Buchrezension zu "Der neue Geist des Kapitalismus"

ID 15542
 
AnhörenDownload
Wer heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, noch ernsthaft an den Segnungen des Kapitalismus zweifelt, der oder die kann sich manchmal fühlen, wie ein Fossil aus grauer Vorzeit. Denn auf allen Kanälen verbreiten Politiker, Journalisten und selbsternannte Experten ihren Lobgesang auf den freien Markt und überkleistern die Realität mit einer neoliberalen Blümchentapete. Für Kritik und Gegenentwürfe scheint da kein Platz, ja gar kein Bedarf mehr zu sein. Und wenn dann doch hin- und wieder einmal Unmut laut werden sollte über Ausbeutung und Prekarisierung, dann haben die Verfechter der entfesselten Marktwirtschaft immer noch ein letztes As im Ärmel: Die Sachzwänge der Globalisierung!
Auch die Sozialwissenschaften, die lange Zeit die Speerspitze der Kritik waren, scheinen zunehmend vor dem globalisierten Kapitalismus zu kapitulieren und ihre alten Erklärungsmodelle auf dem Scheiterhaufen der Geschichte zu verbrennen. Zwei französische Soziologen allerdings, Luc Boltanski und Ève Chiapello, wollten diesen Zustand nicht akzeptieren und haben ein Buch gegen den grassierenden Fatalismus in den Sozialwissenschaften geschrieben. Es trägt den Titel: „Der neue Geist des Kapitalismus“.
Audio
07:17 min, 6823 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 06.02.2007 / 00:00

Dateizugriffe: 556

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: MoRa3X
Entstehung

AutorInnen: Anna und Michael (Morgenradio)
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 06.02.2007
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Buchrezension: Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006.

Anna: Wer heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, noch ernsthaft an den Segnungen des Kapitalismus zweifelt, der oder die kann sich manchmal fühlen, wie ein Fossil aus grauer Vorzeit. Denn auf allen Kanälen verbreiten Politiker, Journalisten und selbsternannte Experten ihren Lobgesang auf den freien Markt und überkleistern die Realität mit einer neoliberalen Blümchentapete. Für Kritik und Gegenentwürfe scheint da kein Platz, ja gar kein Bedarf mehr zu sein. Und wenn dann doch hin- und wieder einmal Unmut laut werden sollte über Ausbeutung und Prekarisierung, dann haben die Verfechter der entfesselten Marktwirtschaft immer noch ein letztes As im Ärmel: Die Sachzwänge der Globalisierung!
Auch die Sozialwissenschaften, die lange Zeit die Speerspitze der Kritik waren, scheinen zunehmend vor dem globalisierten Kapitalismus zu kapitulieren und ihre alten Erklärungsmodelle auf dem Scheiterhaufen der Geschichte zu verbrennen. Zwei französische Soziologen allerdings, Luc Boltanski und Ève Chiapello, wollten diesen Zustand nicht akzeptieren und haben ein Buch gegen den grassierenden Fatalismus in den Sozialwissenschaften geschrieben. Es trägt den Titel: „Der neue Geist des Kapitalismus“ und neben mir sitzt jetzt Michael, der das Buch gelesen hat.

Anna: Boltanski und Chiapello haben ja den Anspruch, der Kapitalismuskritik zur Selbstbesinnung zu verhelfen und damit die Sozialwissenschaften von ihrer Orientierungslosigkeit zu befreien. Das klingt erstmal nach einem sehr ehrgeizigen Vorhaben!?

Michael: Ja, das ist es auf jeden Fall und man merkt das auch am kämpferischen, teilweise auch schon fast pathetischen Ton, der in einigen Passagen des Buches angeschlagen wird, wie ernst es den beiden Autoren auch mit dem Thema ist; also, um vielleicht mal die Dimensionen etwas deutlicher zu machen: Boltanski und Chiapello, die beide an renommierten Pariser Universitäten lehren, haben zusammen mit einem großen Mitarbeiterstab insgesamt sechs Jahre an diesem Buch gearbeitet und herausgekommen ist ein dicker Wälzer von über 700 Seiten. Also die beiden üben sich keineswegs in Bescheidenheit, aber ich denke diese Opulenz ist angesichts der brisanten Thematik auch durchaus angebracht.

Anna: Ok, das ist eine gutes Stichwort: Kommen wir mal zum Inhalt. Vielleicht kannst du am Anfang kurz erklären, warum sich die Kapitalismuskritik nach Meinung der Autoren gegenwärtig in einer Krise befindet?!

Michael: Ja, das hat vor allem damit tun, dass sich die Arbeitswelt in den letzten zwei Jahrzehnten radikal verändert hat und die Kritik diese Entwicklung, salopp gesagt, verschlafen hat und jetzt erst langsam aufwacht und mit einer Realität konfrontiert ist, die sie mit ihren alten Methoden und Begriffen nicht mehr verstehen kann.

Anna: Und welche Veränderungen sind damit genau gemeint?

Michael: Es gibt in dem Buch einen Abschnitt, der ist überschrieben mit „Die Dekonstruktion der Arbeitswelt“ und da beschreiben die Autoren sehr präzise, sehr materialreich auf 150 Seiten die Wandlungen in der Arbeitswelt. Da geht es dann unter anderem um die Tatsache, dass Beschäftigungsverhältnisse immer unsicherer werden, Sozialstandards abgebaut werden, die gewerkschaftliche Mitbestimmung zurückgedrängt wird und so weiter und so fort. Also eine Palette von Umstrukturierungen, die Errungenschaften zerstören, die in 150 Jahren Arbeiterbewegung mühsam erkämpft worden sind und wo man sich fragt, wie das so relativ geräusch- und widerstandslos kaputt gemacht werden kann.

Anna: Und geben Boltanski und Chiapello darauf eine Antwort?

Michael: Ja und zwar sagen sie, dass die Kapitalismuskritik selbst mit Schuld ist an den Zuständen, die sie heute beklagt. Das klingt erstmal sehr provokant, ist es in gewisser Hinsicht auch, aber Boltanski und Chiapello geht es jetzt nicht darum, der Kritik Fehler zu unterstellen oder nach einzelnen Schuldigen zu suchen, sondern es geht ihnen darum, den Mechanismus zu verstehen, mit dem der Kapitalismus die Kritik für sich vereinnahmt und damit auch sein eigens Bestehen sichern kann.

Anna: Also die Kritik stellt sich unbewusst in den Dienst des Kapitalismus?

Michael: Genau! Boltanski und Chiapello veranschaulichen das am Beispiel der Kapitalismuskritik der 60er und 70er Jahre. Damals hatte die Kritik eine zentrale Stoßrichtungen: Nämlich dem Kapitalismus wurde vorgeworfen, den Individuen keine Möglichkeit zur Selbstentfaltung zu bieten. Anstatt selbst bestimmt ihr Leben gestalten zu können, müssen sich die Mitarbeiter in einem Betrieb in einen bürokratischen Apparat einfügen und Befehle von oben befolgen. Das hat die Kritik angeprangert und genau diese Forderungen nach mehr Individualität und Autonomie hat sich der Kapitalismus zu Nutze gemacht, hat sie übernommen und mit ihnen die Strukturveränderungen der letzten zwanzig Jahre gerechtfertigt.

Anna: Und wie schlägt sich das in der Arbeitswelt von heute nieder?

Michael: Da könnte man sehr viele Beispiele anführen. Am wichtigsten scheint mir, dass der Großteil der Produktion nicht mehr in industriellen Großbetrieben stattfindet, sondern in ausgelagerten kleineren Einheiten. Zugespitzt könnte man sagen, dass an die Stelle des Fließbandes und der Fabrik nun ein Netzwerk aus vielfachen Projekten tritt, in denen Hierarchien tendenziell abgeflacht werden und Autorität keine so große Rolle mehr spielt. Das alles sind Entwicklungen, die sich mit den Forderungen nach Autonomie und Kreativität prima in Einklang bringen lassen, die allerdings auch gravierende Schattenseiten haben.

Anna: Und welche wären das?

Michael: Also zunächst verlieren die Menschen in einer Arbeitswelt, die als Netz oder Abfolge von Projekten funktioniert, einen Großteil ihrer bisherigen Sicherheiten. Von ihnen wird gefordert, permanent mobil zu sein, sich anpassungsfähig zu zeigen und ständig neue, erfolgsversprechende Kontakte zu knüpfen über die sie dann zu neuen Projekten kommen. Dass bedeutet aber auch, dass dauerhafte Bindungen zunehmend als Unbeweglichkeit und Mobilitätshindernis abgewertet werden. Außerdem werden lineare Berufslaufbahnen immer seltener. Die meisten Jobs sind befristet und nicht mehr in soziale Sicherungssysteme integriert. Wer sich also nicht vernetzt oder die falschen Kontakte hat oder einfach nicht bereit ist, seine Lebensführung den Imperativen von Mobilität und Flexibilität unterzuordnen, der verliert eben den Anschluss und gerät ins gesellschaftliche Abseits. Und die Absurdität besteht gerade darin, dass diese Arbeitsformen mit Werten wie Autonomie und Kreativität legitimiert werden können, obwohl sie doch tatsächlich nur die Verwertung und Ausbeutung der Ware Arbeitskraft optimieren.

Anna: Und wie kann die Kritik zur Beseitigung dieser Misere beitragen?

Michael: Also Boltanski und Chiapello nennen mehrere Mittel oder Rezepte, wie die Ungerechtigkeit in der Netzwelt abgemildert werden kann und wie vor allem sichergestellt werden kann, dass die Mobilitätsvorteile einzelner nicht auf Kosten anderer gehen. Es würde jetzt zu weit führen, die im einzelnen aufzuzählen. Was mir an dem Konzept von Boltanski und Chiapello viel wichtiger erscheint, ist, dass sie einen systematischen Zusammenhang zwischen dem Kapitalismus und seiner Kritik herstellen und zeigen, dass die Kritik schon immer einer der Motoren der kapitalistischen Veränderungsprozesse war. Damit klären sie die Kritik in gewisser Weise über sich selbst auf und holen sie von ihrem hohen Ross runter. Andererseits ist damit natürlich auch die Hoffnung verbunden, dass eine auf diese Art und Weise geläuterte Kritik ihre Waffen gezielter und wirkungsvoller zum Einsatz bringen kann als das bisher der Fall war.

Kommentare
14.02.2007 / 16:06 olly,
gesendet
im Zip-FM am 14. Februar 2007