"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kostenfaktor Arbeitskraft

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Nach der Pandemie und in der Energiekrise erleben wir die Wiedergeburt des Menschen als ökonomischer Faktor. Dreißig Jahre lang schien die Ware Arbeitskraft ein Auslaufmodell zu sein, eine Substanz, die von der Wirtschaft tunlichst gemieden und so weit als möglich ausgemerzt wurde; Effizienz, Rationalisierung und Kosteneinsparungen standen an der Spitze der Hitparade und führten am Laufmeter zum Abbau von Arbeitsplätzen und Arbeitskräften; auf dem zweiten Platz wurden die Schlager von Auslagerung beziehungsweise der Verlagerung der Produktion ins nahe und ferne Ausland gesungen...
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10:34 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.08.2022 / 10:30

Dateizugriffe: 77

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 02.08.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nach der Pandemie und in der Energiekrise erleben wir die Wiedergeburt des Menschen als ökonomischer Faktor. Dreißig Jahre lang schien die Ware Arbeitskraft ein Auslaufmodell zu sein, eine Substanz, die von der Wirtschaft tunlichst gemieden und so weit als möglich ausgemerzt wurde; Effizienz, Rationalisierung und Kosteneinsparungen standen an der Spitze der Hitparade und führten am Laufmeter zum Abbau von Arbeitsplätzen und Arbeitskräften; auf dem zweiten Platz wurden die Schlager von Auslagerung beziehungsweise der Verlagerung der Produktion ins nahe und ferne Ausland gesungen.

In den neuen Bundesländern kam obenauf noch die gründliche Beseitigung bestehender produktiver DDR-Strukturen. Bei alledem wurde natürlich trotzdem weiter gerackert, wie auch die Arbeitslosenstatistiken zeigen; aber im öffentlichen Bewusstsein hatte sich die Vorstellung von den Werktätigen als lästiger und nach Möglichkeit zu beseitigender Kosten­fak­tor festgesetzt. Und nun dies: An allen Ecken und Enden fehlt es an Arbeitskräften, und zwar so­wohl an qualifizierten als auch an unqualifizierten. Am deut­lichsten merkt man es im Moment im Luftverkehr: Die Konzentration auf billige Massenware führte schon vor der Pandemie zu immer schlechteren Löhnen und Arbeitsbedingungen im Luftfahrtsektor; dann folgten eineinhalb Jahre mit riesigen Umsatzeinbußen, und nun wollen die Betreibergesellschaften ihr Personal noch weiter aussaugen, was einfach nicht mehr geht. Hier findet gerade eine sehr inter­essante Kollision statt, vergleichbar vielleicht den älteren Problemen mit dem Billig-Schweine­fleisch, wobei bei Tönnies und Konsorten unhaltbare Bedingungen für die Tiere ebenso wie für die osteuropäischen Schlachter:innen die Grundlage für das Billigfleisch waren und lange Zeit kaum wahrgenommen wurden, während das Personal im Luftverkehr und auf den Flughäfen sehr viel stärker im Blickfeld der Öffentlichkeit steht – und auch einen minimalen gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufweist. Die Kollision bedeutet auf jeden Fall, dass irgendwann mal fertig ist mit der Abwärts­spirale, im Fall von Tönnies auch mit der Ausbeutung von Billig-Arbeitskräften aus Osteuropa. Ökonomisch gesehen würde man von Grenznutzen beim Kostensenken sprechen.

Ich will noch anmerken, dass im Rahmen der Verteilung des Nationaleinkommens die niedrigen Preise für Schweinefleisch die Voraussetzung dafür waren, dass sich die Billig-Feriendestinationen auf Mallorca und in Antalya für den Konsum der breiten Massen etablieren konnten; hier war die Billig-Ökonomie die zeitweilig Realität gewordene Vorstellung nicht des deutschen Idealismus, sondern des deutschen ökonomischen Ordoliberalismus. Wenn man wollte, könnte man auch in dieser Beziehung im Nachhinein noch dicke teure Tränen vergießen.

Und eben, es geht nicht nur um die Wirtschaftssektoren mit den niedrigsten Löhnen, sondern es fehlen auch immer mehr Facharbeiter:innen. Insgesamt scheint sich das System daran zu erinnern, dass es aus Menschen besteht und von Menschen gemacht ist und für Menschen funktionieren soll. Höchste Zeit, möchte ich sagen, und gleichzeitig bin auch ich etwas erstaunt, weil auch ich immer davon ausgegangen bin, dass die Arbeitsfrage mit den immer wieder zitierten Elementen Voll­auto­mation und Globalisierung mehr oder weniger erledigt ist. Offenbar ist sie dies nicht; Wirtschaft und Gesellschaft organisieren sich unterhalb einer völlig absurden und somit für den Alltag irre­le­vanten Ebene von Finanzkapitalbillionen weiterhin nach Beschäftigung und im Rahmen der Güter­zir­kulation, die allerdings nichts mehr zu tun haben mit Lohnarbeit und Industrieproduktion des 19. und des 20. Jahrhunderts bis in die 1980-er Jahre hinein. Trotzdem werden die Gewerkschaften und die traditionellen Flügel der linken Parteien diesen Paradigmenwechsel mit Genugtuung feststellen; was sie daraus zu machen wissen, ist dann noch eine andere Geschichte.

Für das Bewusstsein der Mitglieder dieser Gesellschaft wird denn auch die Polarisierung zwischen Lohnarbeit und Kapital in Zukunft nie mehr die Bedeutung erlangen, welche die Gesellschaft ins sozialdemokratische Jahrhundert geführt hat. Es kann sich mehr oder weniger frei entwickeln, was sich gerade entwickeln will. In verschiedenen Ländern Europas beobachten wir eine identitäre Ausprägung dieses Bewusstseins, also die Stilisierung irgendeines Nationalismus, welche immer und kategorisch lächerlich ist aus dem Grund, weil Nationen ein historisches Zufallsprodukt sind, so homogen sie zwischenzeitlich auch erscheinen mögen. Als ideologisches Produkt haben Nationen in Europa eigentlich keine Funktion mehr; dass dagegen die konkrete Organisation der Verwaltung nach wie vor in ihrem Rahmen erfolgt trotz der Vereinheitlichungs-Versuche im Rahmen der Europäischen Union, ist eine nach wie vor beklagenswerte Tatsache, übrigens umso beklagenswerter, als es hier tatsächlich Unterschiede gibt: Weshalb übernimmt man nicht einfach die beste Staatsform für das gesamte Europa-Gebilde? – Gut, ich weiß, das ist eine andere Debatte, aber sie hat an Aktualität nichts verloren, umso mehr, als der ideologische Nationalismus eine unübersehbare Komponente der europäischen Politik ist. Von Polen und Grossbritannien über die italienischen Faschistenbrüderinnen bis hin zu den nationalistischen Linksfranzosen, überall versprechen diese Idiotenargumente Selbständigkeit und Unabhängigkeit, welche im globalen Alltag niemals einzulösen sind, beziehungsweise etwas genauer: nationale Regeln und Eigenheiten dienen allenfalls noch dafür, die Konkurrenz aus dem Ausland klein zu halten. Soweit dieser Konkurrenzkampf am Laufen ist, können darin auch Fragen nach Standorten und insofern dann wieder auf Wertschöpfung und Arbeitsplätze ausgetragen werden, und das ist am Schluss vielleicht ein Kern des Faktischen, auf welchen ein ideologischer Nationalismus sich noch abstützen kann. Daneben zeugt die Blüte der Nationalismen vor allem davon, dass die unterschiedlichen politischen Richtungen und Ausrichtungen in den einzelnen Ländern sich in der Regierungspraxis voneinander nur in einigen Details unterscheiden. Frau Merkel konnte ihre sozialdemokratische Politik vor allem deshalb umsetzen, weil die Sozialdemokrat:innen in der Opposition kaum ernsthaft dagegen protestieren konnten; dementsprechend war die langjährige große Koalition eine logische Folge. Aber sonst? Gebt einem Sozialisten wie François Hollande die Macht oder überlasst die Regierungsbildung in Italien dem sozialdemokratisch angehauchten Partito Democratico, ihr werdet kaum Unterschiede feststellen gegenüber ihren bürgerlichen Antipoden.

Damit dies auch wieder einmal gesagt ist; was man dann tatsächlich anders machen sollte und was man auch anders machen könnte und wie man sich dafür die Unterstützung einer Mehrheit der Bevölkerung sichert, ist ein anderes Kapitel im Geschichtsbuch, das noch nicht geschrieben ist. Nur eines wissen wir: ein linkes Projekt im klassischen Sinne wird es uns nicht werden. Das ist schade, aber offensichtlich; da hätten sich in der Zwischenzeit doch einige Ansätze zu einer Theorie eines künftigen Staatsgebildes abzeichnen müssen, egal, ob auf europäischer oder nach wie vor auf nationalstaatlicher Ebene, von der wir immer unterstellen, dass sie auch für andere Länder anwendbar sein müsse. Von solchen Ansätzen bei der politischen Linken ist keine Spur vorhanden neben den alten berechtigten Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, die aber eben ohne entsprechende Vorstellung einer konkreten zukünftigen Struktur nicht weiter führen. Trotzdem nehmen wir mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis, dass die Regierung mindestens bei der Schikanierung der ärmsten Bevölkerungsschichten ein Quantum an Einsehen zeigt und Hartz IV ablösen will durch ein Bürgergeld. Früher mal war dies der Name, den die FDP für ihre Grundeinkommens-Projekte verwendete. Hubertus Heil verspricht sich von dieser Bezeichnung nun die Befreiung vom allerdings erstaunlichen Stigma der SPD, gerade im Namen der Schwächsten dieses Repressionssystem gegen die Schwächsten eingeführt zu haben. Ob dann in der Endausfertigung tatsächlich substanzielle Verbesserungen zustande kommen, wird sich im September weisen. Die FDP hat vorsorglich schon ihre ideologischen Kanonen mit der immer gleichen Munition gegen das Sozialstaatliche an und für sich geladen und wird sich innerhalb der Koalition mit der gebührenden Nachhaltigkeit – allerdings auch mit dem gebührenden Desinteresse gegen das Projekt engagieren.

Die demokratische Republik Kongo hat 27 Konzessionen für die Erdölförderung und drei für die Förderung von Erdgas ausgeschrieben. Man kann davon ausgehen, dass sie auf ein aufrichtiges Interesse von Seiten der internationalen Erdöl- und Erdgasindustrie stoßen. Umweltschützer:innen sind alarmiert, befinden sich die Extraktionsorte doch zum Teil in Naturschutzgebieten. Anderseits kann man dem Kongo nicht im Ernst verübeln, dass er nicht nur aus dem Bergbausektor, sondern auch im Energiesektor Einnahmen zu erzielen versucht, wie sie in den Nachbarländern zum Teil bereits reichlich fließen. Dass auch diese Geschichte zu einer Geschichte von sagenhaften Korruptionsfällen wird, versteht sich von selber; trotzdem besteht Hoffnung, dass nicht nur die Familie Kabila beziehungsweise ihr Statthalter Felix Thisekedi sich am Stoff bereichern wird, sondern eben dass das ganze Land profitiert. Ganz abgesehen davon ist es nutzlos, dem Kongo eine korrekte Abwicklung solcher Konzessionsvergaben und anschließend eine umweltgerechte Ausbeutung der Vorkommen vorzuschreiben, solange keine Instrumente zur Kontrolle und zur Umsetzung vorhanden sind.

Gleichzeitig gehen im Osten des Landes die Aktivitäten von bewaffneten Rebellengruppen weiter. Verschiedene lokale Kräfte kritisieren immer wieder die Ohnmacht der UNO-Friedenstruppen, die mit 14'000 Soldat:innen in der Region für Ordnung sorgen sollen. Die UNO gibt für diese Friedensmission im Jahr gut eine Milliarde Dollar aus. Trotzdem kommt es immer wieder zu lokalen Aufständen, unter anderem seit einem Jahr wieder im Namen der Bewegung des 23. März, die eigentlich vor neun Jahren militärisch besiegt worden war, aber nun wieder eine militärische Organisationsform angenommen hat. Hier kommen auch immer wieder Stimmen auf, wonach das benachbarte Ruanda in diese Revolten involviert sein soll. Verlässliche Angaben dazu habe ich bisher noch keine gesehen, bloß Hinweise darauf, dass es eine namhafte internationale Bewegung gibt, welche den Ruf von Ruanda und vor allem von Paul Kagame als einigermaßen fortschrittliches Land in Zentralafrika in Zweifel zieht. Während es ausser Frage steht, dass auch Kollege Kagame kein Heiliger ist trotz einem Frauenanteil von über 60 Prozent im Parlament, sind doch vor allem die Berichte und Gerüchte über eine verborgene Diktatur und über quasi-imperialistische Ansprüche von Ruanda bisher noch nicht wirklich belegt worden.

Kommentare
08.08.2022 / 17:56 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 8.8.2022 Vielen Dank !