Das social Distel-Ding – Die Welt spielt endgültig verrückt

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Teil 40 der Kolumne aus dem social distancing - Heute: Die Nachrichtenlage ist entgültig wahnsinnig geworden, Walter Lübcke wurde vor einem Jahr ermordet und: Lasst uns ein Europa entwickeln, aus dem die Nazis auswandern!
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06:42 min, 15 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 02.06.2020 / 15:31

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Umwelt, Politik/Info
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 02.06.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Oh je, oh je, oh je… Was ist hier eigentlich passiert? In den letzten 70 Tagen, seit dieses social Distel-Ding die Kolumne begonnen hat, entwickelt sich dieses größte soziale Experiment der Menschheitsgeschichte immer schneller. Die an dieser Stelle getroffene Aussage, dass in der Krise alles stinkt, was davor schon am faulen war, bewahrheitet sich in einer Art die so nicht zu erwarten war.
Dieses verlängerte Wochenende war ein einziges Chaos. Die Idee sich von Radionachrichten wecken zu lassen ist spätestens nach den letzten drei Tagen prüfenswert. Die Nachrichtenlage: fast eine halbe Millionen registrierte Covid-19-Fällen in Brasilien, Trump zieht sich in seinen Bunker zurück, weil vor dem Weisen Haus demonstriert wird und kündigt den Einsatz des Militärs im Inneren an, in München sind wir wieder bei einer Reproduktionszahl von über 1, mit Datteln 4 ging ein neues Steinkohlekraftwerk ans Netz und Markus „Corona-Kanzler der Herzen“ Söder fordert nun auch lautstark eine Autokaufprämie.
Wir können gleich weiter machen: In Brasilien gibt es Straßenschlachten zwischen Regierungsgegnern und Pro-Bolsonaro-Demonstranten während tausende Menschen an Covid-19 sterben und der Regenwald in einem Rekordtempo abgeholzt wird; in den USA sind seit der öffentlichen Ermordung von George Floyd durch mindestens einen Polizeibeamten mindestens sechs Menschen in Zusammenhang mit den Protesten getötet worden, all das während die Pandemie vor allem Leben in den afroamerikanischen Communitys zerstört, während die Berichterstattung massiv eingeschränkt wird und sogar Pressevertreter der Deutschen Welle von Polizisten und anderen Staatsgewaltsvertretern angegriffen wurden, ein Team von CNN sogar vor laufender Kamera verhaftet wurde; in Deutschland versucht die Springer-Presse nicht nur den Virologen Christian Drosten als nicht vertrauenswürdigen Experten darzustellen, sondern lädt auch noch den faschistischen Strategen der internationalen neuen Rechten, Steve Bannon, zum Interview. Ach ja, und dank Trump haben wir in der Bundesrepublik jetzt auch wieder eine Debatte darüber ob „Antifa“ das Kurzwort für Antifaschismus ist oder doch für eine Organisation steht, die zu verurteilen sei. Und um den Blick nicht nur im Westen weilen zu lassen: China bereitet gerade die endgültige Niederschlagung der Pro-Demokratiebewegung in Hong-Kong vor und überwacht und kontrolliert seine Bürger so umfassend, dass es Xi Jinping fast gelingt uns weiß zu machen, dass er unwidersprochen für 1,4 Milliarden Menschen spricht.
Bei einer sich so überschlagenden Nachrichtenlage ist es schwer einen kühlen, nüchternen Blick zu wahren und sich nicht angewidert abzuwenden und ins Private zu flüchten. Aber zum Glück wird das nicht zu einfach gemacht. So hat beispielsweise Sony jetzt sein für den 4. Juni geplantes Playstation 5 Event abgesagt, weil sie meinen die Welt hätte gerade wichtigeres zu tun, als über seine neue Spielekonsole zu berichten.
Aber eigentlich geht es uns ja gut. Wir sitzen in Deutschland und beschweren uns über die Einschränkung unserer Freiheiten. Wir sonnen uns am See und fachsimpeln darüber, dass die Virologen ständig ihre Meinung ändern. Wir feiern auf Schlauchbooten für den Erhalt der Rave-Kultur. Wir fahren in den Urlaub, dürfen wieder rasen und freuen uns unbändig darauf bald günstiger an ein neues Auto zu kommen. Genießen die Autokinos und freuen uns über innereuropäische Grenzöffnungen während darauf bestanden wird, dass die europäische Außengrenze dicht bleiben muss. Unsere große Sorge ist vielleicht, dass wir die faulen europäischen Nachbarn mit Steuergeldern unterstützen.
Dass die Welt außerhalb Europas mittlerweile sehr viel weniger frei, sehr viel weniger menschlich und sehr viel brutaler geworden ist, führt augenscheinlich nicht dazu, dass der Sinn und der Wert der europäischen Einigung stärker erkannt wird. Aber ohne ein starkes Europa sieht es zappenduster aus.
Natürlich hat die Europäische Union zahllose Probleme. Die Omnipräsenz der Lobbyvertreter und die mangelhafte Einigung auf einen europäischen Wertekatalog sind jedem bewusst. Auch das Politiker*innen das Spiel mit der EU so treiben, dass sie das Gute wollen aber von den Spielverderbern in Brüssel darin gehindert werden, ist eklatant. Erinnern wir nur an Andi „ich habe eine andere Rechtsauffassung als der EuGH“ Scheuer.
Aber all diese Spielereien sind spätestens jetzt unangebracht, da alle großen Mächte von autoritären Herrschern regiert werden, die die Pressefreiheit mit Füßen treten, die Meinungsfreiheit durch Faktenchecks eingeschränkt sehen, die Opposition zum Gegner erklären, gegen den Gewalt angewendet werden darf, den internationalen Frieden für politische oder regionale Zugewinne riskieren, Menschenrechten die Universalität absprechen.
An einer großen, starken und nachhaltigen europäischen Einigung führt in dieser Weltlage kein Weg mehr vorbei. Das bedeutet zwar, dass wir Souveränitätsrechte abgeben und damit weniger Einfluss auf Dinge haben die uns nicht passen, aber die Gefahr diese Souveränitätsrechte mit den europäischen Nachbarinnen und Nachbarn zu teilen ist viel geringer, als diese Souveränität aus Abhängigkeit zu einem dieser autoritär agierenden Super- oder Regionalmächte aufgeben zu müssen.
In einer zivilgesellschaftlichen, demokratischen und politischen Einigung Europas liegt unsere beste Chance die über die letzten Jahrhunderte unter Einsatz zahlloser Menschenleben erkämpften Rechte in der Zukunft verteidigen zu können.
Und zuletzt noch ein Wort zu einem Ereignis das in der aktuellen Nachrichtenlage unterzugehen droht: Heute vor einem Jahr wurde Walter Lübcke ermordet. Nach allem was bisher ermittelt wurde kann gesagt werden: Von mindestens einem Nazi.
Als Auslöser dieses letztlich tödlichen Hasses auf Walter Lübcke gilt dieser Satz:
„Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
Daran Anschluss nehmend: Lasst uns ein Europa entwickeln, aus dem die Nazis auswandern!