"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Schirrmacher -

ID 45895
 
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Ich muss gestehen, dass mich Zweifel an mir selber befallen, wenn ich meine Reaktionen auf den Vorwahlkampf der US-Republikaner betrachte. Ich werde geschüttelt von so etwas wie einem seriellen wohligen Schauer ob den Kandidaten, die sich überbieten mit Idiotien, die kein Regisseur einem drittklassigen Drehbuchautor durchgehen lassen würde.
Audio
10:46 min, 15 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 24.01.2012 / 10:21

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 24.01.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Multimillionär Mitt Romney, der von den Steuergeschenken der Regierung des Hampelmannes Wilhelm Busch profitiert, will sich von den einfachen Amerikanern bzw. in der Sprache der Occupy-Wallstreet-Bewegung: von den 99% der normalen Leute wählen lassen, und er verspricht, die Vereinigten Staaten zu führen wie ein Unternehmen. Na denn gute Nacht, ihr Arbeitslosen und Sozialfälle, aber auch gute Nacht all jene, die drei Jobs gleichzeitig erledigen, um sich ein anständiges Leben finanzieren zu können. Newt Gingrich ist einer der erfahrensten und bestvernetzten Politiker in der Hauptstadt Washington und wettert gegen die Politiker in Washington, dass sich die Balken biegen. Alle zusammen bedienen eine bigotte, hinterwäldlerische, geifernd reaktionäre Weltsicht, die sich von der Ideologie der Taliban in keinem Jota unterscheidet, sofern man in beiden Fällen überhaupt von Ideologie sprechen kann. Der Libertarier Ron Paul will jegliche staatliche Organisation dem Erdboden gleich machen, aber immerhin behauptet er nicht, dass Gott himself die Erde vor knapp 6000 Jahren aus dem All gestampft hat, und er ist auch nicht dafür, sämtliche Länder außerhalb der Vereinigten Staaten zu bombardieren, und das muss man bereits als Fortschritt bezeichnen im Vergleich zu den übrigen Bewerbern der Grand Old Party. Wie gesagt: Bei so viel Klarheit und Eindeutigkeit kommen mir immer Zweifel auf, zunächst mir selber gegenüber, wie gesagt, und zwar, weil ich mit meinem Schauern ob der republikanischen Geisterbahn gleichzeitig eine latente Zustimmung zu den sozialdemokratischen Staaten in Europa empfinde, die ich so eigentlich gar nicht formuliert hatte. Denn wenn ich an dieser Stelle immer wieder von der Sozialdemokratie als aktuellem Stand der Dinge in Sachen Gesellschaftsentwicklung spreche, so nicht, weil ich die Entwicklung für abgeschlossen halte, sondern bloß, weil die Sozialdemokratie eben doch einen Fortschritt bedeutet gegenüber zum Beispiel den US-Republikanern, aber auch autoritären Staatsformen wie in Russland oder Weißrussland, gegenüber offensichtlich faulen Staatsformen wie in Griechenland oder Italien oder auch gegen einen offen rechtsnationalistischen Bruch wie z.B. in Ungarn; dabei weiß ich sehr genau, dass die Sozialdemokratie als solche absolut nicht gefeit ist gegen Nationalismus, und wenn es jemand wünscht, kann ich gerne mal den Diskurs der SPD in dieser Hinsicht durchforsten, und ich garantiere euch, hier von oben an bis unten aus fündig zu werden. Das wollüstige Schauern aber über die groteske Parodie der US-Republikaner muss einen direktemang in Ehrfurcht vor dem sozialdemokratischen Status quo erstarren lassen, und wie gesagt, so hatte ich das gar nicht gemeint mit mir selber.

Ich weiß nicht, wie viel dran ist an der Berichterstattung von diesem Idioten-Haufen. Fest steht nur, dass ein allfälliger republikanischer US-Präsident in seiner Politik nicht einen Bruchteil seiner geifernden Wahlkampf-Rhetorik einlösen könnte. Das Establishment ist bis tief in die republikanische Partei hinein konservativ in dem Sinne, dass es die Auseinandersetzungen um Macht, Einfluss und Geld in Washington D.C. niemals für einen kreationistischen Staatsstreich aufs Spiel setzen würde. Somit muss ich einfach vermuten, dass die Berichterstattung, welche meine Befindlichkeit ausbildet, ganz enorm vom sozialdemokratischen Medienkonsens geprägt ist, und zwar sowohl in Europa als auch auf der anderen Seite des Atlantiks. Die Medien ziehen ihr Publikum, also uns alle, mit den Schauermärchen aus dem republikanischen Kandidaten-Vorwahlkampf durch den Kakao. So ist das nämlich.

Der sozialdemokratische Medienkonsens hat auch in Deutschland seine Ikonen; eine davon ist zweifellos Frank Schirrmacher, der Mitherausgeber der CDU-Postille Frankfurter Allgemeinen. So richtig in mein Blickfeld hat er sich geschoben, als er im Einklang mit einem US-amerikanischen Konservativen begann, Marx zu loben, während gleichzeitig Sarah Wagenknecht ihre Lobgesänge auf Ludwig Erhard einspielte. In einem ausführlichen Interview in einem mir zugänglichen Schweizer Magazin, nämlich dem Magazin des Tages-Anzeiger, breitet er diesen Konsens aus, das heißt mindestens seine Version davon, über die man immerhin diskutieren kann. Zum Beispiel sagt er da, dass man in Deutschland im Zusammenhang mit der Finanzkrise eine Enthemmung erlebt habe in der Art und Weise, wie man über andere Länder spricht, und da weiß ich nicht mal, ob er damit nicht vielleicht mich selber gemeint hat, denn tatsächlich bin ich in meinem Urteil über euer Land bedeutend milder geworden seit dem Kollaps von Griechenland. Schirrmacher spricht aber vor allem von der Rolle, die Deutschland in Europa haben kann und muss und bei der das Bild des hässlichen Deutschen nach wie vor eine gewisse, wenn auch tendenziell abnehmende Rolle spiele. Dabei erteilt er eurer Frau Bundeskanzlerin ziemlich schlechte, wenn auch nicht gerade katastrophale Zensuren, so vielleicht eine 3 bis 4, ungenügend bis schlecht. Schirrmacher meint, Frau Merkel würde eine rein technokratische Haltung vertreten und nicht erfassen, was insgesamt auf dem Spiel steht mit der Einbindung eures Landes in Großeuropa. Ich selber bin mir nicht sicher, ob der Kulturjournalist Schirrmacher mit dieser Einschätzung richtig liegt, vielmehr bin ich mir ziemlich sicher, dass dies nicht der Fall ist. Er sagt, dass für Angela Merkel als Ostdeutsche die gesamte europäische Einigung erst 1989 begonnen hätte und dass sie an der Vorgeschichte überhaupt nicht interessiert sei; diese Äußerung zeigt meines Erachtens nur eines, nämlich dass Frank Schirrmacher die Bundesrepublik Deutschland immer noch mit Westdeutschland gleichsetzt und die neuen Bundesländer als ignorante, unwissende Tölpel, die aus einem historischen Niemandsland plötzlich in die schöne Stube der reichen Verwandten katapultiert wurden. Dementsprechend reproduziert Schirrmacher denn auch den ganzen Schwurbel aus der Zeit des Kalten Kriegs mit Adenauer, Kohl, De Gaulle und Konsorten, und dementsprechend beschreibt er auch die Ansprache des Zigarettenrauchers Helmut Schmidt auf dem SPD-Parteitag als Lichtblick, weil der Schmidt halt den aktuellen Problemen mit dem Vokabular aus der Zeit des geteilten Deutschlands beirücken wollte. Und das ist einfach eine echte Fehleinschätzung. Europa kann heute nicht mehr gleich diskutiert werden wie zu Zeiten Robert Schumanns. Die EU hat nicht zufällig, sondern in vollem Bewusstsein die Osterweiterung vollzogen, auch wenn die nicht überall ein Erfolg war; aber solche Dinge haben ebenso Prozesscharakter wie praktisch alles andere auch, und mindestens Polen steht ja in der Europalandschaft wie eine eins. Im Übrigen geht es nicht nur um die Osterweiterung, sondern auch um die Kräfte hinter der neuen Ostgrenze Europas, namentlich in Russland, und hierfür ist das Bewusstsein von Frau Merkel mit Sicherheit besser ausgebildet als jenes von Kollege Schirrmacher, wobei Frau Merkel klug genug ist, sich zu diesem Thema kategorisch nicht zu äußern und die entsprechenden Aktivitäten ihrem Vorgänger Schröder zu überlassen. Hierzu darf ich übrigens an dieser Stelle zwischendurch auch mal gratulieren, auch wenn ich den Genossen der Bosse sonst lieber kritisiere als lobe; aber diese Sorte von Arbeitsteilung leuchtet mir dann doch wieder ein, und dass man Deutschland-Botschafter nicht sein kann ohne jeden Status und Funktion, das gehört wohl auch zum größeren Spiel.

Daneben äußert Schirrmacher sein Missbehagen am Demokratie-Defizit in Europa, aber auch in Deutschland, und in dieser Beziehung habe ich dann wieder offenere Ohren, nicht zuletzt deshalb, weil sich Schirrmacher, wenn auch unter Wehklagen im Stil von «zu Helmut Schmidts Zeiten wäre das noch undenkbar gewesen», ausdrücklich auf die Schweiz bezieht und verspricht, sich in nächster Zeit vertieft mit dem Schweizer Plebiszit-Modell zu befassen. Zur Finanzkrise sind ihm dann wieder keine weiter vernünftigen Worte zu entlocken, aber das trifft wohl auf alle Kommentatoren des Zeitgeschehens zu und somit wohl auch auf mich. Höchstens wirft ein Zitat von Paul Krugmann ein bisschen Licht auf die ganze Lage, und zwar folgendes Beispiel: Es kann doch nicht sein, dass ein Hedgefonds-Manager mehr verdient als alle Lehrer des Bundesstaats New York zusammen. Dem würde ich natürlich nicht zum Vornherein widersprechen. Anderseits helfen solche Vergleiche nicht besonders viel, wenn es darum geht, das US-amerikanische Bildungssystem konkret zu verbessern, nicht zuletzt gegen den Widerstand der bildungsfeindlichen Teetrinker. Aber weiter: Schirrmacher nimmt dann ein wichtiges Thema völlig am falschen Ende auf, wenn er vom demografischen Wandel spricht. Dieser soll angeblich zu einer Schrumpfung der Bevölkerung in Deutschland führen; in Kürze sei die Mehrheit der Deutschen über 47 Jahre alt. Nun ist dies tatsächlich eine Vorstellung, welche zu Runzeln in der Stirne führen kann, wenn man nämlich erstens selber alt wird und zweitens sich in jener Gedankenwelt einschließt, welche mechanisch von der Fortsetzung der bisherigen Erwerbs- und Rentensysteme ausgeht. Dabei ist die Sache relativ einfach, wenn man genau die gleiche Frage so stellt, dass man eben andere Erwerbs- und Rentensysteme sucht, zum einen, und zum anderen die Sache auch international etwas dynamischer denkt. Rund um Europa und Nordamerika ist die Bevölkerung im Schnitt unter 20 Jahre alt. Wie kommt ein vernünftiger Kopf auf die Idee, dass wir jemals ein Überalterungsproblem haben könnten? So ein Überalterungsproblem kann nur dann entstehen, wenn man nationalistisch denkt, also sozusagen Lösungen nur für den eigenen Staat oder eben die eigene Nation sucht. Das ist nun offensichtlich der falsche Ansatz. Und das ist vielleicht die schmerzlichste Lektion, welche die europäische Sozialdemokratie lernen muss. Sie ist umso schmerzlicher, als die korrekte Politik, nämlich jene einer einigermaßen geordneten Öffnung gegenüber den umliegenden und vor allem südlichen Ländern, nur sehr schwierig durchzuführen ist gegen den Widerstand der dummnationalistischen Kreise wie z.B. eben in Ungarn. Wenn sich aber die selbsternannte intellektuelle Elite das Maul wund schwätzt mit apokalyptischen Prognosen über Überalterung und Kollaps der Rentensysteme, dann haben wir gerade im Kampf gegen diese nationalistische Dummheit überhaupt nichts gewonnen.

Wie gewinnen wir unsere Zukunft, jenseits der nationalistischen Idioten, aber eben auch jenseits des sozialdemokratischen Status quo? – Diese Frage beschäftigt mich eigentlich jeden Tag, unglücklicherweise, und zwar nicht zuletzt darum, weil ich bisher noch keinen brauchbaren Ansatz gefunden habe, während ich mich kategorisch weigere, alles selber zu machen.