"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Mario Monti -

ID 44489
 
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[47. Kalenderwoche]
«Deutschland muss die ganze Europäische Union retten», heißt es gegenwärtig ein wenig überall, und entsprechend benimmt sich unter den deutschen Politikern vor allem der CDU-Fraktions¬vor¬sitzende Volker Kauder, der für Frau Merkel offensichtlich den Bad Cop macht.
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11:27 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 22.11.2011 / 11:34

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 22.11.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich weiß gar nicht, ob das wirklich stimmt mit der Rettung der EU durch Deutschland, es gibt schließlich auch noch Länder in Skandinavien oder die Polen oder die Österreicherinnen, welche durchaus nicht mit deut¬schem Blut und Boden gerettet werden müssen; und zudem stellt sich immer wieder die Frage bezüglich der deutschen Wirtschaftsmacht: Wenn die schon darauf gründet, dass Deutschland der Exportweltmeister in Europa ist, dann müssen die Güter ja auch irgendwo importiert werden. Das hat doch seine eigene Logik, dass einem Exportweltmeister auch ein Importweltmeister gegenüber stehen muss. Eine solche Rolle spielten die Griechinnen und Griechen zweifellos eine gewisse Zeit lang, wobei sie wohl kaum die Hauptvolumina der deutschen Exporte absorbierten, aber immerhin lässt sich an diesem Beispiel zeigen, dass ein eventueller Rettungsbedarf der EU vielleicht auch auf ein eventuell unloyales Wettbewerbsverhalten der deutschen Wirtschaft zurückzuführen ist, und zwar unloyal durch künstlich niedrig gehaltene Produktionskosten. Dazu würden zum Beispiel vergleichsweise magere Löhne, tiefe Preise und Hartz IV zählen. Diese Kritik wird nicht erst seit einem halben Jahr erhoben, sondern sie geistert schon seit der Inkraft¬set¬zung der Agenda 2010 durch Schröder und Jockel Fischer durch die Welt der Wirtschafts¬kom¬men¬ta¬to¬ren. Ich selber sehe mich nicht imstande, dazu ein Urteil zu fällen; das einzige, was mir dazu einfällt, ist der Spruch, dass es halt nicht nur die Wirtschaft ist, sondern dass die Schwächen ver¬schie¬dener Länder auch auf Schwächen der politischen Struktur und der Institutionen beruhen, und soweit die Krise den Deutschen diesbezüglich ein gutes Zeugnis ausstellt, brauchen sie sich dafür nicht zu schämen.

Einen Ausweg aus einer wirklich tief greifenden institutionellen Krise suchen gegenwärtig die zwei kritischsten EU-Wackelkandidaten. Eine Regierung, die wenigstens die wichtigsten Entscheide jenseits von Einzelinteressen fällen kann, das ist offiziell die neueste Errungenschaft sowohl in Griechenland als auch in Italien. In Griechenland ist es dazu gekommen, weil sowohl die Konservativen als auch die Sozialdemokraten Schiss hatten vor der Volksbefragung, welche der wackere Giorgios Papandreou angekündigt hatte. In Italien ist die Regierung der Techniker das Resultat des internationalen Drucks, vor allem von Frau Merkel, unter dem sich Berlusconi mindestens vom Posten des Premierminister zurückziehen musste. Sichtbar bleibt er allerdings weit herum, und eine der ersten Amtshandlungen des neuen Techniker-Ministerpräsidenten war es denn auch, dem Berlusconi die Hände zu schütteln, ebenso wie allen anderen MinisterInnen der Berlusconi-Regierung, also inklusive der Schönheitskönigin und der Umweltministerin. Und auch in Italien sind die Ränkeschmiede wie in Griechenland hinter den Kulissen gegenwärtig nicht nur nachtaktiv, sondern sie rackern auch am Tage. Mario Monti hat seine Regierung mit ausgewiesenen Fachleuten bestückt, und was man sich darunter vorzustellen hat, lässt sich am besten am Beispiel von Corrado Passera zeigen: Der designierte Entwicklungsminister war unter anderem Chef der italienischen Bank Intesa Sanpaolo, er ist beteiligt an der Gesellschaft NTV, welche zusammen mit der französischen SNCF in Italien Hochgeschwindigkeitszüge betreiben will, unter anderem auf der umstrittenen Neubaustrecke zwischen Turin und Lyon, und er hatte seine Hände in praktisch allen wichtigen Deals der jüngeren italienischen Firmengeschichte, von Edison über Parmalat bis zu Telecom Italia und zur Alitalia. Das ist mal ein Fachmann, wie er im Buche steht, und selbstverständlich hat er jetzt alle Mandate abgegeben und steht selbstlos zur Rettung des Vaterlandes bereit, ähnlich wie die Arbeitsministerin Elsa Fornero, die aus dem Aufsichtsrat, ebenfalls der Bank Intesa Sanpaolo zurückgetreten ist, oder der Tourismusminister Piero Gnudi, den der Verwaltungsrat der grössten italienischen Großbank Unicredit ziehen lässt.

Ihnen allen und auch Mario Monti sowie all jenen italienischen Kapitalisten, die noch an einen Kapitalismus jenseits von Korruption und im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft auf der Grundlage echter, geltender, durchsetzbarer Gesetze glauben, wird man zugute halten, dass sie effektiv selber die Schnauze voll haben von dem ungeheuren Dreck als solchem sowie von den ungeheuren Massen an diesem Dreck, mit dem Berlusconi mithilfe seiner Fernsehsender und seines Milliardenvermögens das ganze Land überzogen haben, wobei der Hinweis nicht fehlen darf, dass ihn eine Mehrheit der ItalienerInnen drei oder fünf Mal ins Amt gewählt bzw. darin bestätigt hat. Eben: Unter dem Berlusconi-Dreck liegt durchaus keine saubere und moderne Wirtschaft und Gesellschaft verborgen, bewahre – aber immerhin dürfte all diesen Führungskräften einigermaßen bekannt sein, dass und eventuell sogar wie effiziente Strukturen zum Wohl der ganzen Gesellschaft wirken. Nehmen wir mal an, dem sei so, und nehmen wir weiter an, dass diese Techniker-Regierung alles versuchen wird, um die übelsten Strukturmängel zu beseitigen. Wir können dies umso leichter annehmen, als auf Seiten der Opposition nicht im Ansatz Vorschläge oder gar mittel- und lang¬fris¬tige Visionen zu erkennen sind, wie sich Italien einerseits aus dem Berlusconi-Sumpf ziehen soll und anderseits wirtschaftlich und sozial entwickeln soll im internationalen Kontext. Diese Dis¬kus¬sion ist unglücklicherweise ob dem jahrelangen Gerangel um Macht, Einfluss, Medien¬präsenz und politische Posten innerhalb des Partito Democratico gänzlich abgestorben. Die Kreaturen von Mas¬si¬mo D'Alema haben gelernt, worauf es ankommt: Man muss beim Segeln in der Adria und auf dem tyrrhenischen Meer mindestens eine Rolex am Arm haben, alles andere ist unwichtig. Vom sog. Terzo Polo wollen wir schon gar nicht sprechen, der ist besetzt mit den idealen Schwiegersöhnen, das heißt eitlen Schönlingen wie Rutelli oder jenem Pier-Francesco Casini, der als Koalitionspartner in einer früheren Regierung Berlusconi noch halbwegs eine anständige Figur gemacht hatte, der jetzt als heimlicher Königsmacher von Mario Monti gehandelt wird und dessen UDC-Partei-Schatzmeister am Tag nach der Bestätigung von Mario Monti als Regierungschef unter Anklage gestellt wurde wegen illegaler Parteienfinanzierung im Zusammenhang mit verteuerten Aufträgen der italienischen Flugsicherungsfirma Enav an den Industriekonzern Finmeccanica. All dies spricht zusätzlich für die neue Techniker-Regierung von Mario Monti. Unter seinen Ministern ist nicht ein einziger zu finden, der aus der Politik stammt, und das wollen wir dem Herrn Professor auf ewig zugute halten - übrigens im Einklang mit der gesamten italienischen Bevölkerung. – Aber die italienische Politik wäre nicht die italienische Politik, wenn sie nicht auf einer leicht untergeordneten Ebene, nämlich bei den stellvertretenden Ministern, ihre Ansprüche, Forderungen, Einflussbereiche, Einzelinteressen usw. usf. umso stärker und nachdrücklich anmelden würde. Der Sekretär der erwähnten UDC von Casini, Lorenzo Cesa, sagt es in der nötigen Klarheit: Monti könne nicht sämtliche Posten auch unterhalb der Ministerebene mit Technikern, also nicht politisch vernetzten Fachleuten besetzen, konkret mit Leuten, die hinter dem Mond leben. Hier ist das Gerangel zwischen Berlusconi, der ehemaligen Opposition und dem Terzo Polo voll in Gang. Vermutlich teilt Mario Monti die Posten ungefähr im Verhältnis ihrer Stärke im Parlament auf, und praktisch gesehen ist das sogar insofern sinnvoll, als all die zu erlassenden Gesetze ja auch in die Fachkommissionen und dort durchgesetzt werden müssen. Anderseits sind damit die Parteizentralen wieder voll im Bild über sämtliche Projekte, und man kann sich leicht ausmalen, wie die Interessenvertreter intrigieren, die im Moment wegen der außerordentlichen Lage nicht in der Öffentlichkeit agieren können.

Die Zeitung Repubblica verweist auf ein weiteres Spannungsfeld: Innerhalb von Berlusconis Partei gibt es einen Konflikt zwischen den Hardcore-Interessenvertretern, also vor allem der Interessen von Berlusconi selber, welche er ja auch direkt bezahlt, sowie den Pragmatikern anderseits. Die Repubblica mutmaßt, dass Berlusconi lieber die Techniker-Regierung auffliegen lassen wird als die effektive Spaltung seiner Partei zuzulassen. Das ist einerseits naheliegend, da Berlusconi effektiv persönlich am meisten zu befürchten hat von einer Regierung, die effektiv ihre Arbeit macht; anderseits ist die Repubblica natürlich seit Auftauchen des Berlusconi-Schauermonsters, also seit gut 20 Jahren Partei gegen ihn, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Berlusconi jederzeit versuchen kann, die Regierung zu stürzen, und dazu braucht er vielleicht nicht mal seine eigene Partei, vielleicht muss er bloß dem Massimo D'Alema eine neue Rolex über den Tisch schieben, damit dieser die Drecksarbeit unter irgend einem sicher außerordentlichen Vorwand übernimmt.

Davon unberührt pflegen die Engländer weiterhin ihre antikontinentalen Reflexe, wobei ihnen der anfangs erwähnte Kollega Kauder auch immer gerne Munition liefert, zum Beispiel mit seiner Forderung, dass in Europa fürderhin Deutsch gesprochen werden müsse, was ich für eine sehr vernünftige Forderung halte, soweit sie Deutschland betrifft. Mehr als diese Lappalie scheint sich der Engländer aber über die Finanztransaktionssteuer zu erhitzen, welche auf eine Art zum Poli¬ti¬kum geworden ist bzw. sich einer tatsächlichen Realisierung nähert, die mir absolut unerklärlich ist beziehungsweise mir vollständig mirakulös erscheint. Als ich nämlich zum ersten Mal von dieser Transaktionssteuer hörte, zu einer Zeit, als attac noch das zu dieser Transaktionssteuer gehörende Prozentzeichen im Schriftzug mit sich führte, obwohl der Erfinder, Herr James Tobin, wohl kaum einmal in der Größenordnung von Prozenten gerechnet hatte und wenn auch die Einführung nicht im Prozentbereich erfolgen wird, zu dieser frühen Zeit also erschien diese Forderung von attac ebenso systemimmanent wie illusorisch, sodass man heute, wo der Aspekt des Systemimmanenten bejaht wird wie eine philosophische Formel von Jacques Lacan, gar nicht genügend Köpfe zur Hand hat, die man schütteln könnte. Der Engländer aber sieht darin nicht etwa Lacan, also ein unverständliches Kauderwelsch, um mal bei den Scherzen zu bleiben, sondern geradewegs einen vollen Angriff auf den Finanzplatz London, nachdem man sich doch so viele Mühe gegeben hat, den zum Mittelpunkt des globalen Finanzgeschehens auszubauen und in dem man offenbar trotz der Finanzkrise nach wie vor den Rettungsfallschirm für die taumelnden britischen Gesamtsysteme sieht – die Engländerin bringt mit anderen Worten das Kunststück fertig, auch noch den knappsten Versuch zur Domestizierung des wilden Tiers Finanzkapitalismus als Versuch Deutschlands zur Eroberung der Welt mit anderen Mitteln als mit der Wehrmacht darzustellen. Diese Sorte von Weltsicht hatte ich bisher eher den US-Republikanern bzw. der Tea Party zugetraut; aber nach all den Stories rund um die Murdoch-Medien in England und vollends nach der Ankündigung der Budgetkürzung für die BBC kann ich mir auch mal ein despektierliches Urteil über dieses Land leisten, das ich grundsätzlich recht hoch schätze.