Das social Distel-Ding – Die passive Katastrophe

ID 108409
 
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Teil 69 der Kolumne aus dem social distancing. Diesmal mit der Feststellung, dass das alles wohl doch kein großes soziales Experiment ist, sondern viel mehr eine passive Katastrophe. Sowohl für uns, die wir nichts tun dürfen, als auch der Politik.
Audio
07:53 min, 7403 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 15.04.2021 / 17:23

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 15.04.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Liebe social Distel-Dinger, es ist Zeit die Gedanken und Begriffe zu ordnen.
Nach über einem Jahr Pandemie ist das was wir erleben kein soziales Experiment mehr. Eigentlich war es auch nie ein Experiment, viel mehr ein externer Stressfaktor, von dem dieses social Distel-Ding dachte, dass er besser zu vertragen ist, wenn es für sich die Beobachterposition beansprucht. Die Idee einer Innenberichterstattung, der mitfühlenden Beobachtung und des kommentierenden Mitleidens wird der anhaltenden Situation aber nicht mehr gerecht.
Letztlich ist das Experiment gescheitert. Die globalisierte Welt ist nicht fähig sich darauf zu einigen, dass die Bekämpfung einer Pandemie ein Unterfangen ist das allen gemeinsam gelingen muss.
Diese schöne Vorstellung hat Schiffbruch erlitten und während alle versuchen sich zu retten, machen manche ein Wettschwimmen und andere ein Wetttauchen daraus. Diejenigen die es sich leisten können nutzen natürlich schicke Rettungsmittel, wie Jetskis bzw. Impfstoffe. Und wenn sie sich in Sicherheit wiegen, beginnen sie ein Geschäftsmodel aus ihrem Jetski zu machen und bieten Hilfe gegen Geld. Gleichzeitig steigt der Meeresspiegel und eine Welle nach der anderen droht dann doch alle mit sich zu reißen.
Okay, genug mit den Analogien auf Ebene der Staaten und Länder. Letztlich verbleiben wir Distel-Dinger immer in der Abhängigkeit und können… wenig bis nichts tun!
Das Experiment ist gescheitert, was bleibt ist die passive Katastrophe.
Ca. 3 Millionen Menschen weltweit sind mittlerweile an oder mit Covid 19 gestorben. Unsere beste Antwort darauf bleibt: social distancing.
Leider scheint daran auch die Impfung nicht sonderlich viel zu ändern. Natürlich bleibt die fromme Hoffnung, dass wir es schaffen die Virusverbreitung über die Impfungen aufzuhalten, ohne dass die Mutationen die Impferfolge auffressen. Nur ist auch diese Hoffnung eine passive. Alles was wir dafür tun können, ist uns zurücklehnen, unseren Drang nach Leben einschränken und zur Impfung erscheinen. Nichts weiter. Passiv bleiben, abwarten, überleben. Und natürlich weiter arbeiten. Die letzte Ablenkung, der letzte Kontakt zu anderen Menschen, die Struktur die das was viele „Normal“ nennen aufrechterhält.
Passive Katastrophe. Irgendwo sterben Menschen, irgendwo kämpfen Menschen um ihr Überleben, irgendwo brechen Existenzen zusammen, irgendwo ist alles anders als hier, in der Wohnung. Der Blick aus dem Fenster verrät nichts von der Pandemie-Katastrophe, der Spaziergang zeigt nur etwas seltsames menschliches Verhalten und erhöhte Polizeipräsenz. Und selbst wenn uns auffällt, dass Menschen krank sind, dass Menschen sterben, dass die Intensivstationen sich gefährlich füllen, dass diese Katastrophe existiert, bleibt den meisten von uns nur eins: Passiv bleiben, Abstand halten, Ansteckung vermeiden.
Diejenigen die helfen können überarbeiten sich massiv, diejenigen, die nicht helfen können, werden überwiegend passiv. Neue Worte wie „mütend“ machen die Runde und richten sich gegen die andere passive Katastrophe: Die Politik bzw. die Regierung.
Auch wenn gerade die K-Frage zu plötzlicher Aktivität geführt hat, ist die Passivität gegenüber der Pandemie merklich wie der Mief der letzten 16 Jahre Vetternwirtschaft in der Union. Die Lösung der Katastrophe soll über die vorgeschriebene und repressiv durchgesetzte Passivität der Bevölkerung gelingen, wenn sie denn gerade nicht arbeitet. Privatleben ist suspekt, private Initiativen und Schutzmaßnahmen nicht verlässlich, Eigenverantwortung immer schwächer als Unternehmerverantwortung und letztlich jeder Schritt heraus aus der Passivität unerwünscht. Mögliche Lösungen enthalten zumeist Querfinanzierungen für große deutsche Unternehmen, wie beispielsweise die Corona-App SAP sowie der Telekom nette Finanzspritzen gebracht haben. Von den Masken „made in Germany“ ganz zu schweigen.
Und was bleibt den geübten social Distel-Dingern? In der passiven Katastrophe passen wir uns an. Die Passivität geht viral. Warum noch vor die Tür gehen? Alles was wir benötigen kann bestellt werden. Warum sich noch mit unangenehmen Dingen auseinandersetzen? Alles was wir sehen und hören, können wir vorher auswählen.
Unsere Tage werden portioniert von den Zeitangaben der Filme und Serien, der Rezepte und den empfohlenen Garzeiten. Schlafen 8 Stunden, Arbeiten 8 Stunden, zwischendrin kleine Videos in den asozialen Medien und auf Youtube, 2 Minuten hier, 1 Minute 53 da. Mittagspause mit Podcast, zwischen 20-50 Minuten. Online-Sportprogramm am Abend von 90 Minuten, dann Kochen oder Fertiggerichte, alles getimed, und danach noch Serien oder Spielen. Lasst uns noch 4 Stunden durch die Prärie reiten, Fußball spielen oder in einem der zahlreichen Kriege möglichst viele Menschen töten. Und dann wieder schlafen…
Falls wir wieder aufeinandertreffen, wissen wir nicht, worüber wir sprechen sollen, außer über Serien und Spiele. Gut es gibt noch so manche, die versuchen informiert zu bleiben, aber deren Laune nimmt ab und das Unverständnis für diejenigen, die gar nichts mehr von der Außenwelt mitbekommen, steigert sich mit der eigenen Verzweiflung. Gemeinsames Leben, gemeinsames Erleben? Fehlanzeige.
Die Wohnung ist ein Nährpod geworden – selbstgenügsam und abgeschottet. Jeder und jedem seine eigene Realität. Jeder und jedem seine eigene Wahrnehmung. Und irgendwo da draußen sind die Menschen, die sich diesen Luxus nicht leisten können. Sie werden nicht wahrgenommen. Die Nährpods sind gegen das Leid der anderen verschlossen. Kleine Inseln der Passivität die diejenigen die nicht arbeiten dürfen, diejenigen die sich keine Bildschirmexistenz leisten können, diejenigen die erkranken, diejenigen die aktiv sein müssen, ausschließen.
Der Mensch als soziales Wesen ist auf einer Reise in eine ungewisse Zukunft. Die passive Katastrophe könnte letztlich zur totalen gesellschaftlichen Passivität führen. Dann ist das postfaktische Zeitalter an seiner Spitze angekommen: Jeder und jedem eine eigene Realität, Verständigung ist nicht mehr möglich.
Mit gefletschten Zähnen verteidigen wir dann unsere jeweils eigene Realität, in der wir es uns bequem gemacht haben. Ein Angriff auf das eigene Selbstbild als infektionsverhindernd passiv oder diktaturverhindernd aktiv ist ein Verbrechen, das mit dem Abbruch des Kontakts geahndet werden kann. Jeder Reality-Check droht die Katastrophe hinter der Passivität wieder aufbrechen zu lassen, die Angst um das Überleben des bisherigen Lebensentwurfs und das Überleben der Liebsten. Was bleibt? Nihilismus? Keine Wahrheit nur noch eingefärbte Wahrnehmungen?
Nein, was bleibt ist eins: Wir!
Auch wenn mittlerweile 3 Millionen Menschen in dieser Pandemie gestorben sind: Wir sind noch da! Wir können uns immer noch verständigen, können Verständnis aufbringen, können uns unterhalten und unsere Realitäten anpassen, wenn wir unsere eigene nicht mit den Zähnen verteidigen. Unsere Nährpods sind immer noch selbst eingerichtet und wir haben die Wahl nicht die Algorithmen für uns entscheiden zu lassen, wie ein gutes Leben aussieht. Das ist zwar anstrengend, aber Passivität ist auch keine Antwort.
Lasst uns reden! Draußen mit Maske, über Webkonferenzen, Telefon oder Briefe schreiben. Der Kontakt zu anderen denkenden Menschen darf nicht abbrechen – denn sie formen unsere Gedanken mit uns.

Kommentare
16.04.2021 / 18:29 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 16.4.. Vielen Dank!