Echt jetzt?! - "Rassismus gegen Weiße" und Farbenblindheit

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Eine Frage der Macht - Rassismus ist der Vater von „Rasse“ – nicht umgekehrt

Wir hören Ausschnitte aus dem Podium vom Carl-Schurz-Haus am 8. Juli 2020 mit dem Titel "America On Fire Pt. 2: Racism, Police Reforms and the U.S. Elections 2020"

Es geht darum, daß manche Weiße Leute fürchten, ihre Priviliegien zu verlieren. Deshalb wird gern so getan, als gäbe es kein Problem (Farbenblindheit). Oder es wird plötzlich von „Rassismus gegen Weiße“ gesprochen. Eine recht absurde Konstruktion, wenn mensch die Machtverhältnisse, die Völkermorde in der Geschichte der Welt, die sysematische Zerstörung von Kultur uns Sprache während der Kolonialzeit und die andauernde weltweit Weiße Vorherrschaft betrachtet...

Niemand wird bestreiten, daß es auch Fälle von Gewalt von Schwarzen oder People of Color gegen Weiße gibt – aber das ist in etwa zu vergleichen mit häuslicher Gewalt: es kommt zwar vor, daß Männer die Opfer sind, doch das ist dann doch eher die Ausnahme. Gewalttaten gegen Weiße muß in den allermeisten Fällen als Antwort auf Unterdrückung, Versklavung, Entrechtung und Ausbeutung gesehen werden. Das beschrieb auch Frantz Fanon eindrücklich in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ aus gesamtafrikanischer Perspektive – es geht um koloniale Gewalt und Gegengewalt der Unterdrückten in den kolonisierten Ländern, die antikoloniale Bewegung und die Entkolonialisierung oder Dekolonisation Algeriens….

Wir hören Nicole Palazzo von der Stadtbibliothek im Gespräch mit Esther T. Earbin vom Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, und dem Sprachleher Reginald Anthony.
Audio
09:29 min, 22 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 20.07.2020 / 18:07

Dateizugriffe: 54

Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: MoRa3X
Entstehung

AutorInnen: die meike, Carl-Schurz-Haus
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 20.07.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Esther: Wir hatten hier ein Land, in dem ein Großteil der Arbeit von einer Gruppe Menschen mit einer sehr klar erkennbaren Eigenschaft gemacht wurde – ihrer Hautfarbe. Und denkt daran: das war weltweit so! Wir sprechen von der Zeit des Kolonialismus. Schwarze, People of Color und sogar indigene Leute wurden kategorisiert. Die Kategorisierung erfolgte nach dem Konzept des Weißseins (whiteness), welches im Gesetz festgeschrieben war. Das waren die tatsächlichen gesetzliche Begriffe: Weiß, people of color… Diese Dinge erschaffen Rassismus. Rassismus existierte vor „Rasse“, denn die Gesellschaft mußte ja nach irgendwelchen Maßstäben geordnet werden, um Menschen gesondert behandeln zu können. Das führt tatsächlich noch weiter: der Chinese Exclusionary Act, war das erste auf der Ethnie basierte Gesetz, das Einwanderung aus China regulieren sollte. Und dieses Gesetz hat bis heute Auswirkungen darauf, wie wir einzelne Individuen aus China oder Asien in den USA behandeln oder sehen.
Dann dieser Terminus „Amerikaner“. „Amerikaner“ sind im allgemeinen Weiß. So ist das generelle Verständnis.
Das sehen wir auch in den Mainstreammedien: Ich sage immer zu meiner Tochter – kuck dir nicht nur 12 Years a Slave an! Ich möchte Schwarze Menschen sehen, die sich verlieben, die lachen – nicht nur solche, die in Ketten liegen und unterdrückt werden.

Nicole: Was ist mit sogenanntem „Rassismus gegen Weiße Menschen“? Das war die Frage, die uns im Chat zugesandt wurde. Wie begegnest du dem; wie erklärst du Leuten – und so war die Frage formuliert – daß das gar nicht existiert?

Reggie: Ich versuchs mal zu erklären. Du hast Vorurteile. Vorurteile gibt es bei allen Menschen. Wenn ich dich nicht kenne; wenn ich nicht soviel Erfahrung habe mit Leuten einer anderen „Ethnie“ oder „Rasse“ (race) und wenn ich von einer bestimmten rassistischen Ideologien indoktriniert wurde, nach der ich jemanden hasse, der aussieht wie du – dann denke ich, daß du unter mir stehst. Rassismus gegen Weiße Leute wird kompliziert, denn wenn ich mich umsehe, dann sind da nur Weiße Leute in Machtpositionen. Ich kenne nicht viele Weiße Leute, die Schwarze Chefs oder Chefinnen haben. Ich kenne nicht viele Leute, die von einem Schwarzen Hausbesitzer oder einer Schwarzen Hausbesitzerin aus ihrem Haus geworfen wurden oder von ihr davon abgehalten werden, in einem bestimmten Viertel zu leben und zu arbeiten.
Wollt ihr eigentlich mit Schwarzen Menschen arbeiten? Wollt Ihr einen Schwarzen Chef, eine Schwarze Chefin haben; mit Schwarzen Kindern zur Schule gehen?
Denn ganz generell gesagt: Als ich aufwuchs hatte ich nie das Gefühl, daß Weiße Leute viel mit mir zu tun haben wollten. Wenn wir also von „Rassismus gegen Weiße“ sprechen, dann müssen wir davon sprechen, wer von wem davon abgehalten wird, sein Leben zu leben.
Ich kann von meiner eigenen Biographie erzählen, daß ich mit den Eltern eines Mädchens, das ich sehr mochte, zu tun hatte. Der Vater fragte seine Tochter, warum sie sich mit mir abgäbe. Er hatte definitiv ein Problem mit meiner Hautfarbe und hatte etwas dagegen, daß wir uns weiterhin träfen!
Es gibt die Absicht, die Segregation aufrecht zu erhalten, Weiße und People of Color getrennt voneinander zu halten. Wenn ich also an Rassismus denke, dann denke ich an systematische Unterdrückung. Wenn du von dem Führen eines freien Lebens und dem Streben nach dem Glück abgehalten wirst.
Wenn du also diese Erfahrung mit Schwarzen Leuten gemacht hast, dann können wir nochmal darüber reden, ob es das gibt, „Rassismus“ gegen Weiße.
Aber das letzte Mal, als ich nachgeschaut habe, hatten wir Schwarze diese Macht einfach nicht.

Ein Zitat aus einer Rede des Wissenschaftlers Gregory Jay aus dem Jahr 1998 mit dem Namen „Wer erfand Weiße Leute?“: „Eines der Dinge, die sich radikal veränderten seit dem Tod von Dr. King ist, daß die meisten Weißen Leute sich nicht als Weiße Leute bezeichnen wollen, oder sich irgendwie ethnisch (racial) einordnen wollen.“ Jay erklärt weiter, wie die Schwarze Bürgerrechtsbewegung der 60er unerwarteterweise zur Entstehung des Konzepts Farbenblindheit führte. Also Leute, die behaupten, für sie würde Ethnie und Hautfarbe keine Rolle spielen. Und dieses Konzept findet sich bis heute auch in Institutionen wie der Strafverfolgung und auch in Schulen. Die Idee von Farbenblindheit erlaubt es, daß das Problem implizit statt explizit wird. Es macht es schwerer, den- oder diejenige, die sich rassistisch verhält anzusprechen. Außerdem wird hierbei von Weißen nicht verlangt, sich irgendwie zu kategorisieren und somit normalisiert es Weißsein.

Reggie: Man sagt ja, Rassismus sei der Vater von „Rasse“ und nicht das Kind. Zuerst mußt Du Dich fragen, wer bist du? Und was hast du über dich selbst gelernt, als du ein Kind warst? Was steht auf deiner Geburtsurkunde? Ich definiere „Rasse“ vor allem damit, wie ich aufwuchs – mein Name, meine Daten, wo ich geboren wurde undsoweiter. Und dann gibt es immer den Ort, an dem steht: Schwarz, Weiß, afrikanischer Abstammung und alle anderen Kategorien. Früher wurde ja jeder und jede, die nur einen Tropfen afrikanischen Blutes hatte, als Schwarz bezeichnet. Aber wenn du darüber nachdenkst, was eine farbenblinde Gesellschaft ist – du kannst nicht farbenblind sein, und dich selbst immer noch irgendwie „ethnisch“ einordnen. Das ergibt doch keinen Sinn! Dann würde ich den Terminus, der mich als Schwarzer oder Afroamerikaner bezeichnet nicht mehr benutzen wollen. Das müßte dann natürlich auch verschwinden.
„Rasse“ oder „Ethnie“ ist ja ein soziales Konstrukt, ich hoffe, wir können uns alle darüber einigen.

Nicole: Es gibt einen täglichen Nachrichtenpodcast der New York Times mit Namen The Daily. Anfang Juli gaben sie dort Vincent Champion eine Stimme. Er ist der regionale Geschäftsführer der Internationalen Bruderschaft der Polizeibeamten im Südosten. Er sitzt in Atlanta und vielleicht wißt Ihr es – seit unserem letzten Podium im Juni gab es dort eine tödliche Schießerei der Polizeibehörde von Atlanta. Sie ermordeten Rayshard Brooks, der in seinem Auto auf einem Parkplatz eingeschlafen war.
Vincent Champion also leitet die Polizeibehörde in dieser Gegend und sagte etwas sarkastisch von sich selbst: „Ja, offensichtlich bin ich rassistisch, denn ich würde sagen, ich sehe keine Farben.“ Und dann versuchte er zu erklären, daß er keine Hautfarben sähe und folglich alle Leute gleich behandelt.

Reggie: Wenn ich jemanden sagen höre, er oder sie sei farbenblind – daß sie mich nicht als Schwarz wahrnehmen würden oder eine Person of color als solche sähen – dann kann ich mich nur am Kopf kratzen und sage: „Echt jetzt?!“
Wenn ich in einen Raum komme, und ich bin die einzige Person of color, verändert sich die Dynamik in dem Raum sofort. Ob es die Leute wahrnehmen oder nicht, sie haben vielleicht unterbewußt einen Blick auf mich geworfen. Und es gibt vielleicht so eine Art Nachricht, die da in dem Moment weitergegeben wird: Amy Chua hat darüber ein Buch geschrieben mit dem Namen Political Tribes (politische Stämme). Die Leute – ob du es glaubst oder nicht – suchen Genossinnen, Kameraden und Akzeptanz durch andere, die genauso sind wie sie. Das ist nicht zu unterschätzen! So kommst du voran in der Gesellschaft; so zeigst du, daß du ein Mitglied des Klubs bist. Wenn du dich also plötzlich entscheidest, dich zu outen, und zu sagen: “Ich bin Antirassist”, dann gibt es höchstwahrscheinlich Konsequenzen. Niemand will aus dem Klub hinausgeworfen werden. Und diese Dynamik spürst du direkt. Wenn du sagst, du bist farbenblind, dann kehrst du die ganze Thematik unter den Teppich. Damit sagst du: “Alles ist in bester Ordnung, es gibt keine Probleme.”

Buchtip von Reggie:

https://en.wikipedia.org/wiki/Political_...