Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Das Wandern ist des Menschen Lust"

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[17.Kalenderwoche]
Vor einer neuen genossenschaftlichen Wohnsiedlung in unserer Nähe haben die ArchitektInnen oder die BauherrInnen abgetreppte Kunstgräben aus Beton gezogen, über deren Funktion wir immer noch rätseln.
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11:14 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.04.2009 / 13:47

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 21.04.2009
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Aufgrund von Beobachtungen bei neueren Entwicklungen im Städtebau sind wir zum Schluss gekommen, dass auf der untersten Stufe so etwas wie ein künstlicher Sumpf vorgesehen ist. In Ermangelung weiterer Begründungen und vertiefter Fachkenntnisse haben wir uns zu einer klassischen Reaktion entschlossen: Wir finden das doof. Zumindest ich finde das doof. Wenn man einen Sumpf will, soll man sich an einen richtigen Sumpf halten, das gibt’s immer noch, draußen vor den Stadttoren, und diese Feuchtgebiete stehen unter massivem Naturschutz, Betreten strikt verboten, aber wer betritt denn schon einen Sumpf. Aber in der Stadt in einem erweiterten Trog einen künstlichen Sumpf zu pflegen, das dürfte doch ein falscher Ansatz sein beim Bemühen, endlich mal was anderes als die eintönigen Tulpenbeete zu kultivieren. Ich bin versucht, auf dieses Vorhaben den Begriff der Künstlichen Dummheit anzuwenden, wobei ich mit dem englischen Gegenstück zu Artificial Intelligence Mühe habe; Artificial Idiocy erscheint mir zu happig, Idiotie kann meines Erachtens nicht künstlich, sondern nur vorsätzlich betrieben werden, Artificial Dumbness umschreibt eher Doofheit als Dummheit, und ich gehe davon aus, dass Ihr als hoch differenzierende ZuhörerInnen den Unterschied sofort checkt; also wäre Artificial Stupidity möglich, wobei natürlich viel eleganter wäre Artificial Simplemindedness, und den Gipfel der Schönheit würde zweifellos der englische Ausdruck Artificial Bêtise erklimmen. Ich habe mich also mit mir darauf geeinigt, in Zukunft von Artificial Bêtise zu sprechen, wenn ich je wieder darauf zu sprechen kommen sollte.

Dazu habe ich aber weder die Absicht noch einen Anlass, denn im Moment gibt es weder in Europa noch in der Schweiz Sümpfe trocken zu legen oder künstlich einzurichten, sondern 2009 ist ein Wahljahr, und zwar nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze EU mit der Wahl des Europaparlamentes im Juni. Deutschland stellt dabei 99 ParlamentarierInnen ab in das 750-köpfige Parlament, gefolgt von Frankreich, Italien und Grossbritannien mit je 78 Stück, Polen und Spanien mit 54, Rumänien mit 35, den Niederlanden mit 27 und Belgien, Griechenland, Portugal, der Tschechei und Ungarn mit je 24 Abgeordneten und so weiter, alles mehr oder weniger im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Es handelt sich bei der Europawahl nach meinem Wissen um den einzigen Akt, bei dem die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten wenigstens indirekt einen Einfluss nehmen können auf die Politik der EU; und offenbar interessiert sich in den traditionellen EU-Ländern kein Schwein dafür. Damit kommt allerdings nur einmal mehr zum Ausdruck, was ich immer wieder feststelle: Europa hat als Idee oder Möglichkeit oder sogar Programm überhaupt keine Dimension in der Allgemeinheit, wie gesagt: mindestens der traditionellen Länder.

Macht, was Ihr wollt!, aber man fragt sich doch immer wieder, welches die Perspektiven sind, die sich mit der EU eröffnen, abgesehen von der unendlichen Bürokratie, welche sich über die jeweils geltenden nationalen Verwaltungskörper stülpt. Dass sich dafür niemand erwärmt, leuchtet ein. Aber theoretisch bestünde doch die Möglichkeit, im neuen Großeuropa auch ein paar neue Möglichkeiten wahrzunehmen? Herumreisen zum Beispiel? Charmante Französinnen und Französen kennenlernen? Mal ein Jahr in einer Kleinstadt in der Ardèche verbringen. Oder in Polen. Polen wird oft unterschätzt. Auch Rumänien wird unterschätzt. Aber es ist so überhaupt niemand interessiert oder neugierig auf solche Dingens, alles bleibt auf sich selber orientiert und dreht sich im Kreis. Am deutlichsten zum Ausdruck kommt das in der Fixierung auf Arbeitsplätze und soziale Sicherung, was zweifellos schöne und tragende Elemente eines modernen Lebens sind, aber eben in der fixierten Form nichts anderes bedeuten als die Forderung des Individuums nach einer lebenslangen Verankerung im gleichen Stückchen Erde. Das hatten wir früher schon mal, damals hieß das aber noch Leibeigenschaft. Supranationale Organisationen wie die EU sollten nun doch den Individuen gerade eine höhere Bewegungsfreiheit erlauben und nicht zur absoluten Reduktion der Mobilität auf null führen. Geistig scheint die Immobilisierung aber unterdessen vollzogen.

Wie war das denn damals zu Zeiten der Völkerwanderung, erinnert Ihr Euch? Nein? Ich auch nicht. Das Thema ist allerdings ziemlich aktuell und brisant, wenn man mal vom sedimentierten Europa absieht. Unsere Perspektiven auf diese Bewegung, aber auch auf den eigenen Bewegungsradius und wahrscheinlich auch die entsprechende Praxis werden sich in den nächsten Jahrzehnten mit Sicherheit radikal verändern. Vor allem, wenn das, was dann Arbeit heißen wird, mehr oder weniger rund um den Erdball erledigt werden kann. Irgendwann wird nicht mehr nur die Arbeit ausgelagert, sondern auch die Menschen beginnen herumzuirren auf dem Erdball. Der ist immer noch groß genug, dass man sich da gegenseitig nicht überall in die Quere kommt. Bloß verständigen muss man sich halbwegs können und ein bisschen Ahnung von den einen und den anderen Dingen haben, das brauchts dann schon. Dann geht das lustige Wandern weiter, von dem man schon anfangs des 19. Jahrhunderts gesungen hat. Eben, solange man die Arbeit mehr oder weniger zusammen mit dem Laptop mitführen kann, ist das sowieso kein Problem; und dann bleibt nur noch für eine soziale Absicherung die Frage, ob hier künftig das ius solis oder das ius sanguinis gelten soll. Das gibt Futter für Spezialisten.

Wie auch immer. Ihr habt gehört, dass gegenwärtig in Genf die Nachfolgekonferenz zur Antirassismus-Konferenz in Durban stattfindet, von der sich einige Staaten der Welt fern halten, weil sie angeblich befürchten, dass das Thema für anders lautende Zwecke missbraucht wird. Wenn ich den Medien Glauben schenken darf, so wollte eine Fraktion der Islamerer in die Antirassismus-Schlusserklärung ein Verbot der Beleidigung fremder Religionen hineinpacken. Da diese Schlusserklärung noch nicht gefasst ist, packe ich die Gelegenheit beim Schopf und sage, dass solche Religionsvertreter ihre Religion in den Ruf einer strunzdummen Veranstaltung bringen. Religion ist nun mal Menschenwerk, mein lieber Herr Islam, das gilt für den Juderer und den Christerer genau gleich. Wenn man zum Beispiel der Bibel Glauben schenken will: Wie oft hat sich nicht der Herr unser Gott von seinem auserwählten Volk mit Grausen abgewendet! Ich improvisiere jetzt mal mit der Behauptung, dass in der zweiten Hälfte des alten Testamentes der liebe oder je nachdem gerechte und damit gerne auch mal böse Gott seine Israeliten gepiesackt und gestraft hat, dass Gott erbarm, aber mit Grund, weil sie nämlich dauernd von ihm abfielen, seine Gebote mit Füßen traten usw. usf. Meint denn nun irgend ein frommer Jude oder eine fromme Jüdin, all das habe vor zweitausend Jahren mit einem Schlag aufgehört? Na, durchaus nicht, bloß wird das, was früher noch als Gottes Wort festgeschrieben wurde, heute als reine Menschenpropaganda veranstaltet. Diesmal ist zum Beispiel der israelischen Diplomatie beigefallen, energisch dagegen zu protestieren, dass unser Schweizer Bundespräsident Merz mit dem nach Genf angereisten iranischen Regierungschef Ahmadi Najaf gemeinsam ein Abendessen einnahm. Einmal abgesehen davon, dass ich es schätzen würde, wenn die israelischen Verlautbarungen wieder etwas alttestamentarischer tönen würden, dürfte es doch auch der israelischen Botschaft nicht ganz unbekannt sein, dass die Schweiz im Iran die Interessen der USA und damit absolut kongruent und gleichzeitig jene Israels vertritt, und das ist nun mal nicht möglich mit eisernem Schweigen und trotzigem Aufstampfen. Also, was soll dieser Protest gegen ein Treffen, das in der einen oder anderen Form nichts anderes als ein Treffen zwischen Israel selber und dem Iranerer war? – Der Protest war ebenso überflüssig wie sinnlos. Unser guter alter Hans-Rudolf Merz ist wegen dieses Treffens keineswegs ein Antisemit, und dass der Ahmadi Najaf ein halbgeblendeter Idiot ist, braucht uns auch niemand zu sagen. Aber gegen dieses getreten-betretene Gejaule für die Weltöffentlichkeit, da könnte doch der jüdische Gott wieder mal ein bisschen Posaune blasen, dass mindestens die dümmsten Propagandisten in Israel das Ohrensausen bekommen. Vom Christentum will ich gar nicht reden, das ist ja sowieso jener Kulturraum, in dem ich selber aufgewachsen bin. Aber nochmals: Dass der Islamerer die Kritik fremder Religionen mit Rassismus gleichsetzt, zeigt einfach nur einmal mehr, dass er geistesgeschichtlich immer noch so um die 500 bis 800 Jahre aufzuholen hat. Falls da einer davon zuhört, nur zur Information: Wir sind längstens über die Kritik fremder Religionen hinaus – wir betreiben nur noch Religionskritik insgesamt und machen überhaupt keine Ausnahmen. Völlig intolerant. Dagegen besteht der Unterschied zwischen Rasse und Religion darin, dass es sich im einen Fall um eine Rasse handelt und im anderen um eine oder die Religion. Kapiert? Rasse – Religion. Religion – Rasse. Die Konferenz in Durban war angesagt als Antirassismus-Konferenz, nicht als Antireligionskonferenz.

Aber ganz wie es sich in Glaubenssachen eigentlich gehört, verlieren in dem Bereich die Menschen gerne mal den Kopf, wobei ich hier jetzt nicht den physischen Kopf meine, sondern nur das Denkvermögen. Und somit warten wir doch mit einer gewissen Spannung darauf, ob die Schlusserklärung der Durban-Nachfolgekonferenz wieder den Rassismus-Vorwurf gegenüber Israel erhebt. Auch hier wieder: Man kann Israel vorwerfen oder nachsehen, was man will, aber mit Rasse hat dieser Konflikt nun gerade eben nicht beispielhaft viel zu tun.

Bei euch dagegen hat die SPD ihr Herz in die Hand genommen und fordert allen Ernstes eine höhere steuerliche Belastung für die Reichen. Umgehend sehr enttäuscht zeigte sich der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, der einen Rückfall hinter die Reformagenda 2010 und in die alten Klischees sah. Dagegen äußerte er sich nicht zum neuen Klischee eines raffgierigen Bankmanagers, der im Auftrag der Superreichen aller Länder solange drauf los spekuliert, bis der halbe Kapitalismus den Bach runter geht. Ich glaube, so ne Interessenvertreter wären um Einiges glaubwürdiger, wenn sie auch mal ein paar Fehler in den eigenen Reihen eingestehen würden. Vielleicht wird dies zu einem neuen Qualitätsniveau in der Unternehmenskommunikation, Horizont 2050. Davon unabhängig ist es wirklich possierlich, wie die Sozialdemokratie versucht, Elemente eines sozialdemokratischen Programms zusammenzustiefeln, das sich von der Praxis der CDU/CSU abhebt und gleichzeitig noch ein Lippenbekenntnis zum sozialen Bildersturm von Gerhard Schroeder enthält. Das ist wirklich possierlich.

Ich habe vor ein paar Jahren gedacht, mit dem Ende des zweiten Jahrtausends sei auch die historische Phase der Sozialdemokratie abgelaufen. Ich habe mich getäuscht – vielmehr ist der Sieg der Sozialdemokratie in den entwickelten Ländern umfassend. Es gibt gar keine Alternative. Wenn Ihr in Deutschland etwas Lust auf ein Späßchen habt und gar den Spaßvogel und Bratpfannenhände-Applaudierer Guido Westerwelle in die Regierung hievt und ihm gar über 10 Prozent der Stimmen verleiht, dann werdet Ihr mal sehen, wie schnell sich auch die Westerwelle in einen sozialdemokratischen Dampfantrieb umwandelt.