Die Kopfpauschale

ID 34424
 
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Sendefertig aufbereiteter Mitschnitt eines Vortrags von Achim Kessler (Die Linke) in Darmstadt am 4.5.2010 zur Kampagne "Schwarz-gelb macht krank". Originalfassung gesendet bei Radio Darmstadt am 31.5.2010.
Audio
44:13 min, 40 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 05.06.2010 / 11:44

Dateizugriffe: 315

Klassifizierung

Beitragsart: Rohmaterial
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Walter Kuhl
Kontakt: info4(at)waltpolitik.de
Radio: dissent, Darmstadt im www
Produktionsdatum: 05.06.2010
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Aus der ursprünglichen Anmoderation:

Gesundheit ist ein teures Gut und ein lukratives zugleich. Ärztinnen, Krankenhäuser, Pharmaunternehmen und Apotheken wollen hier ihr Auskommen sehen. Und die Kosten steigen. Nicht jede Medikation ist sinnvoll, der therapeutische Wert so manchen Medikaments, so mancher Therapie ist zweifelhaft. Nun sind steigende Kosten nur dann ein ernsthaftes Problem, wenn sie nicht mehr aufgefangen werden können. Sollte uns eine gute Gesundheit nicht auch etwas kosten? Allein – wir leben in einer Welt, in der uns Feinstäube und Arbeitshatz krank machen, ganz zu schweigen vom allgemeinen Fitnesswahn. Sport ist nicht gesund, sondern ein Risikofaktor. Sportverletzungen sind ein häufiger Begleiter guter Ratschläge, um abzunehmen oder auch am nächsten Tag frohgemuht auf der Matte zu stehen.

Das deutsche Gesundheitswesen ist jedoch nicht deshalb zu teuer, weil zu viele Menschen zu viele Leistungen in Anspruch nehmen, sondern weil immer mehr Menschen nicht mehr gebraucht werden. Als in den 60er und teilweise noch in den 70er Jahren so etwas wie Vollbeschäftigung herrschte, benötigte das Kapital gesunde Arbeitskräfte. Also wurde in das Gesundheitssystem investiert. Heute, bei mehreren Millionen Arbeitslosen und einer Geschäftspolitik, in der aus immer weniger Menschen noch mehr – nämlich Profit – herausgepreßt werden soll, gibt es einfach Überflüssige, die das Kapital allenfalls noch als Dumpinglöhner und Putzfrauen benötigt. Deren Gesundheit ist dem kapitalistischen Interesse gleichgültig, jede Investition in die Gesundheit der Überflüssigen ist profitschädigend.

Aber auch diejenigen, die noch ihrer Beschäftigung nachgehen, sind mehr oder weniger austauschbar. Der Markt gibt genügend Arbeitskrüfte her, so daß eine Investition in die Gesundheit einfach als geschäftsschädigend gilt. Der allgemeine Sparappell bricht sich auch im Gesundheitswesen Bahn. Mit ausgefeilten Managementtechniken werden Krankenhäuser zu Profitcentern umgemodelt und der frühere Versicherungsschutz zum individuellen Lebensrisiko erklärt. Die Rürups und Riesters und ihre wohlfeilen Claqueure singen das Lied vom homo oeconomicus, dessen wahrhaftigstes Ziel es ist, um des eigenen Interesses willen genau abzuwägen, wie viel Gesundheit einer oder einem das nicht vorhandene Geld denn wert ist.

Am 4. Mai lud die Partei Die Linke in Darmstadt zu einer Informationsveranstaltung über die Kopfpauschale und den Wettbewerb im Gesundheitswesen ein. Auch wenn es sich beim Motto “Schwarz-Gelb macht krank” um eine Kampagne gegen die Gesundheitspolitik selbiger Regierung handelte, so sind die hierbei geäußerten Gedanken auch grundsätzlich von Interesse. Es sprach Achim Kessler. Er wird sich gleich selbst vorstellen.

Es folgt der Mitschnitt des Referats und einzelner seiner anschließenden Diskussionsbeiträge. Am Mikrofon ist Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.


Aus der ursprünglichen Abmoderation:

Ihr hörtet einen Vortrag von Achim Kessler über die von der Bundesregierung geplante Kopfpauschale und die damit verbundene Gesundheitspolitik, gehalten am 4. Mai im Darmstädter Justus-Liebig-Haus. Wenn der Referent den Staat für die Grundversorgung in die Pflicht nimmt, sitzt er meines Erachtens einem Staatsfetischismus auf. Es ist eine Sache, vom bürgerlichen Staat bestimmte Leistungen einzufordern, und es mag sinnvoll sein, staatliche Leistungen nicht zu privatisieren. Eine andere Sache ist es jedoch, dem Staat zu unterstellen, die Vorsorge für seine Bürgerinnen und Bürger sei seine originäre Aufgabe. Hierin sehe ich eine strategische Schwäche des sozialdemokratischen Projekts und der Politik der Partei Die Linke.

Der bürgerliche Staat ist ein Klassenstaat, und wenn er derzeit nicht an die Gesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger denkt, sondern an das Wohlbefinden der Reichen und anderer Kapitalbesitzer, dann entspricht dies durchaus seiner originären Aufgabe und Funktion. Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist hat nicht das Wohl von uns allen im Auge, dies ist bloß eine Fiktion, sondern das Wohl seiner Auftraggeber. Wenn Achim Kessler von diesem Klassenstaat nun verlangt, seine Pflicht nicht zu erfüllen und außer an Banken, Handel und Industrie auch an uns zu denken, dann schürt er eine Illusion. Natürlich ist es richtig, Dinge, die uns wichtig sind, auch als selbstverständlich einzufordern.

Aber nicht mit der Begründung, dies sei die Aufgabe des bürgerlichen Staates, sondern mit den Ansprüchen, die wir gegen das Klasseninteresse derjenigen durchsetzen müssen, die sich diesen Staat halten. Die Bourgeoisie hat dieses Klasseninteresse längst erkannt und setzt es mittels schwarz-gelber, schwarz-roter, rot-grüner und manchmal auch rot-roter Regierungen durch. Wir hingegen laufen als Atome durch die Welt, verlieren uns in den Pseudowelten virtueller Netzwerke, ballern uns unseren Frust mit World of Warcraft oder auch am Hindukusch von der Seele, und nehmen das Brot und die Spiele dankbar an, die uns geboten werden, beispielsweise beim Schloßgrabenfest Ende Mai in Darmstadt und demnächst bei der großen Sause um die Fußball-Weltmeisterschaft, wenn ganz Deutschland wie ein Mann “Tor” grölt, weil wir keine Klassen, sondern nur ein Vaterland kennen.

Aber wer mag schon darüber nachdenken? Lieber ein bißchen jammern, wenn die Zumutungen steigen, als sich darüber Gedanken zu machen, was ein gutes Leben für uns und die anderen Milliarden Menschen auf diesem Planeten bedeuten könnte, ein Leben, das frei ist von Arbeitshatz, Lohndumping, Feinstäuben und Müllhalden. Solcherlei Gedanken mögen sogar in der Verbalrhetorik der Linkspartei zuweilen vorkommen, wenn es jedoch um pragmatische Politik geht, wie in Berlin oder Brandenburg, dann geht diese Linke denselben Weg wie zuvor die Grünen und wird zum Schoßhündchen der Bourgeoisie. Brauchen wir so etwas? Ich jedenfalls nicht. Am Mikrofon war Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.