"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Klapse und Mühlen

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Beim Versuch, die Welt zu verstehen und uns und Deutschland in ihr, aber auch unsere Freundin¬nen und deren Kinder, sind wir stets auf Informationen angewiesen, aber auch auf Zeichen, welche die großen Lücken überbrücken zwischen den Informationen.
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10:16 min, 9620 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 29.11.2011 / 09:07

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 29.11.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Zeichen führen längst ein Eigenleben und werden als solche in den Kommunikationsfluss integriert, das heißt nicht nur als Informationen, sondern auch als Zitate oder als Verweise oder als Witz und Satire. Dieser letzte Bereich ist in den letzten Jahren überhaupt nicht zufällig explosionsartig gewachsen. Letzthin sah ich auf einem privaten TV-Sender ein Format mit dem Titel «Satire-Gipfel», der präsentiert wurde von Dieter Nuhr, welcher sich seinerseits ganz unironisch mal als intelligentester deutscher Kabarettist bezeichnet hat, und das zeigt endgültig, wo die Satire inzwischen gelandet ist, nämlich in einem Kommunikationsmus zusammen mit allen anderen Informationsträgern, unabhängig von Inhalten und Qualität. Die Forderung von Tucholsky, dass Satire alles dürfe, ist realisiert, allerdings auf Kosten ihrer Substanz. Dieter Nuhr, Eckardt von Hirschhausen, Axel Schröder und viele andere Duodez-Komiker versetzen die glatte Bauchmuskulatur des Millionenpublikums ähnlich in rhythmische Kontraktionen wie vor einigen Jahrzehnten die Marschmusik die Beinmuskulatur von Millionenheeren. Aber diese entkernte Satire ist anderseits nicht weiter schlimm; bloß stellt sich die Frage, was ihre Funktion ist in der Informationsübertragung, wohin sie uns führt oder woran sie uns hindert beim Versuch, die Welt zu verstehen. Noch drängender stellt sich diese Frage aber bei Zitaten, bei denen es immer weniger wichtig ist, ob sie satirisch, ironisch oder ernst gemeint sind. Indem sie nämlich überhaupt «gemeint» sein können, heben sie die betreffende Aussage ab von einer Aussage im ursprünglichen Wortsinn und transformieren sie in einen Füllstoff, in eine Art Silikon, das eben die Ritzen im großen Informationsfluss ausstopfen sollte, aber angesichts der schieren Menge solcher Füllstoffe ist die Diagnose einfach, dass der gesamte Informationsfluss in der Zwischenzeit unverkennbar aus Silikon besteht bzw. dass die Information, soweit man eine solche noch vermuten kann, unerkennbar geworden ist.

Es sind aber nicht nur die Zitate, sondern es ist ebenso sehr die Parteilichkeit bei der Informations¬über¬tragung, die es nach wie vor massiv erschwert, die Welt zu verstehen. Von den großen Medienkonzernen ist man sich zunächst sowieso gewohnt, dass die mindestens jenen Teil an Informationen nach Möglichkeit bändigen, der auf effektive Macht- und Herrschaftsverhältnisse hinweist; zu solchen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zählen übrigens heute ganz weit vorne die Medien und die Großkonzerne, aber das ist schon längst Allgemeinwissen. Aber heute beschäftigen schon die kleinsten Schrebergartenvereine ihre PR-Halbprofis, die man insgesamt eigentlich Bildhauer nennen müsste, indem sie zuhanden der Öffentlichkeit schöne Plastiken der von ihnen betreuten Kunden entwerfen. Die hohe Kunst besteht dabei darin, eine allfällige Kritik an ihrer Kundschaft gleich noch mit in die geschönte Darstellung zu integrieren. Die Informations¬land¬schaft, in welcher sich der suchende oder neugierige Kopf bewegt, ist fast ausschließlich mit Avataren bestückt. Am schönsten kommt dies dort zum Ausdruck, wo die persönlichen Mitarbeitenden von wichtigen Personen und Firmen die öffentliche Darstellung ihrer selber sowie ihrer Machenschaften auf Wikipedia regelmäßig zurecht biegen.

Am Schluss hat man gar den Eindruck, dass der Fehler gar nicht mehr in diesem Kommunikations¬mus liegt, sondern in der Person selber, welche die Welt verstehen will, anders gesagt: Wer heute noch eine Wahrheitsvermutung hegt, nämlich die Vermutung, dass unter der milliardenfach glitzernden Schicht an unwichtigen und sinnlosen Mitteilungen irgendwo eine echte und eigentliche Struktur bestehe, welche man eben erforschen sollte, damit man allfällige Ansätze zu Reformen und zur Weiterentwicklung des Großen Ganzen am richtigen und wirksamen Ort platziert, wer dies also vermutet, der hat möglicherweise einen Klaps, für den man ihn nicht geradewegs in eine Mühle zu stecken braucht, einige Medikamente reichen durchaus oder zur Not ein paar Runden eines Satiregipfels. Anderseits steht fest: Wenn man diese Vermutung aufgibt, die Wahrheitsvermutung nämlich, so unhaltbar sie im Grunde genommen auch sein mag, wenn man sie aber aufgibt, dann erklärt man sich selber und die Mitmenschen zu apolitischen Wesen, also zu Gestalten, welche keinerlei Einfluss auf das Geschehen und damit auch auf das eigene Leben zu nehmen vermögen. Beziehungsweise konkreter: Zum eigenen Leben bestehen durchaus noch Optionen, die aber alle auf der Stufe der Wahl zwischen verschiedenen Zahnpastamarken oder Mobiltelefongeräten aller Generationen liegen. Andere Dimensionen bleiben jenem Individuum fürderhin verschlossen, dessen sämtliche Rezeptoren mit Informationsmus verklebt wurden.

Es gibt aber noch Hinweise darauf, dass diese Wahrheitsvermutung nach wie vor funktionieren könnte. Den Großteil muss man sich allerdings aus Hypothesen zusammentackern. Eine brauchbare Hypothese erscheint mir diejenige, die Gesellschaft mit einem Organismus zu vergleichen. Hypothetisch ist daran nicht der an und für sich unbestreitbare Fakt einer organischen Interaktion unter den Individuen, sondern der Vergleich zur Entwicklung eines biologischen Organismus höherer Ordnung. Brauchbar an diesem Vergleich ist zunächst der Verweis auf die Entwicklungsstufe: Diese Gesellschaft befindet sich in keiner Art und Weise am Ende ihrer Ausbildung, vielmehr ist sie noch nicht mal richtig zur Welt gekommen. Diese Gesellschaft befindet sich in den letzten Phasen ihrer eigenen Grundentwicklung, und das heißt: Nach und nach bilden sich die Organe des kleinen Pflänzchens sichtbar aus. In dieser Gesellschaft gibt es nicht mehr nur zwei antagonistisch angeordnete Zellreihen, wie nach einer ersten Zellspaltung, sondern diese Gesellschaft besteht aus einem stets besser strukturierten Treiben der verschiedenen Individuen dank eben der Konkretisierung von verschiedenen Institutionen, welche für das Funktionieren auf höherer Ebene oder, wenn man beim Bild bleiben möchte, für eine demnächst bevorstehende Geburt unerlässlich sind. Was diese Institutionen dabei genau sind, kann ich nicht exakt angeben. Ich vermute, Geld ist eine davon. Geld ist nicht nur ein allgemeines Schmiermittel, sondern hauptsächlich jenes Ding, welches das Inkommensurable kommensurabel macht. Vor dem Preis sind alle Dinge gleich, egal, ob Eisen oder Gallerte. Ganz sicher ebenso wichtig ist die Moral. Wenn die Menschen keine innere moralische Struktur haben, kann man sie schlicht und einfach nicht gebrauchen. Die Moral umfasst nicht nur schöne Werte, sondern auch die innere Polizei, diese nötigenfalls auch mit innerer Gewalt durchzusetzen. Und dabei habe ich immer noch nicht gesagt, welche Moral. Soweit es uns selber betrifft, kann ich mich damit begnügen zu sagen: Na, unsere halt. – Etwas weniger komplex sind dann die äußeren Institutionen, namentlich Recht und Justiz, die man zwar zum Teil auch der Moral zuordnen könnte, die aber durchaus mehr sind, indem sie eben die äußere und nicht vor allem die innere Ordnung bringen. Ein besonders wichtiges inneres Organ unserer Gesellschaft ist die Arbeit, nämlich mit der Strukturierung des Alltags beziehungsweise des Lebenslaufes für eine große Mehrheit der Gesamtbevölkerung, vom 08/15-Fabrikalltag bis zur Koks-Woche von Bankern und Werbefritzen. Im Gegensatz zur verbreiteten Annahme, dass die Realökonomie so etwas wie das Skelett, mindestens aber das Rückgrat der Gesamtgesellschaft bilde, ist es vielmehr die soziale Sicherung, welche diese Funktion übernimmt; sie erscheint auf Anhieb subsidiär zu sein, also nur dort zu greifen, wo man sie effektiv benötigt, wenn die anderen Systeme ausfallen, aber in Tat und Wahrheit ist sie schon längstens unterstellt, bevor sie nötigenfalls subsidiär ausgelöst wird.

Ein Organ, das wir definitiv noch nicht entworfen haben, das ist die individuelle Freiheit, und zwar auf kollektiver Basis. Wir wissen zwar, dass wir uns für ein halbwegs zivilisiertes Zusammenleben in gewissen Lebens- bzw. Charakterbereichen disziplinieren müssen, und es gibt nicht wenige Menschen, die sich mit dieser Zivilisationsstufe gerne zufrieden geben. Aber einen wirklichen Fortschritt, den Übergang in eine neue Stufe, sozusagen eben die Geburt einer richtigen menschlichen Gesellschaft gibt es erst an dem Punkt, wo die Frage geklärt ist, wie sich alle Menschen selber verwirklichen können, zunächst völlig jenseits irgend eines Dienstes an der Gesellschaft und an der Produktion. Diese beiden Instanzen bleiben selbstverständlich in einem Ausmaß präsent, dass eine Abstraktion von ihnen schon geradezu als frivol erscheint, aber schließlich machen auch große Häuser und berühmte Etablissements ihren Umsatz mit Frivolitäten, weshalb sollte mir dies verwehrt bleiben.

Damit der Mensch in der Menschheit seine ihn definierenden Freiheiten voll zum Ausdruck bringen kann, muss er, soviel steht fest, eine anständige Grundausbildung haben, das heißt, er muss sowohl denken können wie ein Freigeist als auch jederzeit imstande sein, einen Wankelmotor im Dunkeln innerhalb von sechsundachtzig Sekunden auseinander zu nehmen und wieder zusammen zu setzen. So ein moderner Mensch muss wirklich so etwas wie ein Universalgenie werden, mindestens gemessen an früheren Wissensständen. Dazu reicht selbstverständlich eine einfache Schulbildung nicht aus; der Lernprozess muss auf die gesamte Lebenszeit ausgedehnt werden und somit institutionalisiert, das heißt, hier kommt ein relativ neues Organ zum Gesellschaftskörper dazu. Und dann geht die Spekulation los. Jemand hat mal gesagt, es wäre ein Horror, wenn sämtliche Menschen mit Sonntagsmalen beginnen würden. Dem kann ich nur zustimmen. Aber zu malen versuchen sollte man hin und wieder, und wenn sich hieraus gewisse Bewegungen ergeben, ist es mehr als recht. Ansonsten braucht Freiheit ja keine produktionistische Grundstruktur; im Gegensatz zum Satire-Gipfel braucht es keine Weltmeisterschaften in Freiheit, obwohl ich mir das ganz hübsch vorstellen könnte, 200 Meter Freiheit Freistil rückwärts oder so. Nein, ich bin nicht in der Lage, hier verlässliche Prognosen anzustellen jenseits des Slogans: Synapsen an die Macht! – Wenn unser Alltag allzu normiert und geregelt wird, dann hilft dagegen mittel- und langfristig sowieso nur ein Feuerwerk fehlgeleiteter Synapsenschaltungen.