Kolonialismus und Raubkunst

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Kolonialismus ähnelt dem Krieg in vielerlei Hinsicht, auch insoweit, als dass Beute gemacht wird. Landnahme, Aneignung wertvoller Rohstoffe und Kunstobjekte gehören zu beiden dazu. Mit dem zunehmenden Bewußtsein bei den ehemaligen Kolonialherren, dass der Kolonialismus schweres Unrecht war, ist auch das Bewußtsein dafür gestiegen, dass geraubte Kunst, Kultgegenstände und andere Kulturgüter zurückzugeben sind. Damit jedoch alle Stakeholder im Geiste eines gedeihlichen Miteinanders zusammenkommen, sollte man über Konzepte wie "culture sharing" nachdenken. Neben der Restitution eines großen Teils indigener Kunst - bei einem einvernehmlichen Verbleib einzelner Objekte zu pädagogischen Zwecken im Westen - geht es dabei darum, Wege und Mittel zu finden, wie die ehemaligen Kolonialvölker uns ihre Geschichten in ihren eigenen Worten erzählen können.
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11:22 min, 12 MB, mp3
mp3, 144 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 05.08.2020 / 09:51

Dateizugriffe: 1700

Klassifizierung

Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Internationales
Serie: Weiß auf Schwarz
Entstehung

AutorInnen: Chris Carlson
Radio: radio flora, Hannover im www
Produktionsdatum: 04.08.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Im November 2018 erhielt der französische Präsident Emmanuel Macron einen „Bericht über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes“. Macron hatte den Bericht bei zwei Wissenschaftlern in Auftrag gegeben: dem senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr und der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. Zusammen forschten die beiden acht Monate lang, in Frankreich ebenso wie in afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Sie fassten ihre Ergebnisse und Empfehlungen auf rund 200 Seiten zusammen. Macrons Entscheidung, afrikanische Kulturgüter tatsächlich zurückzugeben, hat eine breite Debatte ausgelöst – ebenso wie der dazugehörige Bericht.

Über den Krieg sagt man, er sei ein Raubüberfall im Großformat. Leider konnte ich nicht herausfinden, wer das ursprünglich gesagt oder geschrieben hat. Ähnliche Aussagen gibt es bei Platon oder beim heiligen Augustinus, der große Imperien mit Piraten verglichen hat. Shakespeare macht eine ähnliche Aussage über die Politik allgemein in seinem Stück "Heinrich der IVte", als Falstaff und der künftige König Prinz Hal reiche Reisende überfallen, um einen Feldzug nach Frankreich zu finanzieren. Vermutlich ist die Beobachtung so alt wie der Krieg selbst, denn ganz sicher drängt sie sich einem geradezu zwangsläufig auf.

Kolonialismus war (und ist) auch eine Art von Krieg. Dies ist nicht weniger der Fall, bloß weil die kolonisierten Völker oft angesichts der erdrückenden Übermacht der Kolonialherren wenig oder gar keinen Widerstand leisteten. Manchmal haben sie sogar lange Zeit gar nicht verstanden, was mit ihnen gerade passierte. Das ist auch schwierig, wenn kulturelle Unterschiede zu groß sind. Als irgendwelche weißen Europäer aus den Niederlanden die Insel Manhattan für ein paar Glasperlenketten und anderen billigen Talmi kauften, haben die Indianer sich vermutlich scheckig gelacht über die naiven Fremden, die glaubten, man könnte eine Insel, ein Stück Erde, was allen Menschen, überall auf der Welt gehört, kaufen. Erst später haben sie verstanden, dass dieser Kauf nach dem europäischen Recht gültig war. Bestand hatte. Es war womöglich das erste Mißverständnis in einer ganzen langen Kette von Mißverständnissen.

Es gibt etwas - einen deutschen Ausdruck dafür habe ich nie gefunden - das nennt sich auf englisch "outside context problem". Gemeint ist, eine Kultur, ein Volk, hat ein bestimmtes Verständnis der Welt entwickelt und ein System, das mit diesem Verständnis ganz gut umgehen kann. Dann taucht plötzlich was Neues auf, etwas aus einem anderen Kontext, aus einer anderen Welt. Und dieses neue Etwas wirft alle alten Gewißheiten über den Haufen. Das ist den indigenen Völkern in Nord- und Südamerika, in Afrika und in großen Teilen von Asien passiert. Die Berechenbarkeiten der Steinzeit, des Nomadentums, der nachhaltigen Subsistenzwirtschaft nahe an der Natur, wurden über den Haufen geworfen von Menschen, die riesige Segelschiffe mit Kanonen und Soldaten mit Musketen hatten. Von Menschen, die Geld und Gesetze, die Steuern, Grenzmarkierungen und Eigentumsurkunden hatten. Das mag zwar ein wenig formal klingen, hatte aber eine große Bedeutung. Ich habe mal in Mädiavistik einen Hauptseminarschein über die Deutsche Ostkolonisation gemacht. Da wurde uns erklärt, dass man Schlesien, Pommern oder Ostpreußen besiedeln konnte, obwohl es da schon eine indigene Bevölkerung gab, aber nicht etwa Polen, Böhmen oder Mähren. Der Grund: letztgenannte Gebiete hatten eine anerkannte staatliche Ordnung. Man konnte diese Länder nur mit einem von der Kirche akzeptierten casus belli, also mit einem legitimen Kriegsgrund, angreifen. Die anderen Siedlungsgebiete hatten jedoch nichts, was das christliche Mittelalter als staatliche Strukturen anerkannt hätte. Und natürlich war das dort lebende Volk somit rechtlos. Man konnte nehmen, was immer man wollte.

Und was für die deutsche Landnahme in den slawischen Siedlungsgebieten galt, galt auch für Land – und sinngemäß auch für Kunstwerke – in den späteren Kolonien der europäischen Länder. Mangels von den Europäern anerkannten Eigentumsverhältnissen gehörten Kunstwerke automatisch den neuen Kolonialherren, soweit diese sie haben wollten. Was allerdings nicht zwangsläufig bedeutet, dass alles nur gestohlen oder geraubt wurde. Die Sachlage ist schon etwas komplizierter.

In Deutschland befinden sich ungeachtet seiner relativ kurzen und auf wenige Länder beschränkten Kolonialgeschichte eine sehr große Zahl afrikanischer Kulturgüter in staatlichen, kommunalen oder privaten Sammlungen. Spätestens seit 2015 führte die Ankündigung, die Bestände des Ethnologische Museums in Berlin in das künftige Humboldt Forum zu übernehmen, zu Diskussionen in der Öffentlichkeit und Wissenschaft über die Neubewertung der Kolonialgeschichte sowie der kolonialen Sammlungen.

Auch schon vor der für Ende 2019 angekündigten Eröffnung stand das Humboldt Forum in der Kritik. Unter anderem wurde der Vorwurf erhoben, sich durch den Verweis auf gründliche Provenienzforschung der Forderung nach dauerhaften Restitutionen entziehen zu wollen. Als Beispiel für diese Kritik kann die folgende Einschätzung des Kulturkritikers Hanno Rauterberg in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT dienen:

Zitat: „Wer nämlich anfängt, gründlich nach der Herkunft der Objekte und ihrer Erwerbsgeschichte zu fragen, der merkt rasch, dass die Macher des Humboldt Forums einem Selbstbetrug aufsitzen. Sie wollen das Schloss als einen Ort der Toleranz und Umsicht preisen, hier zeige man ‚Respekt vor anderen Kulturen‘ (Hermann Parzinger) – und doch gründen sich die Sammlungen nicht allein auf Weltneugier und Entdeckergeist. Sie verdanken sich auch großer Gewalt und Herrschsucht.“

Als Reaktion auf den Bericht von Sarr und Savoy lehnte der Kunsthistoriker und ehemalige Gründungsintendant des Humboldt Forums Horst Bredekamp ihre Bewertung des kolonialen Charakters der Sammlungen in Deutschland ab. Er bewertete die deutsche Tradition der Ethnologie vielmehr als im „aufklärerischen Geist entstanden, der koloniale Bestrebungen ablehnte.“

Tatsächlich gibt es eine recht lange Tradition der ethnologischen Forschung in Deutschland. In deren Rahmen gab es auch durchaus Übereignungen von indigenen Kunstwerken durch Tausch, legitimen Kauf oder durch genuine Schenkung. Allerdings ist die tatsächliche Provenienz eines Kunstwerks nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten oft im Zweifel nicht mehr eindeutig zu belegen.

Glücklicherweise unterliegen wir nicht dem Zwang, entweder alle kolonialen Kunstgüter zu behalten - oder sie alle zurückzugeben. Es gibt Mittelwege … und Kompromisslinien.

Ein Ansatz, den ich persönlich vielversprechend finde, heißt „culture sharing“, kulturelles Teilen. Es gibt in Australien z.B. ein Projekt, das so heißt. Vordergründig geht es beim Projekt darum, die Traumata der indigenen Völker, die sie durch die Jahrhunderte der Kolonialisierung und der Diskriminierung und Mißachtung ihrer kulturellen Werte erlitten haben, zu heilen. Dazu zählt u.a., dass sie der weißen Mehrheit ihre Geschichte und ihre Geschichten selbst mit eigenen Worten erzählen. Es ist ein sehr komplexes, sehr vielgestaltiges Programm, das leider hier nicht im Rahmen dieses Beitrags umfassend gewürdigt werden kann.

Was culture sharing für die Frage der Rückgabe geraubter Kunst bedeuten könnte, wäre z.B., dass ein freundschaftliches Einvernehmen zwischen den ehemaligen Kolonialherren und den ehemaligen Kolonien hergestellt wird, bestimmte Kunstobjekte oder Artefakte zurückzugeben - indessen andere in Europa verbleiben könnten. Dies diente dann auch dem Ziel der besseren Information und Bildung im Hinblick auf die indigenen Kulturen und Geschichten. Teilweise hat die westliche Wissenschaft durch Erforschung der Kunstobjekte wertvolle Erkenntnisse gewonnen. Darauf kann man durchaus stolz sein, und dieses Wissen bleibt uns natürlich auch dann erhalten, wenn die Objekte selbst an die Ursprungsorte zurückgehen. Auch wird man es sicher nicht versäumen, hochwertige Photoaufnahmen oder sonstige wirklichkeitsgetreue Nachbildungen anzufertigen.

Insofern gibt es hier sicher gute Möglichkeiten, das Richtige zu tun und gleichzeitig das Weltwissen zu mehren und der Völkerverständigung zu dienen.

Kommentare
06.08.2020 / 08:07 hikE, Radio Unerhört Marburg (RUM)
in der Frühschicht am 6.8.2020
gesendet. Danke!