Wettbewerbsverzerrung“ und zeugt von einem höchst originellen Begriff von Gerechtigkeit.

„Ich glaube schon, daß es ein ordnungspolitischer Sündenfall wäre. Weil es dazu führen wird, daß Opel einen Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Wettbewerbern hat.“

Warum eigentlich wolle man – völlig willkürlich – ausgerechnet dem Ertrinkenden helfen und nicht den Schwimmenden oder Umstehenden? Wenn man hilft, dann bitteschön allen. Konsequenterweise sind nach dieser Gebetsmühle des dogmatischen Liberalismus auch Entwicklungshilfe oder andere Sozialtransfers „Wettbewerbsverzerrung“ und haben somit zu unterbleiben.
Propaganda vom selben Schlage, nur hemmungsloser, spricht gar von der „Krise als Chance“. Wer so redet, gehört offenbar nicht zur überwiegenden Mehrheit der sich in der Objektrolle wiederfindenden Wirtschaftssubjekte.

„Krisen sind immer Prozesse, in denen Strukturbereinigungen stattfinden und in denen sie auch stattfinden müssen.“

„Wichtig wäre es, jetzt überhaupt wieder einen Ruck durch die Gesellschaft zu bringen.“

Die Herrenreiter, die so tönen, möchten wie eh und je, daß noch mehr und noch asketischer gearbeitet werde. Als ginge es eben nicht gerade darum, sich endlich zu besinnen. Eine Krise als Chance: wenn dem so wäre, müßte man ja künstlich „Krisen“ herbeiführen, um Chancen zu erhöhen. Der propagandistische Unfug liegt offen zutage. Wie schon ein Bundespräsident Herzog in kaiserlichem Duktus polternd den Deutschen einen „Ruck durchs Land“ verordnete, möchte auch der aktuelle Amtsinhaber Köhler dem Tadeln in nichts nachstehen. Er entblödete sich nicht, die Arbeitgeberphrase, „wir alle“ hätten „über unsere Verhältnisse gelebt“, wiederzukäuen. Und dies sei die wahre Ursache der Krise. „Man stellte Wechsel auf die Zukunft aus und versprach, sie einzulösen.“ Mit einem Rest von Verstand jedoch muß jedem einleuchten, daß eine ganze Gesellschaft schlechterdings nicht „über ihre Verhältnisse leben“ kann. Es KANN gar nicht mehr konsumiert werden, als zuvor produziert worden ist. Der ganze monetäre Wasserkopf, früher nannte man das ganze mal Überbau, dessen Existenz mit der Warenproduktion nach systemischen Gesetzmäßigkeiten einher geht, bedingt diese zwar – immanent betrachtet – erst, der Konnex ist dennoch einer in den Köpfen der beteiligten Subjekte.
Man kann gar nicht die Zukunft anpumpen, man pumpt immer jemand anders an; logischerweise, notwendigerweise und immer: im Hinblick auf die Zukunft. Aber die Zukunft höchstselbst kann und wird nichts eintreiben.

Wie kam es dennoch zur großen Krise?

Auf den ersten – positivistischen – Blick sind an der Krise nur ganz konkrete Machenschaften, Mißstände und Missetäter schuld:

- Zwei „unverantwortliche US“-Immobilienbanken, die jahrelang Kredite an Schuldner von zweifelhafter Bonität vergeben haben und nun quasi pleite sind. Schlichten Gemütern aller Länder kommen Schlechtwetterwolken, Schweine- und Vogelgrippen, Maul- und Klauenseuchen, Bankenkrisen, übertretende Flüsse und Schwerkriminelle sowieso immer aus dem „Ausland“.

„Wir waren nicht die Ursache dieser Krise. Weder die dt. Unternehmer, noch die Mittelständler, noch die dt. Politik, sondern wir sind eher Opfer denn Täter in dieser Krise; aber sie erwischt uns.“

„Und es ist halt so: der Amerikaner verlangt immer mehr, das ist ein Faß ohne Boden. [...] Die Sparziele aus Detroit werden noch weiter in die Höhe geschraubt. Kann Opel die Vorgaben der Amerikaner erfüllen?“

„Doch seine Geduld ist zuende. Er hat eine einfache Gleichung aufgemacht: Die Probleme von Opel sind in Wahrheit die Probleme von General Motors. Also muß sich Opel von den Amerikanern lösen.“

- Böse sog. Hedgefonds, die der deutsche Volksmund und sein Mundwerk Müntefehring im 21. Jahrhundert nicht mehr „Geldjuden“ nennt, sondern „Heuschrecken“.

- Manager, denen das Geld, die Rendite, wichtiger sei als „die Menschen“ – während die, die so daherreden, gerade so tun, als sei dies nicht seit Jahrhunderten notwendiges Kennzeichen der bürgerlichen Gesellschaft, ihres ökonomischen Systems und der erschlagenden Mehrheit seiner Insassen, sondern ein kontingentes Merkmal einer bestimmten, jetzt endlich dingfest zu machenden sozialen Kaste.

- Immerhin wird die Krise der Gesellschaft mittlerweile eine der Wirtschaft (was sie zweifelsohne ist) genannt. Noch vor einem halben Jahr hörte und las man jedoch ausschließlich von einer Finanzmarkt- oder Bankenkrise, als wenn man es mit einer Marginalie zu tun gehabt hätte.

Aber an der Oberfläche wird nicht gekratzt. Die Frage, warum die Manager und Heuschrecken und Immobilienbanken so handeln, wird nicht gestellt. Noch weniger wird die noch interessantere Frage gestellt, wie denn eine Gesellschaft eingerichtet sein muß, damit die „rücksichtslosen“, „unverantwortlichen“ Missetaten einer verschwindenden gesellschaftlichen Minderheit vermeintlicher Bösewichter derart verheerend und katastrophisch den Lauf dieser Gesellschaft bestimmen können. Warum dominiert denn ökonomisches Elend alle anderen Lebensaspekte? Was ist das für eine Gesellschaft?

Menschen, die gerne wenig nachdenken und das auch ihresgleichen nicht zumuten möchten, pflegen diese Frage wie folgt zu beantworten: Da haben gewisse „skrupellose“ Leute, „gierige“ Konzerne oder „mächtige“ Staaten die halbe Welt von sich abhängig gemacht, reißen sie nun in den ökonomischen Abgrund und kosten das geradezu aus. Unbeantwortet bleibt dabei, wie und warum sich denn die halbe Welt sehenden Auges in solche Abhängigkeit begeben haben sollte. Wer aber die Menschen immer nur als Opfer sieht und nicht als selbstverantwortliche Akteure des gesellschaftlichen Unheils, ist offenbar nicht an ihrer polit-ökonomischen Mündigkeit interessiert, mithin auch nicht an ihrer sozialen Emanzipation. Das sind vielmehr Erklärungsmodelle, die Religionen, Kirchen, Journaille, Polit-Populisten und andere reaktionäre Kräfte und schlichte Gemüter auf dem Markt der Meinungen anbieten.

Wer vielleicht eher an einer Veränderung des Bestehenden interessiert ist als an konformistischen Empörungsorgien und der symbolischen Bestrafung vermeintlicher Schuldiger, könnte sich an einer nüchternen Analyse über den Hergang der Krise versuchen. Eine solche Analyse müßte z.B. die Frage aufwerfen, warum denn exzessiv und „unverantwortlich“ prekäre Kredite vergeben worden sind usw. Es muß ein wahrhaft skrupelloser Kapitalismus sein, Leuten, die sich eigentlich kein eigenes Haus leisten können, dennoch eines zu finanzieren.
Wenn man keine Vorbehalte der ökonomiekritischen Theorie von Marx gegenüber hätte, könnte man wissen, daß das Kapital als automatisches Subjekt qua konkurrierender Einzelinteressen beständig seinem Daseinszweck nachjagt, sich zu vermehren. Diese Akkumulation des Kapitals stößt aber, wie sich empirischen Studien entnehmen läßt (und wie es auch theoretisch aufgrund fortschreitender Automatisierung logisch ist), seit den 70er Jahren an Grenzen, die Rendite bzw. Profitrate fällt tendenziell. Das gab es auch früher schon, nur ist der zwingende Trend zur Automatisierung seit dem späten 20. Jahrhundert stärkster Motor derart irreversibler Entwicklungen. Das Kapital muß sich also, wenn die Produktion nicht mehr genügend abwirft, andere, neue Quellen erschließen. Doch wo? Die glitzernde, aber eigentlich doch recht verzweifelte Antwort auf diese Frage seit den 80er Jahren war der sog. Kasinokapitalismus. Einzelheiten dieses auf immer virtuelleren Metaebenen der Wertschöpfung agierenden und diese vermeintlich ausbeutenden Wettbetriebs muß man sicher nicht verstehen.
Wesentlich ist, daß Produktionskapazitäten brach liegen aus Gründen, die nur noch im ideologischen Horizont der Systemimmanenz rational genannt werden können. Aber: „Hunger ist kein Grund zur Produktion.“ Die Krisen des Kapitalismus sind eigentlich immer Überakkumulationskrisen. Wäre für die Bedürfnisse aller Menschen gesorgt und allen ginge es gut, so wäre das der totale Einbruch der kapitalistischen Mangelwirtschaft, die ja gerade darauf beruht, daß jeder Mangel überhaupt nur im zahlungskräftigen Modus der Nachfrage und auch dann bloß temporär gelöst werden kann. Arbeit ist also in der bürgerlichen Gesellschaft nicht Mittel zum Zweck (z.B. zur Bedürfnisbefriedigung), sondern durchaus systemischer Selbstzweck des automatischen gesellschaftlichen Subjekts, das sich der Rentabilität verschrieben hat. Gehen nun irgendwelche Entwicklungen vonstatten, die diesem Selbstzweck zuwider laufen, so ist das – im Stande der Bewußtlosigkeit der Akteure – kein Grund zur Revision der Zwecksetzung, sondern es kommt die gesellschaftliche Reproduktion zum Erliegen. Und alle schlichten Gemüter wundern sich, die bisher aller Evidenz zum Trotz dachten, die Wirtschaft diene den Menschen und Hunger sei ein Grund zur Produktion.
Ihnen bietet sich dann das fatale Bild einer „im Grunde“ guten Industrie, die nützliche Sachen produziert, und eines unverstandenen Überbau von Kreditwesen. Das erstere nennen sie dann „Realwirtschaft“ (denn „schaffendes Kapital“ hört sich seit 1945 nicht mehr so gut an) und das letztere „gierige Banken“ (in Nazi-Diktion: „raffendes Kapital“). Daß eines zum andern gehört wie die Jacke zur Hose des Anzugs, geht in ihren Kopf nicht hinein. Der Zins ist dem gemeinen Antisemiten (der sich in Krisenzeiten gerne als Geldkritiker aufplustert) dann nicht ganz schlicht der Preis für geliehenes Geld, wie in der bürgerlichen Gesellschaft eben ALLES einen Preis hat und dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage unterliegt, sondern eine niedere Charaktereigenschaft von Ausbeutern – die man heute nicht mehr so gerne als „Juden“ stigmatisiert, um sich nicht als Nazi zu outen.

„Entschuldigen Sie mal: In der ganzen Welt brennt es lichterloh! Das sind die alten Schlachten. Wir müssen jetzt ganz konkret vernünftig versuchen, die Unternehmen, die von diesen zusammenbrechenden Weltmärkten – über die reden wir im Moment –, aus Angst zusammenbrechenden Weltmärkten; nicht, weil die Produkte nicht wirklich gebraucht werden, denn die Menschen vermehren sich doch. Die wollen Wohnung haben, die wollen bessere Nahrung haben, die wollen Technik haben, die wollen Energie haben, der Bedarf ist doch im Prinzip da, er ist durch Angst zurückgedrängt.“

„Daß das ein wahnsinniges Abenteuer ist – Wir wissen nicht, wie lang die Krise ist und müssen dennoch versuchen, sie zu überbrücken. Bauen Sie mal ne Brücke, wenn Sie nicht wissen, wie breit der Fluß ist. Trotzdem ist der Weg richtig;“

Wie auch immer, das Licht am Ende des Tunnels ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Zug:

„Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt – die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken.“
(Karl Marx, Das Kapital, Vorwort)


Kommentare
02.06.2009 / 07:21 hikE, Radio Unerhört Marburg (RUM)
gespielt in Frühschicht 2.6.2009
nett gemacht! Reizt zum Lachen und zum Denken. Danke
 
02.06.2009 / 11:34 d.höner,
Radio Frei. am 4.6.09 gesendet im Abendprogramm Osmose
ungekürzt
 
04.06.2009 / 10:26 theo,
gesendet 3.6.2009 zw. 22.00-23.00 in "Zeitgeschichte: Von Wortmonstern ...
danke
 
05.06.2009 / 11:40 Jörg, Radio T
Gesendet am 07.06.2009 in Radio Spezial
danke