"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Darf man Osama bin Laden töten? -

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[43. Kalenderwoche]
Darf man Osama bin Laden töten? Darf man Gaddhaffi töten? Nein, auf keinen Fall, versteht sich, aber anderseits versteht sich auch, dass man die Herren geradezu abservieren musste, schöner fürs Auge wäre es vielleicht gewesen, ihnen den Prozess zu machen, also einen Schauprozess, bei dem man sie anschließend zweitausend Mal lebenslänglich in den Knast gesteckt hätte und so weiter.
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10:41 min, 7510 kB, mp3
mp3, 96 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 25.10.2011 / 16:29

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 25.10.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Aber bei aller christlichen Moral, welche uns den Rückfall in alt- oder gar vortestamentarische Denkmuster verbietet, kann man den Abgang mit Tod dieser beiden zeitgenössischen Figuren nicht wirklich bedauern und auch nicht als amoralisch verurteilen. Die Schuld der beiden Herren dürfte auch ohne Prozess erstellt sein, und somit bleibt die konkrete Form der Bestrafung ziemlich sekundär. Man darf niemanden töten, aber hin und wieder muss es sein. Ein klarer Fall von Ja und Nein gleichzeitig. «Handle stets so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte» – wie verhält es sich denn mit dieser Maxime von Kant? – Ach so, ich habe ja gar nicht gehandelt, sondern bloß laut gedacht, aber das ist ja auch wieder eine Handlung, insofern dieser Gedanke in die Öffentlichkeit gelangt, und das unterstelle ich auch im Rahmen der beschränkten Sendereichweite von Radio F.R.E.I. Ich habe also soeben zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben, dass es eine Schuld gebe, bei der die konkrete Form der Bestrafung sekundär sei. Sollte dies zutreffen, so bliebe mir wohl nichts anderes übrig, als mich sofort von mir zu distanzieren.

Sprechen wir von etwas anderem. Ich hatte mich hier vor Jahren mal darüber lustig gemacht, dass der Automobilhersteller Audi verzweifelt seine Innovationskraft zu beweisen versuchte mit Elektroautomodellen, deren Entwicklung er schon vor zwanzig Jahren verschlafen hatte. Seither hat sich aber vieles getan in dieser Schmiede männlicher Träume. Jetzt bewirbt die PR-Abteilung den Audi e-tron mit wunderbar energischen, wo nicht sogar elektrischen Vulkanfarben. Allerdings ist es ein Auto, das nach wie vor nur als Showcar vorliegt. Immerhin hat dieses Showcar im Jahr 2010 die erste Silvretta E-Auto-Rallye Montafon gewonnen, zu welcher der Veranstalter schreibt: «Bei hochsommerlichen Temperaturen über 30 Grad Celsius absolvierten alle 25 gestarteten Elektro-Fahrzeuge ohne Reichweitenprobleme oder Ausfälle die Wertungsprüfungen an drei Tagen. Bis zu 62 Kilometer am Stück mussten die E-Autos dabei im österreichischen Montafon zurücklegen.» – Na, da stellt uns Audi ja in der Tat ein richtiges Innovations-Powerhaus zur Verfügung bzw. mindestens schon mal in Aussicht: Mit diesem Audi e-tron kann man bis zu 62 Kilometer am Stück ohne Reichweitenprobleme oder Ausfall fahren. Das halte ich für eine perfekte Werbeaussage in der guten alten Tradition der ersten Kampagne vor ein paar Jahren. Vielleicht sollte sich die entsprechende Abteilung zusätzlich noch auf die Produktion elektrischer Heißluftballongs verlegen. – Und nur am Rand will ich noch auf die zentrale Frage hinweisen, die man sich rund um diese Silvretta E-Auto-Rallye im Montafon stellte: «Subventioniert der Staat die e-Autos auch ausreichend?» – Davon stand im Inserat dann wieder nix.


Daneben gabs bei uns am Sonntag wieder mal Parlamentswahlen. Unabhängig von den Ergebnissen hat mich erstaunt, dass die Fernsehberichterstattung dazu am Wahlsonntag immer mehr die Form einer Sportberichterstattung annimmt mit ausgedehnten Vorschauen, Hochrechnungen, einzelnen Ergebnissen, Kommentaren von kleinen und mittleren Expertinnen und Experten, all dies über volle acht Stunden hinweg mehr oder weniger live. Acht Stunden lang wird eine Hochspannung simuliert, die sich bloß auf den einen Fakt konzentriert, ob die rechtsnationale SVP ihren Stimmenanteil noch einmal zu steigern vermochte. Die Jungs haben einen Anteil von 30% im Visier und gerieren sich so, als hätten sie damit schon die absolute und relative Mehrheit, als hätten sie damit die gleiche Volkslegitimation im Sack wie einst die SED mit ihren 96%. Sowas ist zwar immer wieder leicht frustrierend, aber der durchschnittlich zivilisierte Mensch hat gelernt, damit zu leben; der Wähleranteil von 30% gibt ungefähr den Grad an funktionellen Analphabeten in unserem Land wieder, das heißt, eine Demokratie muss 30% an Menschen ertragen können, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. So siehts aus.

Immerhin ist interessant, dass diese Partei stark mit Doppelbödigkeiten arbeitet, also mit dem Umstand, dass hinter schönen Parteiprogrammen und Parolen oft ein ganz normaler Polit-Arbeitstag steckt, in dem hauptsächlich Interessen vertreten werden. Unter solchen Vorwürfen leiden logischerweise in erster Linie Parteien, welche überhaupt ein Parteiprogramm haben, also ganz sicher nicht die SVP; die hat einen so genannten Vertrag mit dem Volk abgeschlossen, in Anlehnung an den Patto cogli Italiani von Silvio Berlusconi, und übrigens heißt auch die Kneipe, welche der Parteipräsident vor etwa 6 Jahren eröffnet hat, Haus der Freiheit, in Anlehnung an die Casa delle Libertà, wie das Bündnis von Berlusconi hieß, bevor es umgetauft wurde zum Popolo della Libertà, Volk der Freiheit. Aber das sind Details, im Gegensatz zur Doppelbödigkeit der politischen Kampagnen, welche längst eine bekannte Realität sind. Aber nicht nur politische Parolen sind vielschichtig, eigentlich betrifft dies alle Begriffe, die über einen längeren Zeitraum hinweg mehr oder weniger unverändert verwendet werden. An ihnen sammeln sich im Gebrauch allerlei Bedeutungsfäden an, Nuancen aus einem besonderen Kontext können das sein, oder aber sie verlieren jeglichen Inhalt, weil sie bis zum Exzess benutzt werden, ohne dass ihnen noch die Gnade eines Restgedankens zuteil wird, der auf sie verwendet würde wie zum Beispiel bei der guten alten Solidarität. Aber auch die weniger strapazierten Wörter unterliegen einem Abnützungsprozess, und dann ist es oft einfacher, wenn man als neuen Begriff einfach das englische Äquivalent einführt. So kann man sich im Mikrobereich Luft verschaffen, zum Beispiel, wenn man etwas mit der Family unternimmt und nicht mit der Familie. Bei der Familie weht immer so eine Schleppe an Tradition und christlichen Grundwerten mit, von der das englische Wort völlig frei ist. Bei den anderen aber sammelt sich so etwas an wie im Winter eine Schneeschicht unter den Schuhsohlen, und in mancher Beziehung weiß man bald nicht mehr, wovon man überhaupt spricht, soweit es sich nicht um die allgemeinen Kommunikationsfloskeln handelt.

Neue Verhältnisse mit alten Wörtern zu beschreiben ist auch eine schwierige Sache. Wenn wir uns mit Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaften befassen in der Absicht, die Prozesse zu verstehen und im besten Fall Interventionsmöglichkeiten oder Gestaltungsoptionen heraus zu kristallisieren, dann machen wir uns das Leben in der Regel zunächst einmal erst schwer, indem wir eben mit den bekannten Begriffen herum staksen müssen, die in anderen Zusammenhängen bereits gnadenlos abgewertet wurden. Eine ordentliche Systemkritik jenseits des Vokabulars der Systemkritiker, das wird schwierig. Und da wir sowieso im Zeitalter der Hyperkommunikation leben, das heißt in einer Zeit, da die Wörter und die gesamte Sprache so intensiv benutzt werden wie wohl noch nie zuvor in der ganzen Geschichte der Menschheit, dürften daraus einige Probleme entstehen, mit der sich die klugen Köpfe noch nicht so richtig beschäftigt haben.

Mit anderen Worten: Die Arbeit geht uns nicht aus, auch in Zeiten der Vollautomation. Zu diesem Thema, nämlich zur Arbeit, liefert auch das italienische Magazin Espresso in seiner neuesten Ausgabe einen Beitrag, und zwar befasst es sich mit dem Süden Italiens ausnahmsweise mal von Seite der Unternehmer her, also mit der Frage: Gibt es überhaupt Kapitalisten in einer Gegend, die bekanntermaßen von der Mafia verseucht ist, wo grundsätzlich ein industrielles Projekt noch nicht mal bis zum Aushub der Baugrube für eine Fabrik gedeiht, weil schon von Anfang an sämtliche Baumaschinen und Baumaterialien weggeklaut werden, von fehlenden Straßenanschlüssen und Telefon-, Elektrizitäts- und Wasserleitungen gar nicht zu sprechen? – Und siehe da, ein paar Exemplare scheinen doch zu existieren, wobei man immer davon ausgehen muss, dass sie mindestens zum Teil Absprachen mit der Mafia eingegangen sind. So ist zum Beispiel Gianni Punzo, einer der drei größten Unternehmer in der Campania, aus dem Nichts gekommen; heute besitzt er Banken, Einkaufszentren, eine Eisenbahn-Betriebsgesellschaft, welche den staatlichen italienischen Eisenbahnen Konkurrenz machen will usw. Kamerad Punzo saß 1995 wegen Camorra-Vorwürfen im Gefängnis, wurde aber wieder frei gelassen, ohne dass es zum Prozess gekommen wäre. Daneben führt der Espresso für die Campania noch zwei weitere Großunternehmer auf, für Apulien ein halbes Dutzend, in Sizilien ist es vor allem ein Medienunternehmer neben kleineren Betreibern von größeren Einkaufszentren; für Kalabrien dagegen nennt der Espresso gerade mal Pippo Callipo, einen Hersteller von Fisch- und Meeresprodukten mit insgesamt 300 Beschäftigten, der sich in seiner Freizeit dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen widmet, sowie den Präsidenten des italienischen Zweigs der Einzelhandelskette Spar, in Italien Despar, welche offenbar hier ihren nationalen Sitz hat. Daneben werden noch Santo Versace erwähnt, der Chef des Konzerns seines Bruders Gianni Versace, sowie Antonio Saladino, der einerseits einer der bekanntesten Geschäftsmänner Italiens sei und anderseits erstinstanzlich zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde wegen Amtsmissbrauchs und daneben im Zentrum eines Netzwerks hochrangiger Persönlichkeiten stehe, wie man sich dies ungefähr vorstellen kann.

Unternehmer im Mafialand – eine schöne Aufgabe, wie dies gewiss auch die italienische Umwelt¬minis¬terin Stefania Prestigiacomo bestätigen würde, wenn man sie fragen täte, denn diese Umwelt¬ministerin stammt aus Sizilien und war selber Unternehmerin, nämlich Chefin von COEMI, einer Dienstleistungsfirma für die petrochemische Industrie, was sie geradezu prädestiniert zur Umweltministerin. Dementsprechend gilt denn auch das gesetzliche Verbot von Plastiktüten als einer ihrer Großerfolge.