"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Griechische Revolution -

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[07. Kalenderwoche]
Mein Ärger über die Griechen nimmt langsam schwulstige Formen an. Dass sie Deutschland-Fahnen anzünden, mag man ihnen nachsehen, aber dass die Verbrennung von Deutschland-Fahnen in dieser Situation die einzige Maßnahme ist, welche Volk und Regierung zu unternehmen imstande sind, das ist doch ziemlich empörend.
Audio
10:55 min, 15 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.02.2012 / 12:51

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 14.02.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das Parlament übt sich in politischer Propaganda statt in politischer Aktivität, was offenbar damit zusammenhängt, dass die Parlamentarierinnen noch nicht von einer Entlassung bedroht sind. Vor allem aber bin ich richtig konturiert wütend über die außerparlamentarische Opposition, egal, ob Anarchisten oder Rotarmisten. Die historische Lage ist ja ziemlich eindeutig: Alles am Arsch, das Land hoch verschuldet, das Parlament diskreditiert, die staatliche Organisation unrettbar verrottet, die Kapitalistinnen unfähig beziehungsweise inexistent – was hindert die Jungs und Mädels daran, eine Revolution durchzuführen? Gab es in der neueren Geschichte in Europa jemals einen klareren Fall von Revolution? – Offenbar ist diese Perspektive unter dem Bombardement der neoliberalen Ideologie völlig verloren gegangen, eben auch für die griechische Protestbewegung. Was soll das, muss ich eine kleine Anleitung geben? Man braucht für eine Revolution in Griechenland nur eines, nämlich die Unterstützung eines kritischen Teils der Armeeführung und der Polizei, und plopp, schon hat man das Land in der Tasche. Natürlich sollte man vorher ein kleines Programm schreiben, und zwar nicht in Java und auch nicht auf Kreta, sondern ganz normal ein paar Punkte zur Revolution und zur Neugründung des griechischen Staatswesens auf Papyrus schreiben oder in Stein meißeln, namentlich eine einigermaßen föderalistische republikanische Räterepublik, welche sofort sämtliche Auslandverpflichtungen des Landes für ungültig erklärt und als Währung den Roten Drachen einführt; die funktionstüchtigen Teile der Wirtschaft werden in der bisherigen Form weitergeführt, alles andere wird unter die Aufsicht einer landesweiten öffentlich-rechtlichen Aktiengesellschaft gestellt, welche sich die Mitarbeit der härtesten Hunde von McKinsey und weiterer Unternehmenssanierer sichert und den ganzen Karsumpel radikal sanieren; eine weitere öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft übernimmt die öffentlichen Dienste, also Energie, Wasser und Abwasser sowie Verkehr und Infrastruktur, und auch hier werden die übelsten Unternehmenssanierer angesetzt. Die Häfen und Schifffahrtsgesellschaften werden so oder so nationalisiert, wogegen der Tourismus-Bereich ungehindert weiter machen kann. Die Gewerkschaften werden angesichts ihrer traurigen Rolle im ganzen Prozess für die Dauer von 10 Jahren völlig verboten. Die öffentliche Verwaltung wird so schlank eingerichtet, wie weltweit noch nie eine Verwaltung war, und oben drauf beziehungsweise als Fundament kommt ein anständiges bedingungsloses Grundeinkommen.

Ist jetzt das wirklich schwierig? Nein, ist es nicht, das kann sich der dümmste Grieche zusammen nageln, bloß wieso tun sies denn nicht? Sind die Griechen noch dümmer als der dümmste Grieche? – Wirklich, das geht auf keine Kuhhaut. Ich kann euch sagen, liebe Griechen: Wenn Ihr mir diese Revolution gemäß meinen Grundzügen einrichten tätet, Ihr würdet sogar noch Aufbauhilfe von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung erhalten, der IWF würde Euch Kredite vorschießen, und die Türkei würde ihren Wirtschaftsminister zu einem mehrwöchigen Aufenthalt nach Athen entsenden, um mögliche Investitionen türkischer Unternehmen in eurem Land zu prüfen. Ihr hättet mit anderen Worten auf einen Schlag Aussichten auf ein Leben in Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit – und was tut ihr stattdessen? Ihr verbrennt Deutschland-Fahnen. Wohl bekomms.

Abgesehen davon geht es ja auch ohne Revolution, aber dann muss man halt effektiv die Sparpakete auch umsetzen, die man ausgehandelt hat. Mir persönlich ist es eigentlich egal, ob in Griechenland 150'000 Staatsangestellte wegen eines Sparpaketes entlassen werden oder im Rahmen einer ordentlichen, sauberen und modernen Revolution, wobei ich eben zweiteres vorziehen würde, aber wichtig ist, dass sie entlassen werden, und nach meiner Beobachtung kann man sich drauf verlassen, dass dies nicht stattfinden wird, weil sich die Politiker nach wie vor irgend einen Vorteil daraus erhoffen, wenn sie Deals abschließen, die sie anschließend selber sabotieren können, und sowieso erhalten sie als Politikerinnen ja nach wie vor ihren Lohn, vermutlich nach wie vor 15'000 Euro im Monat inkl. Dienstwohnung und persönliche Mitarbeitende. Aber ja.
Manchmal hilft es in solchen Fällen, wenn man sich von den jüngsten Mitteilungen der schöne Künste, sprich der Wissenschaft erbauen lässt. Britische Wissenschaftler haben jetzt offenbar ein Problem gelöst, das schon Leonardo da Vinci umgetrieben hat, und zwar die Rossschwanz-Gleichung. Diese besteht aus der Rapunzel-Zahl und der Neigung des Haars zur Bildung von Locken, Krausen und Wellen. Die Rapunzel-Zahl bildet den zentralen Faktor zur Berechnung des Einflusses der Schwerkraft auf das Haar im Verhältnis zu seiner Länge, und davon hängt dann auch ab, ob der Rossschwanz wie ein Fragezeichen am Hinterkopf hängt oder ob er zum Ende hin praktisch vertikal abfällt. Dabei gilt es noch zu berücksichtigen, wie eine Haarsträhne beeinflusst wird durch den äußeren Druck, der aus der Reibung zwischen den einzelnen Haaren entsteht.

Und die Bedeutung des Ganzen? Es geht um das Verständnis von faserförmigen Materialien, z.B. Wolle usw., und von Bedeutung ist es für die Filmindustrie bei der Animation der Bilder, wo die Darstellung von Haaren immer ein Problem war. Zudem gehe es um einige zentrale Leitsätze in der statischen Physik, und so weiter und so fort. Die gesamten Ergebnisse werden am 28. Februar vor der American Physical Society in Boston vorgestellt, falls jemand von euch daran teilnehmen möchte.

Ebenfalls von wissenschaftlichem Interesse scheint mir die neue Entdeckung, dass es vor ungefähr 50'000 Jahren im heutigen Südostchina zum Geschlechtsverkehr zwischen dem Homo bzw. der Femina Denisoviensis, was übrigens für Dyonisos stehen soll, und dem Homo Sapiens Sapiens kam und in Westasien zum Geschlechtsverkehr zwischen einem Neandertaler und einer modernen Menschenfrau. Und sicher mindestens so wichtig ist die Tatsache, dass Grabinschriften aus der römischen Kaiserzeit in Kleinasien zum Beispiel lauten konnten: «Sauf, friss, schwelge, vögle!», und dies war eben fast 2000 Jahre vor der heutigen griechischen Katastrophe. Diesen Fakt entnehme ich der Besprechung eines Buches von einem Herrn Christian Marek mit dem schönen Titel «Geschichte Kleinasiens in der Antike».

Weniger wissenschaftlich ist gegenwärtig das Geraufe zwischen den normalen islamischen politischen Strömungen in Nordafrika und den Ultrakonservativen. Wie in jeder halbwegs modernen Gesellschaft können sich die Ultras auf einen Fünftel bis einen Drittel der Bevölkerung stützen, in der Regel die weniger Gebildeten, welche den Eindruck haben, sie würden von der Weltgeschichte nur als Arschgeigen behandelt, und dieser Eindruck muss durchaus nicht immer täuschen. In Ermangelung weiterer Informationen und Einsichten stehen sie dann halt in der Schlange bei den Gebetsbrüdern, welche ihrerseits durchaus nicht immer Selbstmordattentäter sind; vielmehr handelt es sich um nichts anderes als um das Comeback der verlässlich ultrareaktionären und steinreichen Wahabiten, der Saudiarabier, welche nach einem Jahrzehnt der Schmach durch ihren Sprössling Bin Laden ihrerseits die Schnauze voll haben und sich wieder auf der Landkarte breit machen möchten. Ich schätze zwar ihre Erfolgsaussichten weder lang- noch mittelfristig für besonders hoch ein, aber umgekehrt will ich in erster Linie ihre Petrodollars nicht unterschätzen, welche in der Region noch einen Moment lang für Unruhe sorgen dürften. Daneben ist ja nicht einmal Saudiarabien selber aus Stein gemeißelt. Seit ungefähr einem Jahr dürfen dort Frauen bereits die Automobil-Fahrprüfung ablegen! – Und wenn das so weiter geht, dann wird Al Jazeera demnächst mal eine Reportage machen über die Sex- und Alkoholexzesse der Herrscherfamilie, und Saudiarabien mausert sich zu einem Staat, ungefähr vergleichbar dem Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert. Ein kleines Rätsel bleibt dabei die Zukunft von Syrien. Es wird ja wohl kaum ein Mensch auf der Erde an die Geschichte der armen Unterdrückten glauben, die sich jetzt opfermütig gegen ein despotisches Regime auflehnen. Homs ist ein paar Dutzend Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt und damit von der Hisbollah, welche die Interessen der iranischen Regierung am Mittelmeer vertritt. Weiter unten sorgt Syrien seit einiger Zeit für eine gewisse Stabilität an der Grenze zu Israel, das umgekehrt in letzter Zeit immer unverhohlener Drohungen gegen den Iran ausgestoßen hat. Oben dran murrt und muckt die Türkei, welche an und für sich schon genug bedient ist mit der Kurdenfrage, vom Irak wollen wir im Moment nicht sprechen, und eben, die Saudiarabier duschen ihre Lakaien mehr oder weniger in der ganzen Region mit einem ständigen Geldregen. Der Konflikt in Syrien, soviel steht für mich fest, hat mit dem arabischen Frühling an der Mittelmeer-Südküste überhaupt nichts zu tun. Und dass der Russe abgesehen vom geostrategischen Gleichgewicht nicht auch noch seinen wichtigsten Mittelmeerstützpunkt aufgeben will, wer wollte es ihm verdenken.

Zum arabischen Frühling aber habe ich immerhin noch die andere Meldung gesehen, wonach sich die Bevölkerung einer Region in Frankreich mit Händen und Füßen dagegen sträubt, dass ein dort ansässiger Automobilhersteller die Errichtung eines Werkes in Marokko oder Tunesien plant, weil sie mit einigem Recht davon ausgehen, dass dann bei ihnen die Arbeitsplätze davon schwimmen. Da haben wir den Konflikt in seiner ganzen Schönheit: Wenn man nämlich nicht will, dass von der Mittelmeer-Südküste weiterhin gewaltige Flüchtlingsströme ins Land sich ergießen mit reichem vollem Schwalle und so weiter und so fort, muss man eben auf der anderen Meeresseite Arbeitsplätze hinstellen. Dass dies den direkt Betroffenen nicht runtergeht wie geschmiert, versteht sich von selber, aber dass es offenbar keiner einzigen politischen Kraft beifällt, den Menschen den einfachen Mechanismus zu erklären sowie Möglichkeiten, in den betroffenen Regionen in Frankreich bzw. in ganz Europa Alternativen aufzutun, das spricht dann eben wieder Bände für die Verfassung, nicht nur der Politik, sondern ganz allgemein des öffentlichen Bewusstseins und des öffentlichen Diskurses. Nachdem sich die Linke so ziemlich vierzig Jahre darauf konzentriert hat, heiße Luft und Schwurbel abzusondern, ist sie offenbar nicht mehr in der Lage, auch nur die einfachsten, ja geradezu banalen Einsichten gegenüber der Bevölkerung zu vertreten. Und wenn die Scheiße dann am Dampfen ist wie in Griechenland, dann ist sie eben nicht mal mehr in der Lage, sich eine Revolution vorzustellen. Den Araberinnen und Arabern kann man so was verzeihen – für sie ist die Lage völlig neu. Aber die europäische Linke, die ist offenbar nicht mal mehr das Papier wert, auf dem ihre Programme gedruckt stehen.