Palästina – kurze Geschichte eines multikulturellen Landstrichs

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Die Radio Dreyeckland Kollegen von Radio Ech widmeten sich in einer insgesamt dreiteiligen Reihe der Situation in Palästina und im Staat Israel. Dabei sollten Informationen über den seit Jahrzehnten bestehenden israelisch-palästinensischen Konflikt auch auf historischer Grundlage vermittelt werden. Nach meiner Wahrnehmung wurde allerdings der israelische Position gegenüber anderen Sichtweisen deutlich mehr Raum eingeräumt. So lautete die Quintessenz der Sendung vom Juni 2021, die sich mit der völkerrechtlichen Lage Israels und der besetzten Gebiete beschäftigte, dass der Staat Israel – nach Meinung der Sendungsmachenden – völkerrechtlich das gesamte Territorium zwischen Jordan und Mittelmeer beanspruchen könnte. Eine derartige Einordnung erscheint doch ein wenig überraschend und ungewöhnlich.
Entscheidend zur Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema sind Kenntnisse der geschichtlichen Zusammenhänge, weshalb sich der folgende Beitrag mit der historischen Entwicklung des Landstrichs bis 1948, also der Staatsgründung Israels, beschäftigt.
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Upload vom 14.08.2021 / 14:53

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Klassifizierung

Beitragsart: Anderes
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Mel
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 14.08.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Palästina – kurze Geschichte eines multikulturellen Landstrichs

Die Radio Dreyeckland Kollegen von Radio Ech widmeten sich in einer insgesamt dreiteiligen Reihe der Situation in Palästina und im Staat Israel. Dabei sollten Informationen über den seit Jahrzehnten bestehenden israelisch-palästinensischen Konflikt auch auf historischer Grundlage vermittelt werden. Nach meiner Wahrnehmung wurde allerdings der israelische Position gegenüber anderen Sichtweisen deutlich mehr Raum gegeben. So lautete die Quintessenz der Sendung vom Juni 2021, die sich mit der völkerrechtlichen Lage Israels und der besetzten Gebiete beschäftigte, dass der Staat Israel – nach Meinung der Sendungsmachenden – völkerrechtlich das gesamte Territorium zwischen Jordan und Mittelmeer beanspruchen könnte. Eine derartige Einordnung erscheint doch ein wenig überraschend und ungewöhnlich.
Entscheidend zur Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema sind Kenntnisse der geschichtlichen Zusammenhänge, weshalb sich der folgende Beitrag mit der historischen Entwicklung des Landstrichs bis 1948, also der Staatsgründung Israels, beschäftigt.

Der Raum, den wir heute als Palästina kennen, ist ein unscharf definierter Streifen Land der sich zwischen östlicher Mittelmeerküste, dem Jordantal, dem Karmelgebirge im Norden und dem Negev im Süden erstreckt und rund 30000 qkm, also etwa die Fläche Baden-Württembergs umfasst. Es ist eines der ältesten Siedlungsgebiete der Menschheit und liegt am Schnittpunkt der beiden frühen Hochkulturen Ägypten und Mesopotamien, die das Gebiet über lange Zeit stark beeinflussten.
Nach übereinstimmender historischer Forschung war das Gebiet von unterschiedlichen semitischen Völkern und Stämmen besiedelt. Zusätzlich existierten Stadtstaaten an der Küste, die von aus Südeuropa stammenden Seevölkern, den sogenannten Philistern gegründet worden waren. Sie gaben, in einer griechischen Beizeichnung dem Landstrich seinen heutigen Namen: Palästina - erstmals verwendet von Herodot im 5. Jahrhundert vor der Zeitenwende.
Bis etwa 1200 vor der Zeitenwende stand das Gebiet unter ägyptischer Vorherrschaft, wodurch sich wahrscheinlich ein Teil der halbnomadischen Stämme von dem Monotheistischen Experiment des Pharaos Echnaton (14. Jahrhundert vor der Zeitenwende) inspirieren ließen und einen eigenständigen monotheistischen Kult entwickelten, der in der Folgezeit für sich israelisch bzw. jüdisch verstehende Menschen definierend wurde.
Innerhalb des Landstrichs siedelten unterschiedliche Stämme mit nomadischer, halbnomadischer, und dörflicher Ackerbaukultur, parallel gab es einige wenige städtische Zentren. Die dem monotheistischen Jahwe-Kult anhängenden Stämme können in eine Nord- und Südgruppe unterteilt werden. Die Nord-Gruppe war anfänglich bedeutender und bildete einen Stammesverband unter dem Namen Israel im Bereich des nördlichen Westjordanlandes, der Hauptort war Samaria (nahe dem heutigen Nablus). Die relative Eigenständigkeit dieses nördlichen Stammesverbandes dauert von etwa 1000 vor der Zeitenwende bis 722 vor der Zeitenwende, als die Assyrer das Gebiet eroberten und zu einer ihrer Provinzen machte. Den Assyrer folgten die Babylonier und schließlich die Perser. Die Nordstämme spielten in der weiteren geschichtlichen Entwicklung keine eigene Rolle mehr und gingen in der Bevölkerungsumgebung auf.
Die Südgruppe bildeten einen Stammesverband unter dem Name Juda, als Hauptstadt diente die alte jebusitische Stadt Jerusalem. Der südliche Stammesverband bewohnt Gebiete des südlichen Westjordanlandes bis ans Tote Meer und den Negev, wobei auch hier, wie in der gesamten Levante, eine multikulturelle und multiethnische Besiedelung anzutreffen war. Die Unabhängigkeit dieses Königreichs endete mit der Eroberung durch Nebukadnezar 587 vor der Zeitenwende. Die zunächst babylonische Provinz ging in eine persische über und wurde mit den Eroberungszug Alexander des Großen Teil der hellenistischen Levante – also des griechisch geprägten östlichen Mittelmeerraumes.
63 vor der Zeitenwende eroberte Pompejus diese Ländereien großräumig für Rom und die jüdischen Siedlungsgebiete wurden römische Provinz. Den Gepflogenheiten des Imperium Romanum entsprechend, überließen die Römer die lokale Verwaltung loyalen oder gekauften einheimischen Eliten. Der Klientelkönig Herodes der Große, das ist der aus der Weihnachtslegende, der angeblich die Kinder umbringen lässt, gehörte beispielsweise zu dieser hellenisierten lokalen Oberschicht der Levante. Weil er keinen respektablen jüdischen Stammbaum vorweisen konnte, liess er sich einen fälschen – diese Legitimationsprobleme sind wahrscheinlich der inhaltliche Kern der Kindsmorderzählungen der Weihnachtslegende.
Es gab in der Folgezeit verschiedene jüdische Aufstände gegen die Römerherrschaft. Der bedeutendste und letzte war der Bar Kochbar Aufstand im Jahre 136, der mit der Niederlage und der weitgehenden Zerstörung der Provinz im Rahmen der Kampfhandlungen endete. Einer weit verbreitenden Legende zufolge seien die jüdischen Menschen im Anschluss von den Römern aus dem Land vertrieben worden und hätten sich daher in der damals bekannten Welt verteilt. Das entspricht nicht den Tatsachen, soviel Mühe machten sich die Römer für eine ziemlich unbedeutende Halbwüstenprovinz denn doch nicht. Was richtig ist, dass der siegreiche Kaiser Hadrian die jüdische Provinz in Syria-Palestina umbenannte und damit den Namen Juda (römisch Ludaea) von der Landkarte strich. Der hohe Blutzoll des Krieges führte dazu, dass die jüdische Bevölkerung nur noch eine Minderheit innerhalb einer typisch multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft der Levante darstellte. Der weitgehend zerstörte Landstrich bot zunächst wenig Lebensgrundlagen und Perspektiven, sodass es zu Auswanderungsbewegungen sowohl der jüdischen als auch der nichtjüdischen Bevölkerungsanteile gekommen ist.
Nach der allmählichen Erholung des Gebietes kam es in der Spätantike unter oströmischer Herrschaft zu einer vermehrten Einwanderung arabischer Bevölkerung, sodass der jüdische Anteil bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert insgesamt gering war.
636 eroberten muslimische Heere Palästina und große Teile der südlichen Levante. Die islamische Herrschaft wurde durch die Kreuzfahrerstaaten im 11. und 12. Jahrhundert nur kurz und unwesentlich unterbrochen. Der anschließenden Mamelukenherrschaft folgten ab 1518 die Osmanen, unter denen Palästina eine der zahllosen multikulturellen Provinzen des Reiches und eher unbedeutend ist.
Weil historisch für unsere Fragestellung erst mal nichts Wichtiges passiert, springen wir ins Jahr 1916. Das osmanische Reich kämpft an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns gegen die Entente, also zu diesem Zeitpunkt vor allem England, Russland und Frankreich. Der Ausgang ist zu diesem Zeitpunkt noch relativ offen, aber dass das schwache osmanische Reich nicht gut aus der Sache herauskommen würde, schien klar. England und Frankreich teilten den noch nicht erlegten Braten schon mal unter sich auf: Frankreich sollte die östliche Mittelmeerküste einschliesslich große Teile der Südküste Kleinasiens und des heutige Syrien bekommen, die Briten beanspruchten die damals schon ölreichen Golfstaaten, Palästina und den Irak. Das uninteressante Innere der arabischen Wüste wollte man großzügig den Arabern zu Selbstverwaltung überlassen, wenn diese dafür gegen die Osmanen kämpften. Das Thema ist gut in dem Film Lawrence of Arabia mit Peter O’Toole aufbereitet.
1917 ließ der britische Außenminister Balfour verlauten, man könne doch bei den weitläufigen Gebieten, die da im Nahen Osten zu übernehmen seien, im Raum Palästina auch eine Heimstatt für jüdische Menschen schaffen, da diese früher (also 18 Jahrhunderte zurück) doch auch da gewohnt hätten. Kalkül dieser sogenannten Balfour Deklaration war, nach dem Kriegseintritt der USA vor allem dringend benötigte jüdische Gelder aus den USA für den Krieg anzuzapfen.
Großbritannien hatte sich damit in völlig widersprüchliche und unvereinbare Versprechungen verheddert. In der Husain-McMahon Korrespondenz von 1915/1916 wurde die arabische Unabhängigkeit der Gebiete versprochen während im Sykes-Picot Abkommen von 1916 die Aufteilung zwischen Frankreich und Großbritannien festgelegt und schließlich in der Balfour-Erklärung von 1917 die Schaffung einer "nationalen Heimstätte" in für jüdische Menschen in Aussicht gestellt wurde.
Nach dem Sieg 1918 wollten die Briten von ihren Zusicherungen nichts mehr wissen und teilten die osmanischen Besitzungen mit Frankreich. Lediglich die wertlose Wüste der arabischen Halbinsel, deren enormen Ölreichtum man damals noch nicht ahnte, wurde der arabischen Seite unter König Feisal zur Verfügung gestellt. Die arabische Seite fühlte sich nachvollziehbar betrogen und wollte daher auch von Abmachungen hinsichtlich eines möglichen jüdischen Staates auf dem Gebiet Palästinas nichts mehr wissen.
Die annektierten Gebiete wurden als französische und britische Mandate geführt, weil US-Präsident Wilson dem Grundgedanken des Selbstbestimmungsrechts der Völker folgend, durchgesetzt hatte, dass keine neuen Kolonien entstanden. Trotzdem wurde in typisch westlich-weißer Überheblichkeit davon ausgegangen, dass die Völker der Levante erst noch zur Selbstständigkeit entwickelt werden mussten – diese Entwicklung zu ermöglichen und voranzutreiben war Aufgabe der Mandatsmächte Frankreich und England. In gleicher Weise wurde übrigens in allen eroberten deutschen Kolonien verfahren.
Die Engländer erkannten in den nächsten Jahren, dass sie ihre widersprüchlichen und nicht gehaltenen Versprechen nicht einfach vergessen wurden. Der arabische Nationalismus und damit Widerstand in den betroffenen Gebieten war groß und wurde teilweise militärisch geführt. Die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Zionistische Idee hatte durch die Balfour Erklärung enormen Aufschwung genommen und es kam in den zwanziger Jahren zu anwachsende Immigration jüdischer Menschen, was im Mandatsgebiet zu großen gesellschaftlichen Spannungen führte. Die Briten versuchten daraufhin die Zuwanderung zu regulieren. Im Ergebnis standen sie daher bald sowohl arabischen als auch jüdischen Untergrundmilzen gegenüber, welche beide das Ziel hatten, die britische Herrschaft zu beenden und mit wechselnder Intensität einen Guerriliakrieg gegen die als Besatzer erlebten Briten zu führen.
Um etwas mehr Ruhe in die Angelegenheit zu bringen, trennten die Briten die östlich des Jordans gelegenen Gebiete, die für einen potentiellen jüdischen Staat nicht zur Debatte standen, ab. Hieraus entstand in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts das Königreich Jordanien.
Für die Aufteilung des westlichen Mandatsgebiets in einen zu gründenden israelischen Staat und einem weiteren arabischen Staat fanden die Briten jedoch keine Lösung. Es gab verschiedene Modelle für einen gemeinsamen Staat oder zwei getrennte – nichts davon ließ sich durchsetzen. Ab den dreißiger Jahren stellten die Briten jede ernsthafte Bemühung ein, um die arabische Seite nicht den werbenden Deutschen in die Hände zu treiben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war allen klar, dass die Briten weder die Absicht noch die Fähigkeit besaßen, das verzwickte Problem zu lösen, das sie selbst geschaffen hatten. Gleichzeitig machten Millionen durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft entwurzelte jüdische Menschen die Frage nach einem möglichen jüdischen Staat besonders dringlich.
Die UN als Rechtsnachfolger des Völkerbundes arbeitete daher einen Teilungsplan aus, welcher versuchte, reale Besiedlungsanteile in den verschiedenen Regionen zu berücksichtigen und für besonders ideell aufgeladene Areale (Jerusalem, Bethlehem) internationale Lösungen zu finden. Aus arabischer Sicht konnte der schließlich verabschiedete Teilungsplan schwerlich als fair erlebt werden, denn die Landaufteilung erfolgte nicht anhand er prozentualen Bevölkerungsanteile: die jüdische Bevölkerung umfasste nur rund 1/3, erhielt aber 56 Prozent des Landes. Auch von der privatrechtlichen Perspektive war diese Aufteilung problematisch: nur 6 Prozent des Landes war zu diesem Zeitpunkt in jüdischer Hand, 47 Prozent in arabischer, der Rest war unnutzbare Wüste. Eine Ausgleichszahlung auf privatrechtlicher Seite war nicht vorgesehen. Rund 1/3 der arabischen Bevölkerung hätte zudem in dem anvisierten jüdischen Staat gelebt.
In Verkennung der Uneinigkeit der eigenen politischen Führer und der daraus resultierenden militärischen Schwäche begannen die umliegenden arabischen Staaten am Tag des Mandatendes militärische Aktionen mit dem Ziel, die Bildung eines jüdischen Staats zu vereitelt. Dies endete mit einer Niederlage der arabischen Seite mit der Konsequenz, dass der nun gegründete israelische Staat noch größere Gebiete als nach UN Teilungsplan umfasste, nämlich 77 Prozent. In arabischer Hand blieben nur das Westjordanland, das von Jordanien annektiert wurde und der Gazastreifen, der von Ägypten besetzt wurde. Die Bildung eines palästinensischen Rumpfstaats wurde versäumt, weil die arabische Seite weiterhin der Illusion nachhing, das Problem Israel bald erledigen zu können.
Über Jahrtausende war Palästina multikulturell, multiethnisch und multireligiös besiedelt. 1948 wurde militärisch auf weiten Teilen des Gebietes ein ethnonationaler Staat geschaffen, was die Mehrheit der damaligen Wohnbevölkerung vertrieb oder zu Bürgern zweiter Klasse herabstufte. In der Folge kam es zu bis heute anhaltenden religiösen und ethnischen Auseinandersetzungen, die negative regionale wie globale Auswirkungen hatten.
Eine Lösung hat sich bisher als extrem schwierig erwiesen, sie ist perspektivisch nur vorstellbar, wenn es gelingt, den unterschiedlichen Ethnien, Kulturen und Überzeugungen in einer freien, toleranten Gesellschaft gleichberechtigten Raum zu geben.

Kommentare
20.10.2021 / 11:20 kmm /Radio Dreyeckland, Radio Dreyeckland, Freiburg
Echt jetzt ?
"arabische Sicht " arabische Seite" -VIVA Ethnifizierung ?!!! Geht es nicht vor allem um politisch-ökonom Eliten z.B., die sich "benachteiligt" fühlen mussten ?? Was für ein eurozentristischer Blick , wenn dann bis zur zum 20 Jahrhundert "nicht viel passiert" ist und damit die Kategorie angeblich geschichtsloser Beölkerungen auferstehen zu lassen? Bäh
 
20.10.2021 / 11:21 kmm /Radio Dreyeckland, Radio Dreyeckland, Freiburg
Echt jetzt ?
"arabische Sicht " arabische Seite" -VIVA Ethnifizierung ?!!! Geht es nicht vor allem um politisch-ökonom Eliten z.B., die sich "benachteiligt" fühlen mussten ?? Was für ein eurozentristischer Blick , wenn dann bis zur zum 20 Jahrhundert "nicht viel passiert" ist und damit die Kategorie angeblich geschichtsloser Beölkerungen auferstehen zu lassen? Bäh