Ausplünderung und Überwachung der jüdischen Bevölkerung 1933–1938 - Profiteure nicht nur bei den Eliten/Täter/Rolle des Finanzamts und der IHK

ID 30663
 
AnhörenDownload
Gedenkveranstaltung an Reichspogromnacht
Rede von Heiner Ritter Arbeitskreis Justiz und Geschichte des NS in Mannheim (AKJM)
Audio
23:36 min, 22 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (48000 kHz)
Upload vom 12.11.2009 / 18:42

Dateizugriffe: 590

Klassifizierung

Beitragsart: Reportage
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, SeniorInnen, Religion, Kultur, Politik/Info
Serie: sonar -aktuell-
Entstehung

AutorInnen: sonar aktuell
Radio: bermuda, Mannheim im www
Produktionsdatum: 12.11.2009
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Rede von Heiner Ritter auf der Gedenkveranstaltung des Arbeitskreises Justiz und Geschichte des NS in Mannheim am 9.November 2009 in Zusammenarbeit mit der Volkshochule/Abendakademie

"Das Mannheimer System: Ausplünderung und Überwachung der jüdischen Bevölkerung 1933–1938"

weiterer Vortrag Teil 2 und 3



dazu ein Bericht und Kommentar:


Erinnerungsveranstaltung an Reichspogromnacht

"Das Mannheimer System: Ausplünderung und Überwachung der
jüdischen Bevölkerung 1933–1938“

Im überfüllten Großen Saal der Abendakademie
U 1 führte der AK Justiz Mannheim
zusammen mit der Abendakademie
eine Veranstaltung in Erinnerung an die
Reichspogromnacht vom 9. November
1938 durch. ...
In einem Einführungsbeitrag wies Heiner
Ritter vom AK Justiz darauf hin, dass
die Bereicherungsmöglichkeit an „nichtarischem“
Eigentum von breiten Bevölkerungsschichten
wahrgenommen wurde
– nicht nur von Industriellen, Bank- und
Handelskapitalisten, sondern auch von
Angehörigen des Mittelstandes bis hin
zu kleinen Angestellten und Arbeitern.
Voraussetzung war erst die Vertreibung
jüdischer Menschen durch zunehmende
Schikanen und Einschränkung ihrer
wirtschaftlichen Existenzmöglichkeiten,
die zu „freiwilligen“ Verkäufen ihres Hab
und Gutes, vor allem aber ihrer Geschäfte
und Unternehmen führte. Im Endstadium
war es dann die systematische Deportation
der verbliebenen jüdischen Menschen aus
Mannheim und Baden nach Gurs.

An zwei Beispielen wurde die „Arisierung“ von Geschäften
dargestellt: Einer Metzgerei in
der Mittelstraße und der Firma Samt
und Seide, die von dem späteren Mannheimer
Nachkriegs-Ehrenbürger und Mäzen
Heinrich Vetter (Kaufhaus Geschwister
Vetter / Vetter-Stiftung) vereinnahmt
wurde.

Verwaltung in „Hochform“

Eine wesentliche Rolle bei der Herausdrängung
der „Nicht-Arier“ aus dem
Wirtschaftsleben spielte sofort ab Frühjahr
1933 das Mannheimer Finanzamt: Es
kontrollierte systematisch die wirtschaftlichen
Aktivitäten der jüdischen Bevölkerung auf Einhaltung der Schikanegesetze
und -verordnungen, und es veranlasste
Sanktionen bei Verstößen. Dazu errichtete
man ein ausgeklügeltes Systems von
Datenaustausch und Bespitzelung durch
andere Behörden und Institutionen. Das
System, welches auf Mannheimer Eigeninitiative
aufgebaut wurde, war so effizient,
dass erstens aus Mannheim jüdische
Menschen frühzeitig weit über Reichsdurchschnitt
emigrierten und zweitens die
Reichsregierung das Mannheimer System
zum Modell ausrief.

René Skusa vom Uni-
Forschungsprojekt zeichnete den Aufbau
und das Funktionieren des „Mannheimer
Systems“ anhand neu entdeckter
Quellen minutiös nach.
Erneut zeigte sich ein wesentlicher
Charakterzug des faschistischen
Staates: Die Konstruktion
einer rassistischen unrechtlichen
„Rechtlichkeit“ und deren akribische
und bürokratisch „tadellose“
Anwendung. In deren Funktionieren
waren zahllose Menschen
involviert, und eine noch größere
Menge „ganz normaler“ Menschen
profitierte von ihr. Der Faschismus
als terroristisches Herrschaftssystem
mit Massenbasis. Nicht die
vorgehaltene Waffe eines Befehlshabers
zwang die Beteiligten im
Finanzamt, faschistisch zu funktionieren,
sondern eigener Antrieb
war hier im Spiel, offensichtliche
Begeisterung an der Idee der Ausschaltung
eines Teils der Gesellschaft,
um sich an diesem zu bedienen.

Das große Schweigen

Nach dem Krieg legte sich speziell auf die
Tatbestände im Zusammenhang mit der
„Arisierung“ ein ganz besonders „bleiernes
Schweigen“. Es dauerte 70 Jahre, bis nun allmählich
diese Verhältnisse ans Tageslicht
befördert werden und zu oft peinlichen
Erkenntnissen führen. Beispielsweise die
immer geleugneten, aber mittlerweile aus
jederzeit öffentlich zugänglichen Quellen
bewiesenen Verwicklungen des hochgeachteten
Ehrenbürgers Heinrich Vetter
in Arisierungsgeschäfte. Es komme nicht
darauf an, so Heiner Ritter, die Leistungen
und das bedeutsame Mäzenatentum von
Heinrich Vetter in Abrede zu stellen oder
zu skandalisieren. Aber es komme darauf
an, mit den Tatsachen offen und reflektiert
umzugehen.

Bedrängende Fragen

Die Erkenntnis, dass in Mannheim bei der
Arisierung und der Verdrängung der jüdischen
Bevölkerung aus dem Stand heraus
nach der Machtübertragung überdurchschnittlicher
Aktivismus zu verzeichnen
war, steht im Widerspruch zu dem gerne
gepflegten Bild der dem Faschismus gegenüber
besonders resistenten Stadt.
Die Frage drängt sich auf, ob die Widerständigkeit
der Arbeiterbevölkerung, auch der politischen
Arbeiterbewegung in Abwehr des
Antisemitismus gewisse Schwachstellen
hatte. Trat die sich zu Recht an „der Klassenfrage“
orientierende Bewegung dem
von den Faschisten bewusst quer dazu gestellten
„Rassen“-Begriff nicht umfassend
genug entgegen, indem sie sich z.B. auf die
Kritik beschränkte, der „Rassen“-Begriff
„lenke ab“ von der Klassenspaltung? Oder
anders ausgedrückt: Gab es zu tiefe Ressentiments
gegen die Figur des „jüdischen Kapitalisten“
um auch für dessen Bürger- und
Persönlichkeitsrechte einzutreten?
Welche Rolle spielte in der Weimarer Republik der
Diskurs über allgemeine Menschenrechte?
– Der Blick auf das Mannheimer Finanzamt
1933 wirft wichtige Fragen auf. tht
Kommunal-Info Mannheim 23, 12.Nov 2009


skandalöses Urteil:
Bundesverfassungsericht bewertet Interessen der Profiteure der "Arisierung" höher als die der NS-Opfer/Besitzer/Erben

Keine Rückgabe von Grundstücken an Erben
JUSTIZSTREIT Im Rechtsstreit über die Rückübertragung ehemals jüdischer Grundstücke in Kleinmachnow bei Berlin sind die Erben vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. Die Betroffenen gehen völlig leer aus

KARLSRUHE dpa | Das Bundesverfassungsgericht hat die Rückgabe von Grundstücken an die Erben eines von den Nazis enteigneten jüdischen Siedlungsunternehmers abgelehnt. Der Gesetzgeber habe bei der Wiedergutmachung von NS-Unrecht einen besonders weiten Spielraum, weil es von einer "dem Grundgesetz nicht verpflichteten Staatsgewalt" zu verantworten sei, heißt es in einem am Mittwoch in Karlsruhe veröffentlichten Beschluss. Dass 1997 die Rückgabe von Grundstücken aus dem Eigentum von Siedlungsunternehmen gesetzlich ausgeschlossen worden sei, kann laut Gericht zwar zu Ungerechtigkeiten für die Betroffenen führen. Allerdings sei die Vorschrift nicht "willkürlich" und damit vom Grundgesetz gedeckt.

Die Grundstücke im Berliner Vorort Kleinmachnow gehörten 1933 zum Vermögen einer Siedlungsgesellschaft, an der der jüdische Bauunternehmer Adolf Sommerfeld knapp 80 Prozent der Anteile hielt. Sommerfeld wurde 1933 von SA-Männern in seinem Haus überfallen und floh kurz darauf aus Deutschland. Seine Anteile wurden nach der sogenannten Arisierung des Betriebes veräußert.


Von dem Musterverfahren sind nach Angaben des Berliner Anwalts Christian Meyer - der die rund 20 Erben vertritt - rund 700 anhängige Klagen betroffen. Er nannte die Entscheidung "nicht nachvollziehbar", weil die Betroffenen damit völlig leer ausgingen. Er kündigte eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg an. Nach den Worten einer Kammer des Ersten Senats hat der Gesetzgeber den Schutz der späteren Siedler, die die Immobilien bis 1945 zu den seinerzeit üblichen Preisen kauften, höher gewichtet als die Interessen der NS-Opfer.

taz 1.Okt 2009

Kommentare
13.11.2009 / 18:51 sonar aktuell, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
gesendet
am 13.Nov 2009