"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - New York Times -

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Wenn ich mich recht erinnere, hat Tom Cruise bereits in Mission Impossible II die Welt vor einem verheerenden Virus gerettet, und in ein paar anderen Filmen, z.B. in der Resident-Evil-Reihe, ist die Bevölkerung von breiten Landstrichen oder überhaupt der ganzen Welt bereits infiziert, zum Tod verdammt oder in Zombies verwandelt durch dieses hoch ansteckende und wirksam tödliche Virus.
Audio
10:37 min, 15 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.01.2012 / 15:15

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.01.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Solche Filme und die entsprechenden Erzählungen haben den Boden dafür bereitet, dass nach dem Rinderwahnsinn vor allem die Vogelgrippe halbe Panikreaktionen auslöste rund um den Globus. Es gelang irgendwie, der Krankheit Herr zu werden, die Ausbreitung zu stoppen und die effektiven Todesfälle auf rund 300 einzuschränken, immerhin noch die Hälfte der tatsächlich angesteckten Personen. Die Eindämmung war vor allem dank dem Umstand möglich, dass die Ansteckung nicht so einfach über die Luft erfolgt, also durch Husten usw.; so potent ist das Virus bisher nicht geworden.

Meiner Tageszeitung liegt hin und wieder ein Auszug aus Artikeln der «New York Times» bei, und diesem Reader’s Digest entnehme ich, dass es Forschern an Erasmus-Medizinzentrum in Rotterdam jetzt gelungen ist, künstlich eine Mutation dieses Virus herzustellen, welche diese Schwachstelle nicht mehr aufweist, der mit anderen Worten nicht nur todgefährlich ist, sondern auch ansteckend. Das sind mal interessante Nachrichten, mindestens für die Wissenschaft. Die übrige Welt beschäftigt sich dabei mit ein paar anderen Fragen. Die erste ist selbstverständlich jene nach der Glaubwürdigkeit der entsprechenden Meldung in der New York Times. Laut deren Angaben stehen zwei Fachzeitschriften kurz vor der Veröffentlichung entsprechender Aufsätze, allerdings unter Weglassung verschiedener zentraler Informationen, sodass nicht irgend ein daher gelaufener Bioterrorist mit diesem Wissen selber eine entsprechende Mutation herstellen könnte. Also gehe ich zunächst mal davon aus, dass die Information stimmt, und anschließend kann ich mich im Bett umdrehen und weiter schlafen, denn es gibt ja auf der Welt nicht nur eine mutierte Vogelseuche, die höchst ansteckend und zu 50% tödlich wirkt, sondern auch andere Krankheiten, welche von den USA und damals der Sowjetunion und heute von Russland im Rahmen der biologischen Kriegsführung entwickelt wurden und heute in Hochsicherheitstrakten aufbewahrt werden. Trotzdem finde ich die Meldung spannend, eben nicht zuletzt wegen der Aussichten auf eine relativ breite Öffentlichkeit der Fachdiskussion. Gehen wir uns nun wirklich selber auf diese Art an den Kragen? – Oder dient diese künstliche Mutation nicht letztlich doch vor allem dazu, rechtzeitig ein Gegenmittel zu entwickeln? – Ich weiß es nicht. Ich finde es bloß absurd, aber hin und wieder auch spannend festzustellen, welche Unmengen an Informationen wir nicht nicht aufnehmen, sondern im Alltag einfach so verdrängen und auch verdrängen müssen, um uns überhaupt noch auf die Straße zu trauen.

Weniger auf der Katastrophenseite steht in diesem New-York-Times-Ausriss die andere Meldung, dass sich die Migrationsströme in Lateinamerika langsam zu verändern beginnen. Nun sind nicht mehr die Vereinigten Staaten von Amerika das einzige Ziel, sondern zunehmend auch andere, regionale Zentren in Mexiko, Argentinien und Chile. Auch hier frage ich mich, ob ich wirklich News Value genossen habe, denn dass der Trend zur Verstädterung in allen Entwicklungsländern seit Jahren ungebrochen anhält, ist eine wohl bekannte Tatsache; in Mexiko leben heute offenbar rund 77% der Bevölkerung in Städten, während es 1980 noch 66% waren. Aber die Zahl der an der Südwestgrenze der USA Aufgegriffenen sei im letzten Jahr zurückgegangen auf den tiefsten Stand seit 1972, und das könnte natürlich schon ein Indiz für irgend etwas sein, von dem man aber nicht so genau weiß, was es ist, denn es kann sich ebenso gut um die Wirtschaftskrise in den USA handeln wie darum, dass eben in den größeren und kleineren Zentren Mexikos die Lebensbedingungen und vor allem das Arbeitsangebot verbessert haben; von Brasilien ist in diesem Zusammenhang sowieso nicht zu sprechen, dieses Land befindet sich eh auf der Überholspur. Insgesamt aber geht es für den reichen Norden bei der globalen Migration letztlich immer um das eine Thema, nämlich ob er es schaffen kann, seine Stellung zu halten, ohne von Menschenströmen aus dem Süden überflutet zu werden. Und dafür stehen die Chancen natürlich umso besser, je besser es den Menschen im Süden geht. Aber das wisst ihr ja alle längst.
In unserer eigenen Nachbarschaft beobachten wir gegenwärtig vor allem die Länder am Südrand des Mittelmeers mit kritischen Augen. Der arabische Frühling hat zweifellos verkrustete Strukturen aufgebrochen und insonderheit Diktatoren innerhalb eines halben Jahres verschwinden lassen, mit denen der reiche Norden munter Geschäfte gemacht hatte. Jetzt bangt man um die Machtübernahme islamistischer Gruppierungen. Aber hier kann ich Generalentwarnung geben. Die Menschen im Maghreb wollen nichts sehnlicher, als den Lebensstandard der Europäer zu erreichen, und sie wissen auch, dass sich dabei gewisse gesellschaftliche und ökonomische Spielregeln als besonders vorteilhaft erwiesen haben. Gleichzeitig wollen sie aber auch ihre kulturelle Identität weiter entwickeln, das heißt, man sollte nicht etwa auf eine Kolonisierung Nordafrikas durch den Vatikan wetten. Was uns zum Teil noch in Gestalt einer drohenden Islamisierung karikiert wird, ist nichts anderes als die simple und tägliche Realität in diesen Ländern. Die Islamisierung droht gar nicht, der Islam ist dort eine Realität, so wie bei uns das Christentum. Und dementsprechend geht es jetzt darum, eine entsprechende neue politische Identität islamischer Parteien zu finden, so wie bei euch die CDU und die CSU, die wohl kaum etwas mit evangelikalen Idioten zu tun haben. – Wenn man es dann aber schafft, in Nordafrika die Wirtschaft richtig zum Blühen zu bringen mit all den klimatischen und kulturellen Trümpfen, welche diese Länder auszuspielen haben, dann wird das auch für uns eine absolut lustige Einrichtung.

In der Zwischenzeit wollen wir uns aber tüchtig ängstigen vor allen möglichen und tatsächlichen Krisen in der EU, in Europa, im Euro-Raum. Buuh, jetzt wurde das Länderrating von Frankreich zurückgestuft, und schon knarrt es wieder im Gebälk, der Rettungsschirm für die Krisenstaaten beziehungsweise in erster Linie für ihre Kreditgeber, die europäischen Privatbanken, scheint Löcher zu kriegen – so aus der Distanz beginne ich langsam richtig Spaß zu kriegen an dieser Veranstaltung, die vielleicht tatsächlich einmal einige Strukturreformen innerhalb der EU mit sich bringt, die wirklich überfällig sind. Wenn die EU nämlich zu einem tatsächlichen Gebilde werden soll und nicht nur zu einer bis auf gewisse wirtschaftliche und technische Vereinheitlichungen unverbindlichen Gemeinschaft, dann sind wirklich jene Schritte nötig, welche gegenwärtig am ehesten von eurer Frau Bundeskanzlerin propagiert werden. Selbstverständlich aktivieren in diesem Szenario aller anderen Länder die antideutschen Ressentiments, damit müsst ihr nach wie vor einfach leben, man kann die Geschichte und die Vorgeschichte nicht einfach auslöschen. Aber solange die anderen Knaben keine Alternativen anzubieten haben, kann sich Frau Merkel mindestens auf dem Kontinent wohl einigermaßen durchsetzen. Wie gesagt: Für mich wird das immer lustiger.

Weniger lustig bleibt die anhaltende Hochwildjagd des Springer-Konzerns im Namen der Pressefreiheit, wobei ich mir erlaube, erneut das Berliner Landesgericht zu zitieren, wonach Chefredakteur der «Bild» «bewusst seinen wirtschaftlichen Vorteil aus der Persönlichkeitsrechtsverletzung Anderer sucht». Demnächst wird Bild herausfinden, dass Bundespräsident Wulff schon als Ministerpräsident von Niedersachsen, erst recht aber und vor allem als Bundespräsident regelmäßig das Amtsklo benutzt, um seinen privaten Scheißdreck abzudrücken. Schon wieder ein Skandal. Das ist wirklich eine wunderbare Debatte der Pressefreiheit. Sie kontrastiert ganz eigenartig mit einer dritten Meldung, die ich dem Ausriss aus der New York Times entnehme, nämlich über einen Prozess gegen den türkischen Journalisten Nedim Sener, der über ein geheimes Netzwerk recherchierte, welches in der Türkei einen Staatsstreich plante. Heute steht er vor Gericht wegen der Anklage, er sei selber ein Teil dieses Netzwerks, und zwar weil die türkische Regierung offenbar zum Schluss gekommen ist, dass sie es mit der Pressefreiheit und überhaupt der Liberalisierung in der Türkei zu weit getrieben hat. Jetzt werden die Jungs wieder unter fadenscheinigen Vorwürfen eingebuchtet. 97 Nachrichten¬journalisten sitzen laut Berichten der türkischen Journalistengewerkschaft momentan im Gefängnis, offenbar noch mehr als in China, wo von Pressefreiheit nun wirklich überhaupt nicht die Rede sein kann. Selbstverständlich lauten die Anklagen immer auf andere Delikte als auf Recherche und korrekte Berichterstattung. Und man kann auch davon ausgehen, dass sich unter den Inhaftierten keine Journalisten und Journalistinnen von Hurryjet befinden, jenem Blatt, an dem der Springer-Verlag beteiligt ist und in dessen Beirat der Kamerad Diekmann seit ein paar Jahren sitzt. – Jedenfalls gingen beim Europäischen Menschenrechtshof im Jahr 2011 insgesamt fast 9000 Beschwerden aus der Türkei *wegen Verletzung der Presse- und Meinungsfreiheit ein gegenüber noch etwa 6500 im Jahr 2009. Im März erhielt der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk eine Busse von 3670 US-Dollars, weil er in einer Schweizer Zeitung geschrieben hatte, dass die Türken 30'000 Kurden sowie 1 Million Armenier umgebracht hatten. – Allerdings wird die Türkei gegenwärtig nicht so drall an den Pranger gestellt, weil sich der Westen unterdessen an den Erdogan gewöhnt hat, wie ich übrigens auch, und weil er in der Türkei auch ein Vorbild sieht für die besagten Länder im Norden Afrikas bzw. im Süden des Mittelmeers. Nun wäre es einfach toll und doch eigentlich nicht kategorisch auszuschließen bzw. nicht kategorisch gegen die Staatsinteressen der Türkei, dass sie auch in diesem Bereich, also bei der Presse- und Meinungsfreiheit, den arabischen Staaten ein Beispiel gäbe? Sie muss sich dabei ja nicht ausgerechnet am Oberjournalisten Kai Diekmann richten. Der läuft natürlich niemals in Gefahr, wegen seiner Scheißkampagnen 12 Monate lang in den Knast zu kommen oder gar zu mehrjähriger Haft verurteilt zu werden, umso weniger, als die Bild-Zeitung ja nirgendwo mit Recherche beschäftigt ist außer dort, wo es darum geht, wie gesagt, einen wirtschaftlichen Vorteil aus der Verletzung von Persönlichkeitsrechten anderer zu suchen. Da wird dann allerdings sehr intensiv gegraben.