"Eine Metapher für unsere ganze Gesellschaft" - Pleasure

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"Linnéa (Sofia Kappel) ist 19 Jahre alt und hat nur ein Ziel: Sie möchte der nächste große Pornostar werden. Dafür verlässt sie ihre schwedische Heimatstadt und zieht nach Los Angeles, um ihren Traum wahr werden zu lassen. Doch der Weg dorthin erweist sich für die junge Frau als ungemein steinig. Zwar erhält Linnéa schnell erste Aufträge, doch das Pornobusiness ist schonungslos. Unter dem Pseudonym „Bella Cherry“ erkennt sie schnell, dass sie nur eine Chance hat, in dieser Branche zu überleben, wenn sie ausnahmslos alles tut, was von ihr verlangt wird. Doch wie weit ist sie bereit zu gehen?
Das Spielfilmdebüt der schwedischen Regisseurin Ninja Thyberg war 2020 zwar Teil der offiziellen Auswahl des abgesagten Filmfestivals in Cannes, seine offizielle Premiere hatte „Pleasure“ dann allerdings Corona-bedingt erst beim Sundance-Filmfestival im darauffolgenden Januar – und seitdem wird über das provokante Porno-Drama heiß diskutiert. Thyberg ist eben auch mit spürbarer Leidenschaft bei der Sache, schließlich engagiert sie sich bereits seit ihren Jugendjahren als Aktivistin gegen die Pornoindustrie. Später hat sie ein Studium der Geschlechterforschung absolviert und zudem mehrere Kurzfilme gedreht, in denen sie sich mit Geschlechterrollen und den damit verbundenen Machtstrukturen auseinandersetzt. 2013 erschien dann Thybergs ebenfalls „Pleasure“ betitelter Kurzfilm, der bei seiner Premiere in Cannes gleich aus mehrerlei Gründen einen Skandal auslöste – unter anderen auch deswegen, weil die Regisseurin im Anschluss offenbar Morddrohungen erhielt. Ähnlich heftige Reaktionen sind nun auch bei der Langfilmversion des Stoffes zu erwarten. Dies lässt sich unter anderem an den Kommentaren ablesen, die allein schon der Trailer des Films beispielsweise auf YouTube hervorruft. Aus diesen spricht gleichermaßen Häme und Empörung. Es besteht also kein Zweifel: Pleasure sticht offensichtlich mitten hinein in ein emotional schwer aufgeladenes Wespennest." (Inhaltsangabe auf Filmstarts)Was den Film besonders macht: bis auf die Hauptdarstellerin Sofia Kappel sind alle anderen Darsteller*innen echte Akteur*innen, Produzent*innen, Crewmitglieder und Performer*innen im LA-Pornobusiness.

Wir hören das Q&A mit Regisseurin Thyberg beim Filmfestival in Karlovy Vary im August 2021:14:43

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Triggerwarnung: Thyberg spricht über sexualisierte Gewalt.

Hier der O-Ton auf englisch und tschechisch: 30:14
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14:43 min, 34 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.06.2022 / 17:57

Dateizugriffe: 53

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: MoRa3X
Entstehung

AutorInnen: die meike
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 10.06.2022
Folgender Teil steht als Podcast nicht zur Verfügung
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30:14 min, 69 MB, mp3
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Skript


Triggerwarnung: Ninja Thyberg spricht über sexualisierte Gewalt
https://www.filmstarts.de/kritiken/27334...

Regisseurin Ninja Thyberg im Q&A auf dem karlovy vary international film festival 2021.

frage: wie haben Sie die Hauptdarstelllerin Sofia Kappel gefunden?

Ninja Thyberg: Es hat eineinhalb Jahre gedauert, bis ich sie gefunden habe und wir haben in ganz Schweden gesucht. Wir waren in Kontakt mit 2.000 jungen Frauen für die Rolle und eines Tages kam sie ins Büro. Das war wirklich… Ich bin so froh, daß ich nicht aufgegeben habe, denn sie ist das Beste, das mir je passiert ist! Sie trägt sprichwörtlich den ganzen Film. Sie hatte überhaupt keine Schauspielerfahrung, auch nicht am Theater. Sie war die Freundin einer Freundin, und die hat uns zusammengebracht. Sechs Monate vor Drehbeginn haben wir uns mit Leuten aus der Pornoindustrie getroffen und sie hat einen großen Teil dazu beigetragen, den Charakter zu entwickeln. Dieser Film ist also in Wirklichkeit das Ergebnis einer Zusammenarbeit von uns beiden, von Sofia und mir.

Min. 3.16
frage: sie haben anfangs gesagt, sie hätten in der LA-Pornoindustrie recherchiert. Welche Unterschiede gibt es da zur swedischen oder europäischen pornoindustries?

Ninja Thyberg: Es gibt keine Pornoindustrie in Schweden, die der Rede wert wäre. Es gibt diese Art der Industrie eigentlich nirgendwo anders auf der Welt. Es gibt natürlich Orte, wo Unternehmen ihren Sitz haben und Inhalte drehen. Aber nicht diese Art der Industrie. Heutzutage ist es sehr schwer, aus Porno Profit zu ziehen, denn es gibt soviel davon online und gratis. Das war vor 20 Jahren noch sehr anders. Aber heute ist der einzige Ort, wo du diese Art der Industrie findest, in LA.

Frage: gefragt nach ihrer eigenen haltung zu porno gibt regisseurin Ninja Thyberg ein klares statement ab.

Ninja Thyberg: Ich glaube, inzwischen ist uns allen klar, daß Frauen in jeder Branche vergewaltigt werden. Wie ich bereits sagte – das ist eine Metapher für unser Gesellschaft, die männlich dominiert ist. Das ist außerdem auch das Resultat einer Welt, in der Profit über Menschlichkeit herrscht. Porno kann vieles sein. Es kann sehr schädlich sein, aber es kann auch etwas sehr Schönes sein. Ich glaube nicht, daß es ein Problem ist, daß Leute Sex haben. Es ist auch gar kein Problem, wenn sie sich dabei filmen lassen. Aber es wird zum Problem, wenn Leute dabei ausgebeutet werden.

Frage: der Film betont in vielen szenen recht klar, daß die frauen den dingen zustimmen, die sie vor der kamera tun. Finden Sie, eine Vergewaltigung sollte als solche bewertet werden, selbst wenn die Frauen dem zustimmen?

Ninja Thyberg: In dieser Szene, in der Mißbrauch passiert… Ich persönlich…. Ja, ich persönlich würde es als Vergewaltigung bezeichnen. Ich weiß nicht, ob das rechtlich auch als solche gelten würde. Aber mir war wichtig, keine Vergewaltigung im rechtlichen Sinne zu zeigen, sondern Übergriffe, denen die Protagonistin zustimmt. Was ich mit der Szene zeigen wollte, war nicht, wie jemand gegen den eigenen Willen zu etwas gezwungen wird. Es ist komplexer als das.

Frage: Ich würde gerne wissen, wie Sie überhaupt zur Pornoindustrie kamen, warum Sie sich dieses Thema ausgesucht haben, wie Sie die Leute gefunden haben, wie Sie dort akzeptiert wurden. Wie hart war das?

Ninja Thyberg: Das hat lang gedauert. Langsam und schrittweise habe ich eine Person nach der anderen kennengelernt, die erste hat mich einer weiteren vorgestellt und irgendwann durfte ich beim Dreh dabeisein. Zuerst habe ich nicht mit den Performer*innen und Pornostars gesprochen, sondern mit den Crewmitgliedern. Ich habe ihnen Fragen über ihre Arbeit gestellt und sie gebeten, mit ihnen zu Mittag zu essen. Es war einfacher, an die Leute ranzukommen, denn sie waren nicht ganz so sehr gewöhnt daran, Fragen gestellt zu bekommen. Ich glaube, ich war auch sehr ehrlich mit meinen Vorurteilen, die ich gegen die Branche hatte. Aber ich wußte, daß ich keine Ahnung hatte und ich wollte etwas lernen. Also sagte ich ihnen: ‚Ich werde diesen Film machen. Und je mehr du mir erzählst, desto ehrlicher wird er am Ende sein.‘ Langsam haben sie sich dann mir gegenüber geöffnet. Ich habe auch gemerkt, daß sie der Meinung sind, daß die Leute glauben, daß die Zustände in der Pornoindustrie viel schlimmer sind, als es der Wirklichkeit entspricht. Also wollten sie so etwas wie Aufklärungsarbeit leisten. Sie wollten den Zuschauer*innen zeigen, daß die Industrie nicht so schlimm ist, wie viele Leute denken. Vor allem, wenn es um die gesetzlichen Bestimmungen geht, ist die Branche sehr vorsichtig. Sie stellen sicher, daß es allen am Set gutgeht, daß alle immer alles aus freiem Willen tun, daß alle über 18 sind, daß der Papierkram erledigt wird und die Leute normalerweise sehr freundlich und nett sind beim Pornodreh. Das reguläre Umfeld am Set ist sehr angenehm; sie machen Witze wie an jedem anderen Arbeitsplatz. Sie waren schon relativ offen, aber es hat fünf Jahre gedauert, bis ich ganz in der Szene akzeptiert wurde.

Frage: darf ich Sie zu ihren voruteilen fragen, wie war das am Anfang und was war der größte Wandel für sie?

Ninja Thyberg: Ich hatte bereits viele Jahre auf einer theoretischen Ebene an dem Thema gearbeitet, habe Bücher gelesen, Dokumentationen gesehen und einen Essay geschrieben als ich an der Uni Gender Studies studierte. Und ich dachte, ich hätte wirklich Ahnung von dem Thema. Außerdem bin ich schon seit ich ein Teenager war eine engagierte Feministin. Also dachte ich, ich wüßte so viel über das Patriarchat und daß diese Frauen im Porno sich dieser Dinge nicht bewußt wären. Daß ich ein Wissen hätte, das sie nicht hätten. Und nach einer Weile wurde mir klar: ‚Oh mein Gott, sie wissen alles und ich weiß nichts übers Patriarchat!‘ Sie spielen halt das Spiel und sie kennen es aus erster Hand also wissen sie wirklich viel besser als ich es jemals wissen werde, wie es in einer patriarchalen Gesellschaft läuft, weil sie jeden Tag direkt damit zu tun haben. Sie lassen sich nicht täuschen, sie wissen ganz genau, was vor sich geht und sie machen das Beste aus ihrer Situation. Sie sind sehr clever und witzig. Ich glaube, ich kam da an, auf meinem hohen Roß, und wollte sie studieren. Und das hat sich irgendwie fast direkt verlagert. Eine andere Sache war – und ich habe diese Anekdote, als ich am Pornoset war: Da waren zwei Schwarze afroamerikanische Männer – sie waren so paarundvierzig – einer von ihnen zumindest war 42. Und das Mädchen war um die zwanzig. Sie waren also doppelt so alt wie sie, praktisch doppelt so groß wie sie und sie hatte so eine Art Schuluniform an oder so etwas und der Regisseur gab ihr diese Anweisungen, so etwas wie: ‚Du solltest wie ein verängstigtes Häschen schauen. Du hast Angst vor diesen großen Schwarzen Schwänzen, die dich belästigen.‘ Und ich schrieb das in meine Notizen. Ich dachte so bei mir: ‚Das ist so pervers und sexistisch und rassistisch!‘ Da drehte sich der Regisseur zu mir um und sagte: ‚Was ist nur los mit Euch? Warum bringt ihr uns dazu, so etwas zu tun?‘ Und ich fing an, zu verstehen, daß sie uns dafür die Verantwortung geben. Sie sind der Meinung, wir seien die sexistischen und rassistischen Perversen und sie würden nur unsere Bedürfnisse erfüllen. Sie lachen über uns und schütteln den Kopf – über uns, das Publikum, das diese Art Porno konsumieren will. Aber wir geben ihnen die Schuld und sagen, sie seien die Perversen. Das war also eine wichtige Verlagerung für mich.

Min 20:35 Frage: i wanted to ask about bellas relationship with her mother → raus

Frage: was war der erste Impuls, der sie dazu brachte, einen Film über dieses Thema zu machen? Gab es eine Begebenheit in Ihrem Leben?

Ninja Thyberg: Ich habe mich sehr intensiv mit dem Thema befaßt, als ich sechzehn war und mein erster Freund mir zum ersten Mal einen Porno zeigte. Ich sah den Kontrast zu dem, wie er sexuell erzogen worden war, indem er diese Pornos mit seinen Freunden anschaute. Und ich hatte noch nie einen Porno gesehen und auch keine meiner Freundinnen hatte das je. Wir sprachen noch nicht mal über Masturbation oder so etwas. Da gibt es eine große Kluft zwischen unseren Vorstellungen von Romantik, Liebe und Sex. Ich fühlte einfach diese Ungleichheit: daß Porno so sehr aus der männlichen Perspektive gemacht wird, daß er die Frau wirklich so sehr objektifiziert und die Frau nur dazu da ist, den Mann zu befriedigen. Auch als ich den Essay für mein Studium der Gender Studies schrieb, habe ich sehr viele Pornos geschaut. Daher hatte ich die Inspiration, einen Film über die echten Leute hinter den Stereotypen zu machen.

Frage: gab es drohungen oder gerichtliche Schritte, negative reaktionen?

Ninja Thyberg: Nein und nein. Aber bisher wurde der Film nur auf Festivals gezeigt. In europäischen Kinos läuft er im Herbst 2021 an. Das Publikum auf Filmfestivals gehört eher zu denen, die liberale Ansichten über Kunst haben. Dasselbe gilt für Kritiker*innen. Wenn alle ihn sehen können, wird er vielleicht mehr Kritik ernten und unterschiedlich aufgenommen werden.

Frage: wie waren die reaktionen der Pornoindustrie?

Ninja Thyberg: Bisher haben noch nicht viele ihn gesehen. Wir hatten ein kleines Screening für die Leute, die im Film sind. Aber nicht alle, die darin auftauchen, haben ihn schon gesehen.
Und der Rest der Pornoindustrie hat ihn noch nicht gesehen, weil er in den USA noch nicht in den Kinos lief. Aber die Reaktionen waren – sie sagen alle, er sei sehr realistisch. Und dann sagen ein paar von ihnen, er fokussiere sich zu sehr auf die negativen Aspekte – das sind vor allem Männer in Machtpositionen, die das sagen. Die Frauen oder die Performer*innen sagen, daß er etwas Wichtiges transportiert.

Frage: hatten Sie einen spielfilm geplant oder eine doku?

Ninja Thyberg: Ich wollte von Anfang an einen Spielfilm machen.