"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Krise mit oder ohne Kollaps -

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[32. Kalenderwoche]
In den letzten Wochen haben sich die internationalen Finanzspekulanten auf Italien eingeschossen.
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Upload vom 10.08.2011 / 15:01

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 10.08.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
In den letzten Wochen haben sich die internationalen Finanzspekulanten auf Italien eingeschossen. Offenbar weigerte sich die deutsche Bundesbank und die deutsche Bundeskanzlerin zunächst dagegen, dass die Europäische Zentralbank Unterstützungsmassnahmen für Berlusconis Staats¬anleihen ergreifen wollte. Als darauf EZB-Präsident Jean-Claude Trichet verlauten liess, dass sein Institut keine italienischen Titel kaufen würde, schnellte deren Zinsdifferenz gegenüber dem deutschen Bund massiv in die Höhe mit der damit verbundenen massiven Verteuerung der Finanzierung und der Refinanzierung nicht nur des italienischen Staates, sondern auch der italienischen Wirtschaft, die bekanntlich seit Ausbruch der Griechenland-Krise ebenfalls als Wackelkandidat genannt wird hinter Irland und Portugal und Spanien. Das schreckte offenbar Bundesbankpräsident Weidmann und Bundeskanzlerin Merkel doch soweit auf, dass sie ihren Widerstand aufgaben, und jetzt wird dieses Programm doch aufgesetzt, und zwar noch bevor der Italiener Draghi die Nachfolge von Trichet antritt. Kurz gesagt: Auch der Musterschüler soll keine Lektionen erteilen; die deutsche Wirtschaft steckt mitten drin im Euro-Sumpf, ja, sie hat davon recht ordentlich profitiert, zum Beispiel eben mit Exporten nach Griechenland, welche mit jenen ungedeckten Checks bezahlt wurden, unter denen der griechische Staat bzw. die griechische Bevölkerung jetzt ächzen und stöhnen. – Aber dies nur nebenbei; das griechische Problem liegt sicher in erster Linie in Griechenland selber und nicht in Deutschland oder in den prosperierenden Ländern der EU.

Die italienischen Börsen haben sich dementsprechend ordentlich erholt, und auch die Verunsicherung wegen der Bonitätsrückstufung der USA durch Standard & Poor's von AAA auf AA+ dürfte sich relativ bald wieder verziehen, nicht aber das generelle Misstrauen auf den Finanzmärkten, welche sich vom Absturz im Jahr 2008 eigentlich nie mehr so richtig erholt haben, ganz im Gegensatz zu einem Grossteil der Unternehmen in der Realwirtschaft, welche relativ unbeirrt durch die Turbulenzen stapfen. Allerdings hängen auch in der Realwirtschaft ganze Sektoren von den Finanzmärkten ab, zu Beispiel die Infrastrukturbereiche. Wenn die Nationalstaaten keine Knete für ihre Infrastrukturen zur Verfügung haben, dann spüren dies zum Beispiel die Hersteller von schweren Baumaschinen. Oder dann die Sozialausgaben: Drohende Kürzungen der Sozialhilfeprogramme, welche wirtschaftlich gesprochen Massnahmen zur Stützung der Konsumausgaben sind, verändern das Kaufverhalten. So verzeichnete zum Beispiel Wal-Mart, die weltweit grösste Discount-Ladenkette, in den USA von Februar bis Juni einen Kundenrückgang um über 80 Mio. Personen, das sind 2.6 Prozent. Wenn man insgesamt die Volkswirtschaft als ein Gleichgewicht von dynamischen Variablen betrachtet, was zweifellos absolut korrekt ist, da damit noch nicht besonders viel ausgesagt ist, weder zum Gleichgewicht noch zu den Variablen, aber immerhin, dann drängt sich die Aussage auf, dass das bisherige Gleichgewicht gestört ist, zunächst unabhängig von Ursachen und Auswirkungen. Danach fragt sich der neugierige Mensch natürlich dann in einem zweiten Schritt. Eine meiner Lieblingshypothesen lautet schon längere Zeit, dass die Wirtschaft in den entwickelten Ländern zu ungefähr 50% nur noch eine Scheinwirtschaft ist; nach der Schattenwirtschaft hätten wir damit einen zentralen neuen Begriff für die moderne Gesellschaft eingeführt. Insbesondere Großkonzerne wirtschaften derart effizient, dass sie sich zwangsläufig überflüssige Abteilungen halten müssen, damit die Gewinne nicht allzu exorbitant aussehen. In diesen Abteilungen werden Tausende von mehr oder minder qualifizierten Arbeitskräften beschäftigt, die allesamt ausgezeichnete Arbeit leisten und Ende Jahr hoch erhobenen Hauptes aus dem Mitarbeiterinnengespräch heraus kommen. Die Spielregeln werden eingehalten, auch der Zweck der erledigten Arbeiten leuchtet unmittelbar ein, bloß gesamtwirtschaftlich und für das Unternehmen ist die Tätigkeit absolut sinnlos.

Zur Illustration des zugrunde liegenden Wirtschaftsprozesses nehme ich den Billigschuh-Anbieter Deichmann. Im Online-Shop kann ich dort Schuhwerk für Damenfüße zum Durchschnittspreis von 20 Euro pro Paar erstehen. Online-Shop heißt: Für diese Ware fallen noch nicht mal Kosten für die Ladenmiete bzw. für das Verkaufspersonal an, bloß Transport, Zoll, Lageraufwand und Versand¬kos¬ten, wobei letztere separat verrechnet werden. Der Einkaufspreis für dieses Paar Schuh am Hafen von Rotterdam liegt aber bei 20 Cent. Daraus ergibt sich eine blödsinnige Gewinnspanne, und zwar umso blödsinniger, je größer das Unternehmen ist. Deichmann selber ist mit eine Umsatz von 2–3 Mia. Euro ein kleiner Fisch auf den Weltmarktmeeren, das heißt, seine Skalenerträge sind nicht derart exorbitant, dass er sich wirklich eine unproduktive Zusatzbeschäftigung von 100% leisten könnte, aber das Beispiel zeigt doch hinlänglich, wie ich zu meiner Hypothese komme. Sie bedeutet im Kern, dass unseren Gesellschaften zu gut einer Hälfte kein so genannt realwirtschaftliches Fundament mehr zugrunde liegt, sondern nur noch die bekannten und soweit bewährten Mechanismen einer kapitalistischen Austauschgesellschaft, ohne die dazu gehörige kapitalistische Produktion, welche unglücklicherweise durch die Vollautomation im Kern erledigt worden ist.

Gesetzt der Fall, diese Hypothese träfe zu, dann wäre ja alles bestens, solange das Spiel gemäß den alten Spielregeln der freien und meinetwegen sozialen Marktwirtschaft gespielt wird. Wenn aber die anfangs erwähnten dynamischen Variablen ihr Gewicht oder ihre Funktion einbüßen, dann wirds schwierig, und zwar aus dem einzigen Grund, weil die ehemals zugrunde liegenden Basisfunktionen, vor allem in der Wertschöpfung, gar nicht mehr vorhanden sind. So, wie sich früher die Währungs- bzw. Wechselkurssysteme am Goldstandard orientierten, hat sich der Warentausch über die Jahre hinweg an einer vermuteten Wertschöpfung ausgerichtet – und ich spreche hier nicht von jener Wertschöpfung, die in der Buchhaltung ausgewiesen wird, sondern an einer realen Wertschöpfung, wie sie z.B. heute noch im Pharmabereich oder bei Spezialtextilien oder meinetwegen auch im IT-Sektor und in weiteren nach wie vor existieren. In den anderen aber nicht; hier wird das Spiel zwar weiter gespielt, aber die Grundlagen haben sich längstens in Luft aufgelöst. Und das weist darauf hin, was so eine richtig tolle, tiefe Krise wirklich auslösen könnte. Sollte sich das sehr weit gediehene künstliche System plötzlich auf die Grundwerte einer tatsächlichen Produktion zurück besinnen müssen, dann fliegt das ganze Konstrukt in die Luft, inklusive sämtliche Mechanismen der sozialen Sicherung. Respektive: sämtliche bekannte Mechanismen der sozialen Sicherung; denn in einem solchen Augenblick versteht es sich von selber, dass die Instrumente und Institutionen, welche sich die Gesellschaften geschaffen haben, die Macht übernehmen müssen von den irre gewordenen Kräften des internationalen Kapitals und vor allem des Finanzkapitals. Dann müssen die Staaten autoritär eingreifen, die Banken nationalisieren, Geld drucken und ansonsten in einem nicht wirklich klar vorhersehbaren internationalen Katzenhandel die Bedingungen des internationalen Warentausches von Grund auf neu definieren.

Darauf kommts ja auf jeden Fall hinaus, wenn das System in die Luft fliegt, ganz unabhängig davon, ob meine Hypothese zutrifft oder nicht. Denn diese Hypothese enthält keineswegs zwangsläufig den Abgang dieses Systems in einem großen Kollaps; wenn eine solche künstliche Beschäftigung innerhalb von großen Unternehmen über 10 oder 20 Jahre funktioniert hat, wieso sollte sie nicht auch weitere 20 oder 50 Jahre funktionieren? – Bloß sollte sich mit der Zeit die Einsicht durchsetzen, dass eben nicht die gesamte werktätige Bevölkerung auf Teufel komm raus am Wohle der Nation arbeitet, noch nicht einmal im Exportweltmeisterland Deutschland, sondern dass diese Arbeitswut im Kern nur eine allgemeine Therapie darstellt, mit welcher die durchschnittlichen Menschen von der Idee abgehalten werden sollen, dass es eventuell auch noch andere Möglichkeiten der Selbstrealisierung gibt als 40 Jahre hinter dem Bildschirm. Eine solche Einsicht wäre nämlich ziemlich gefährlich auf zwei Seiten: Einerseits entziehen sich Menschen, welche urplötzlich eigene Projekte entwickeln und durchziehen, ebenso urplötzlich jener Kontrolle, welche mit einem geregelten Arbeitsalltag einher geht; und anderseits käme für viele Personen eine niederschmetternde Einsicht zum Tragen, nämlich dass sie sich daran gewöhnt haben, jenseits ihrer Beschäftigungstherapie in ihrem eigenen Leben gar keine weiteren Perspektiven entwickelt zu haben, ja noch nicht einmal entwickeln zu können. Vielleicht liegt hier der wirkliche Kern dafür, dass Projekte wie die 35- oder 30-Stunden-Woche in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Debatte seit Jahrzehnten vollkommen vergessen gegangen sind.

Abgesehen von diesen Debatten, welche in erster Linie unsere saturierten Wohlstandsgesellschaften betreffen, spielen selbstverständlich auch noch andere Vektoren ihre Rolle, in erster Linie natürlich die Schwellenländer, welche mit vollem Recht einen angemessenen Platz an der Sonne beziehungsweise im Konzert der entwickelten Länder für sich in Anspruch nehmen. Dass unsere Güter, wie z.b. die erwähnten Schuhe, derart blödsinnig billig sind, hängt ja nicht allein mit der Vollautomation zusammen, sondern zusätzlich damit, dass wir über lausige Wechselkurse viel zuwenig dafür bezahlen. Wenn solche Verhältnisse aufgebrochen werden, ist dies einesteils nichts als gerecht, und andernteils erfolgt damit ein dauerhafterer Beitrag zum Weltfrieden als alle Uno-Friedensmissionen insgesamt. Für die entwickelten Länder bedeutet dies einen relativen Niedergang, der sich aber keineswegs in einer absoluten Verarmung ausdrücken muss. Vielmehr beobachten wir einen Prozess, wie wir ihn immer gewünscht haben: Die reichen Länder haben immer noch mehr als genug, aber mindestens die Schwellenländer kriegen in immer rascherem Tempo einen immer größeren Teil vom Kuchen. – Und nebenbei hat man den Eindruck, dass bei all den Krisen, welche unsere Medien füllen, ganz unbemerkt auch in den armen Ländern zum Beispiel in Afrika die Entwicklungen insgesamt eben doch nach oben zeigen in Richtung mehr Wohlstand nicht nur für eine korrupte Elite, sondern auch für die armen Bevölkerungsschichten. Darüber demnächst mehr.

Ein Nachtrag noch zu meiner erneuten Türkei-Lobhudelei in der letzten Sendung: Ich bin mir absolut bewusst, dass einige Stimmen davor warnen, dass die AKP letztlich doch eine islamische türkische Republik anstrebe, dass also Erdogan früher oder später die Scharia einführen werde und so weiter und so fort; insbesondere wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass gerade das Militär der Garant gewesen sei dafür, dass die Türkei ein laizistischer Staat geblieben sei. Ich kann zwar eine geheime Agenda der AKP nicht ausschließen, wer hat schon keine solche. Aber wenn es eine gibt, dann sollte sie sich doch bei Gelegenheit auch mal zeigen. Schließlich hat weder Staatspräsident Gül noch Regierungschef Erdogan irgendwelche Qualifikationen für eine auch noch religiöse Führerschaft, wie man sie zum Beispiel im Iran sieht oder wie sie der unterdessen gottseidank erschossene Osama bin Laden mit seinen Taliban-Gastgebern vertrat. Nein, da ist nichts dergleichen. Umgekehrt war das Militär eben zuverlässig nicht einfach der Garant eines laizistischen Staates, sondern ein zentraler Bestandteil des bekannten «tiefen Staates», eines korrupten Beziehungsgeflechts zwischen Superreichen, Politik und Militärs, in das übrigens auch Peter, der andere Sohn eures ehemaligen Superkanzlers Helmut Kohl hinein geheiratet hat. Ich höre die Kritik, aber ich bleibe vorderhand bei meiner Einschätzung.