Besinnung und Paralyse der Kritik

ID 69820
 
... oder: Warum man als Kritiker zum Melancholiker wird. Oder etwa umgekehrt?

Welchen Sinn macht es hier und heute, fundamentale Gesellschaftskritik zu üben? Hat das mit Hobby, mit Studium, mit persönlichem Fortkommen zu tun? Oder geht es möglicherweise doch um etwas anderes? Aber: Bewirkt das überhaupt irgend etwas? Zwei Vorträge beschäftigen sich – auf unangenehm verbindliche Weise – mit der schwierigen aber entscheidenden Frage "Was soll's?"

- Ein erschütternder Erfahrungsbericht aus dem Universitätsmilieu. Bettina Fellmann über Neues vom fröhlichen Positivismus: "Philosophieren im Stande allgemeiner Unmündigkeit" (Juni 2014), ein Ausflug in den geisteswissenschaftlichen Betrieb. Anhand einiger Erlebnisse in den Fachbereichen der ersten Philosophie-Semester arbeitet sie die Farcenhaftigkeit, Überflüssigkeit und zugleich die Funktion der gegenwärtigen akademischen Philosophie heraus, der ein Bezug zur materiellen Wirklichkeit immer mehr abhanden kommt. Davon ausgehend einige Anmerkungen darüber, was es überhaupt bedeutet, im Angesicht der nicht endenden Katastrophe zu denken. (ca. 75 Minuten)

- Unerbauliche Reflektionen von Arne Kellermann zur Frage, wie mit der realen Ohnmacht radikaler Kritik im Angesicht des perennierenden Elends in großen Teilen dieser Welt umzugehen ist: "Zur Stellung der Überbleibsel des Denkens zum stacheligen Objekt; Fetzen kritischer Theorie in Zeiten konstitutiver Überflüssigkeit" (Juni 2013). Aus der Vortragsreihe "Nackte Gewalt – Die Übermacht der Verhältnisse und die Sprachlosigkeit der Kritik" (ca. 45 Minuten)

Dauer: 120 Minuten



Bettina Fellmann:

"Widerspruch erwächst aus dem Gefühl, mit der Welt stimme etwas grundlegend nicht. Dem wird zumeist entgegnet, mit einem selbst stimme etwas nicht. Stört einen der Weltlauf, sei man gestört."

"Was bleibt einem anderes übrig, als sich zu arrangieren? Zuallererst, diese Frage nicht rhetorisch zu behandeln."

"Wen nicht ein Bedürfnis umtreibt [...] nach Gedanken, die auf wirklichen Erscheinungen und Vorgängen beruhen, und diesen Bezugspunkt unter keinen Umständen [...] preiszugeben, der betreibt Philosophie als hohle Betriebswissenschaft. Formen jedoch, die um ihrer selbst Willen betrieben werden, sind Kompensation von Leben."

"Wenn man sich nicht hat beibringen lassen, reale Unstimmigkeiten auszublenden und sich ihnen gegenüber unempfindlich und gedankenlos zu machen, fühlt man sich in der wirklichen Welt gründlich falsch, da allgemein das Verkehrte verlangt wird: die inneren Widersprüche, die den äußeren entspringen, zu unterdrücken und auszublenden und sich gegen das unter Menschen herrschende Übermaß an Elend und Unglück abzuhärten."

"Generell wird den zu Zahlen, Zeichen und Bildern geronnenen, entsetzlichen Taten der Menschen völlige Teilnahmslosigkeit entgegengebracht."

"Offenbar wird daran vor allem, daß ziemlich allen alles ziemlich egal ist [...]. [...] Befremdlicher ist nur noch der Versuch, die eigene Interessenlosigkeit mit der Imitation von leidenschaftlicher Hingabe zu kaschieren. Die so haltlos von nicht begriffenen Begriffen sprechen, sind gewöhnlich dieselben, die den Mangel an sinnlicher Erfahrung im Nacherzählen zum totalen Erlebnis stilisieren, dessen Kümmerlichkeit mit vier Adjektiven hinreichend erfaßt und beschrieben ist: total schön, total lustig, total langweilig und total furchtbar."

"Wenn gesagt wird, Kinder würden auf das vorbereitet, was sie später erwartet, heißt das nichts anderes, als daß in der Gegenwart etwas mit ihnen gemacht wird. [...] Von Beginn an werden die Menschenwesen in die jeweils nützlich scheinende Form und Funktion gebracht."

"Von Beginn an lernen die Kinder spielend denken und denkend spielen, wobei sie daran gewöhnt werden, daß jede ihrer Regungen Mittel zu einem ihnen übergeordneten Zweck ist, der von außen in sie hinein vermittelt wird."

"Als vergeistigte und verallgemeinerte Wesen erschrecken die Subjekte vor einer Kritik, die sie anders als gegen sich gerichtet nicht aufzufassen imstande sind - gleichwohl sie damit richtig liegen, solange sie sich nicht zu unterscheiden vermögen."

Arne Kellermann:

"Kein bloßes Schreien kann das Denken ersetzen, aber alles Denken, was nicht aus Unmut schreien will, hat sich schon dem Fortschritt im Absehen von der Freiheit verschrieben."

"Wenn das Schreien von der Notwendigkeit des Einspruchs her also wahrer ist als das Schweigen, so ist sprachliche Äußerung es doch nur, wenn sie Ausdruck vom und nicht bloß Gerede über das falsche Ganze wird."

"Der begründete Widerwillen gegen die theoretische Arbeit am Gegenstand findet sich etwa in Marx' berühmter Äußerung wieder, in der er davon spricht, bald 'mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig zu sein'. [...] Erst nach der geschichtlichen Erfahrung des Scheiterns der Protestbewegung wird die geistige Tätigkeit der Entwicklung jener 'Aspekte im Marxschen Werk, denen ein besserer Geschichtsverlauf erlaubt hätte, in den Bibliotheken zu schlummern' (W.Pohrt), tatsächlich absurd."

"'Iß auf! Die Kinder in Afrika würden sich freuen, wenn sie überhaupt etwas zu essen hätten!' Dieser Spruch als Erziehungsmittel ist - unabhängig davon, ob er vom einzelnen Individuum tatsächlich gehört wurde - sowohl dem Inhalt als auch der Form nach Modell für die konstitutive Erfahrung heutigen Bewußtseins. Dem Inhalt nach, weil das Kind mit dem ersten Essen, das es nicht essen wollte, schon die Standortkonkurrenz ins Blut übergehen lassen mußte: Die gut gemeinte, weil aufklärerisch gewollte Äußerung läßt das Kind primär innewerden, daß sofort jemand bereit stehen würde, um den eigenen Platz einzunehmen."

"Daß unser gesamtes Leben auf der Fortdauer der Herrschaft und Unterdrückung beruht, die ganze Gewalt des Krepierenlassens Ungezählter, darf nicht ins Bewußtsein eingehen, weil es unaushaltbar wäre, davon ausgehend weiterzumachen. Zugleich ist jedoch dieser Umstand von jedem geahnt und damit psychisch abzuwehrende Realität."

"[...] ein diffuses Unwohlbefinden. Dieses nicht abwehren zu können, weil es Realitätsprinzip noch nicht jene bürgerliche Kälte hat konstituieren lassen, ist die Grundlage der alles vereisenden Ironie, des gegenwärtigen Zynismus, der nicht mehr Phänomen, sondern Konstitutives des eigenen Weltverhältnisses geworden ist."


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Audio
02:00:00 h, 41 MB, mp3
mp3, 48 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 07.04.2015 / 14:51

Dateizugriffe: 15

Klassifizierung

Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Andere, Kultur, Politik/Info
Serie: Sachzwang FM
Entstehung

AutorInnen: Dr. Indoktrinator
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 05.04.2015
CC BY-ND-NC
Creative Commons BY-ND-NC
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Text von Bettina Fellmann findet sich hier in voller Länge nachzulesen:
http://zweifelunddiskurs.blogsport.de/im...

Die hermetische Musik stammt diesmal von Mick Harris.


Kommentare
07.08.2015 / 22:03 Frau Mann, Wüste Welle, Tübingen
gesendet
am 11.04.2015 in MANNcherlei Austauschbeitraege - vielen Dank!