"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Avenir Suisse -

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«Der Mittelstand wird durch die staatliche Umverteilung zugunsten von unteren Einkommensschichten zurückgeworfen. Zugleich wird ihm der soziale Aufstieg erschwert», schreiben Daniel Müller-Jentsch und Patrik Schellenbauer in der NZZ am Sonntag vom 18. November 2012.
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10:27 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 28.11.2012 / 16:26

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 26.11.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
«Der Mittelstand wird durch die staatliche Umverteilung zugunsten von unteren Einkommensschichten zurückgeworfen. Zugleich wird ihm der soziale Aufstieg erschwert», schreiben Daniel Müller-Jentsch und Patrik Schellenbauer in der NZZ am Sonntag vom 18. November 2012. Vor solchen Sätzen und ganzen Artikel steht man wie vor einem Werk von Mark Rothko, Ist es nun rot oder rot? Was will uns der Künstler damit sagen? Ich zitiere: «Im internationalen Vergleich geht es dem Schweizer Mittelstand ausgesprochen gut. Materiell hat sich seine Lage in den letzten 20 Jahren sogar verbessert. Von einer Erosion kann also nicht gesprochen werden.» Aber trotzdem: «Während die Top-Einkommen stark zunahmen, stagnierten die mittleren Einkommen.» Und daraus entsteht das Problem, dass die Mittelschicht die armen Nichtsnutze finanzieren muss, die Sozialschmarotzer und

Au je. Man wirft einen Blick auf das Portefeuille der beiden Künstler, und siehe da, sie arbeiten beide bei Avenir Suisse, dem Think Tank der Schweizer Wirtschaft. Einer Ideologiefabrik, also. Nun bin ich aber der Ansicht, dass man auch von einer Ideologie ein Minimum an Intelligenz erwarten kann, vielmehr: ein Minimum an Wahrheit. Sonst nenne ich das Propaganda oder vielmehr Demagogie. Was hiermit erfolgt ist. Ausgerechnet das selbst ernannte Denkzentrum der schweizerischen Wirtschaftsverbände betreibt Demagogie statt Forschung. Das ist nicht schön, und ich kann nicht mal sagen, dass ich nichts anderes erwartet hätte; vielmehr kann man von den Arbeitgebern hin und wieder mit ziemlich hartnäckigem Widerstand, aber eben doch auch einem Minimum an Intelligenz rechnen, denn ohne Restbestände an Intelligenz überlebt die Arbeitgeberschaft kein halbes Jahr auf den Weltmärkten.

Ziel der Attacke ist der Staat. Dieser nimmt dem an und für sich guten Mittelstand sein sauer verdientes Erwerbsbrot weg und gibt es den Untüchtigen und Faulen. Hier liegen zwei beabsichtigte Denkfehler vor. Erstens muss man endlich mal vergessen, dass es so etwas wie einen Lohn gibt, auf den man einen 100%-igen Anspruch hat und von dem einem der Staat oder die Sozialversicherungen einen bestimmten Prozentsatz weg rauben, egal, ob in der Schweiz, in Deutschland, in Schweden oder in Nairobi. Brutto und netto sind feste Bestandteile der Lohnkalkulation, sowohl für den Arbeitgeber als auch für den Arbeitnehmer als auch für den Staat und seine Instanzen. Und weshalb? Nicht, damit der Staat sein Beamtenheer durchfüttern kann, sondern damit der Staat seine Aufgaben erledigen kann, die er nun mal hat. Gegenwärtig ist eine seiner Hauptaufgaben, die Spekulationslöcher zu stopfen, welche während der Finanzkrise entstanden sind. Die hat nicht der Staat aufgerissen, sondern Banken, Finanzinstitute sowie mit ihren immer höheren Spareinlagen durchaus auch die Mittelklasse, einmal abgesehen von den völlig offensichtlichen Superreichen. Daneben gibt es so ne Dinge wie Infrastrukturen, namentlich Straßen oder Eisenbahnen, Ihr wisst schon, das sind die mit den super Tiefbahnhöfen in Stuttgart und so weiter; es gibt Strukturförderung für mehr oder weniger Not leidende Unternehmen, Wirtschafts¬zweige und ganze Landesteile. Und dann, tatsächlich, ist der Staat zuständig für die soziale Sicherung. Dass die Sozialversicherung nicht von den Ärmsten finanziert wird und die Reichsten alimentiert, geht aus dem Begriff hervor; aber das scheint für Avenir Suisse keineswegs selbstverständlich zu sein. Beziehungsweise könnte man meinen, die Verfasser würden sich daran stoßen, dass die Hauptlast der Sozialversicherung auf dem Rücken der mittleren Klasse ruhe, was logischerweise bedeuten würde, dass die Reichen, die ja laut eigener Erkenntnis immer reicher werden, mehr schütten müssten. Aber nein, es ist der Staat bzw. eben die Sozialschmarotzer, auf denen man herum hacken muss. Eben, weil der Staat angeblich keine andere Legitimation zum Erheben von Steuern hat als ein hundskommuner Dieb. Das ist schon ziemlich schmerzhaft.

Unsere Unternehmerverbände haben offensichtlich die Vision einer Zukunft ohne Staat. Dazu möchte man ihnen zunächst mal herzhaft gratulieren – da würden ihre Unternehmen ganz sicher ganz ausgezeichnet laufen. Und dann muss man gleich weiter schnaufen und sagen: Wenn die schon derart herzhaft doof sind, dann bietet sich doch hier eine historisch einmalige Chance, um über kurz oder lang die Macht im Staat zu übernehmen, wenn man sich bloß ein bisschen anstrengt und mal wieder klar erläutert, was der Staat und seine Institutionen für Funktionen haben in der modernen Gesellschaft. Welches ihr Verhältnis ist zum Individuum, zur Wirtschaft und zu vielen anderen schönen Sachen. Wobei «klar» wohl etwas viel verlangt ist angesichts derart hoch komplexer Strukturen wie den entwickelten Gesellschaften. Aber trotzdem. Mindestens könnte man sich darauf einigen, dass man nicht mehr vom Mittelstand heulen muss in einer Gesellschaft, in welcher allen Menschen sämtliche Produkte des Grundbedarfs mehr oder weniger frei zugänglich sind. Wenn der Unterschied nur noch darin besteht, ob man diese Waren im Aldi kauft oder im Rewe, dann ist das Grundproblem der Menschheit wohl zunächst einmal gelöst. Nun besagt eine einfache Regel der Quantenmechanik, dass, wenn ein Grundproblem gelöst ist, sofort ein anderes an seine Stelle nachrückt. Dieses neue Grundproblem wird aber nun nicht der Mittelstand sein, sondern es wird sein, wie man die Gesellschaft richtig einrichtet, dass die Menschen die Freiheiten auch nützen können, welche sie zur Verfügung haben. Vielleicht ist das Grundproblem auch die Machtfülle, welche sich den Leuten eröffnet, die über unbeschränkte und natürlich unbesteuerte Vermögen verfügen. Und damit meine ich jetzt nicht vor allem die Steuerflüchtlinge oder unsere Schweizer Banken, welche vom SPD-ler Sigmar Gabriel neuerdings als Bande von Steuer¬hinter¬ziehern bezeichnet werden; wenn man sagt, dass er Recht hat, wo er Recht hat, so muss man hier sagen, dass er nicht ganz Recht hat, denn die Steuern hinterziehen wohl die reichen Säcke, und die Schweizer Banken leisten dazu bloß die notwendigen Hilfsmittel. Es geht noch weiter: Die Schweizer Banken sind gar nicht alleine und durch ihre Nationalität derartige Gauner-Institute; vielmehr üben sie seit Jahr und Tag die Funktion der Kapitalhortung und –Verwaltung aus im Zusammenspiel mit allen anderen bedeutenden Instituten auf der Welt, welche ihre Kunden je nach Bedürfnis eben an ein Schweizer Institut weiterleiten, sie selber bedienen oder aber nach Singapur verweisen. Die Finanzwelt ist durchaus nicht so klar und kategorisch in Länder aufgeteilt, wie dies Kamerad Gabriel unterstellt im Hinblick auf den Wahlkampf im nächsten Jahr.

Aber das ist natürlich sein gutes Recht, wo nicht überhaupt seine Pflicht. Schließlich liegt die Verantwortung für die weitgehende Liberalisierung der Finanzmärkte in Deutschland bei der damaligen Regierung Schröder/Fischer, also bei Rot/Grün, und ich werde nicht müde zu wiederholen, dass der Schaden, welchen diese Liberalisierung für den deutschen Staatshaushalt angerichtet hat, wohl mindestens so hoch ist wie jener durch die Steuerausfälle wegen der Flucht in die Schweiz. Ich will abgesehen von allem anderen die beiden Fälle nicht gegeneinander aufrechnen, es ist beides nicht lustig; am wenigsten lustig dünkt mich aber, dass weder in Deutschland noch in der Schweiz noch anderswo der Staat noch irgend einen steuerlichen Zugriff hat auf die riesigen Vermögen und Einkommen der obersten Schicht. Diese braucht in der Regel eben keinen sicheren Hafen Schweiz mehr, um Steuern zu sparen, die lassen einfach das Steuersystem so einrichten, dass ihre Vermögen in der Karibik geparkt sind und ihre Einkommen als Kapitalerträge oder was auch immer absolut unbelästigt zu ihnen fließen, zu hundert Prozent. Wenn Avenir Suisse in ihrer Studie ein Wort darüber verloren hätte, dass der ursprüngliche Grundsatz des Steuersystems, dass nämlich die Reichen mehr bezahlen sollen als die Armen, was unterdessen überhaupt nicht mehr der Fall ist, dass also dieser Grundsatz eingehalten werden müsste, dann sähe es schon ganz anders aus mit diesem Papier, aber genau das wird tüchtig verschwiegen. Und so steht zu vermuten, dass der Zweck der Studie eben genau hier lag, nämlich in der Verschleierung der Tatsache, dass die unglaublich hohen Einkommen und Vermögen in unseren Gesellschaften praktisch völlig steuerbefreit sind unterdessen. Und da es sich dabei um sehr flüchtige Gelder handelt, welche praktisch über Nacht von einem Kontinent auf den anderen verschoben werden können, wagt sich auch kein Politiker und in erster Linie nicht Sigmar Gabriel daran, diesen Vögeln mal richtig einzuheizen, und zwar natürlich nicht auf der nationalen Ebene, sondern international. Früher hatte man für solche Projekte einmal eine sozialistische Internationale; aber die Internationalität ist der Sozialdemokratie unterdessen richtig gründlich abhanden gekommen.

Man soll das wohl nicht allzu ernst nehmen, weder das Gekeife der Avenir-Suisse-Lohnschreiber noch Sigmar Gabriels Eindreschen auf die Banken, nämlich auf die ausländischen Banken, aber interessant ist es doch allemal, wo sich der gesellschaftliche Diskurs gerade seinen Weg sucht durchs Geröll weitgehend unbekannter neuer gesellschaftlicher Formationen. Dertweil gibt es in anderen Weltregionen noch echte Katastrophen, zum Beispiel im Nahen Osten, wo sich in Syrien die Fronten offenbar verfestigt haben, was ich auch nicht als Fortschritt ansehe; dabei kann es mir letztlich egal sein, ob da nun die Salafisten, die Wahabiten, normale Oppositionelle oder Asad selber als Sieger hervor gehen, bloß wäre es schön, wenn der Krieg nicht noch ein paar Jahre anhalten täte. Dagegen bestätigen die neuen Kriegshandlungen im Gazastreifen eine frühere Diagnose: Immer, wenn sich die jeweilige Gaza-Regierung halbwegs auf Verhandlungen oder auf einen Waffenstillstand mit Israel einlässt, franst eine radikale Gruppe aus und beginnt auf eigene Faust einen Kleinkrieg, bis sie die Bevölkerung hinter sich hat, und dann muss sie die Regierungs¬verantwortung übernehmen, und dann gibt es Verhandlungen oder einen Waffenstillstand, und dann franst wieder eine neue Gruppe aus... Diese Geschichte hat ebenfalls kein absehbares Ende, und am Schluss kann man nur noch feststellen, dass man fast alles Mitleid aufgebraucht hat, dass man doch als solidarischer Erdenbürger haben müsste.

Vor ein paar Wochen habe ich eine junge Frau aus Israel getroffen, die jetzt hier studiert, eine völlig normale, engagierte, aufmerksame Person, die ich zudem persönlich sympathisch fand. Sie hat über die obligatorischen zwei Jahre Militärdienst noch ein Zusatzjahr geleistet, sei es in einer Spezialtruppe oder vielleicht in leitender Funktion, ich weiß es wirklich nicht, und ich hatte das Gefühl, es stehe mir nicht zu, sie danach zu fragen, solange sie sich nicht selber dazu äußern wollte. Und in erster Linie wäre es absurd gewesen, ihr eine objektive und neutrale Sicht des Palästina-Konflikts darlegen zu wollen. Aus diesem Grund sprachen wir halt über etwas anderes.