"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Arabischer Sommer -

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Wäre der moderne Mensch immer noch im gleichen Ausmaß mit sich selber beschäftigt wie die Höhlenbewohner oder die Romantiker, dann wäre ein prägendes Merkmal wohl das Kratzen am Sack und das Bohren in Nasen und Ohren, denn dies sind zweifellos die erhabensten Formen der primären Reflexion, und ich bitte die Frauen um Verzeihung, ich weiß nicht, wo sie sich kratzen beim Denken.
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11:25 min, 13 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 11.12.2012 / 08:59

Dateizugriffe: 1104

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 11.12.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Gibt es hierzu eigentlich Untersuchungen? Sie wären wohl überflüssig, denn der wirklich moderne Mensch denkt größer und über sich hinaus, er beschäftigt sich immer stärker mit makroökonomischen und weltpolitischen Belangen. Zum Beispiel fiebert der moderne Mensch mit den Umsatzzahlen der exportierenden Industrie mit, weil er weiß, dass daran bzw. am Blühen der Wirtschaftslandschaften die Arbeitsplätze, die Löhne und letztlich das Wohlergehen der Gesamtgesellschaft hangen. Wenn zum Beispiel die Solarindustrie Rückschläge erleidet, nimmt die Belegschaft des Automobilsektors Psychopharmaka und Betablocker. Dies gilt sehr spezifisch im Rahmen des jeweiligen Landes und begründet die Renaissance des Nationalstaates. Aber der moderne Mensch leidet auch supranational, allerdings nicht bezüglich der Exportindustrie, sondern eher politisch, zum Beispiel beim arabischen Frühling, wo der moderne Mensch nun einmal einfach weiß, nicht zuletzt dank der belehrenden Vorabinformation und Unterstützung von Autoritäten wie Peter Schrott-Latour, dass sich in Nordafrika unter dem Deckmantel der Demokratie letztlich nur die Islamisten breit machen mit alles anderen als demokratischen Absichten; die Islamisten wollen die Frauen wieder zurück an den Herd bugsieren, ihnen die Burka über die Gesichter stülpen und die Scharia wieder einführen. Die Antimodernität, kurz gesagt. Und richtig leisten die Regierungen in Tunis und vor allem der Muslimbruder und ägyptischer Präsident Mursi die allerbesten Illustrationshilfen für die düsteren Prophezeiungen jener Skeptiker, die schon immer gewusst haben, dass die christlich-abendländische Kultur den Höhepunkt der menschlichen Existenz darstellt. Der arabische Frühling dekliniert sich als Islam, Islamerer, Islamistisch. Da waren uns eigentlich die Diktatoren deutlich angenehmer, sagt sich hierzu das durchschnittliche moderne Individuum.

Sprechen wir von etwas anderem. Habt Ihr den Fachausdruck Fuel-Powered Artificial Muscle auch schon gehört? Treibstoffbetriebene künstliche Muskeln? Die Zeitschrift Science druckte am 17. März 2006 einen Artikel zu diesem Thema ab, den sie selber wie folgt zusammenfasste: «Künstliche Muskeln und Elektromotoren in autonomen Robotern und künstlichen Gliedmaßen werden in der Regel mit Batterien angetrieben, was ihre Leistungsdauer massiv beeinträchtig und zu langen Pausen führen kann während dem Aufladen der Batterien. Eine Möglichkeit zur Behebung dieser Probleme zeigen wir mit zwei Typen von künstlichen Muskeln, welche die chemische Energie von Treibstoffen mit hoher Energiedichte in mechanische Energie umwandeln. Der erste Typ speichert eine elektrische Ladung und erzeugt eine mechanische Aktivierung durch Veränderungen dieser gespeicherten Ladung. Im Gegensatz zu elektrochemischen Muskeln mit elektrischem Antrieb läuft nur die Hälfte des Aktivierungszyklus elektrochemisch ab. Der zweite Typ der treibstoffbetriebenen Muskeln erzeugt Aktivierungsimpulse und Kraftdichten, welche jenen von natürlichen Skelettmuskeln vergleichbar sind; dabei wurden über hundert Mal höhere Belastungen erzielt. – An einem anderen Ort lese ich, dass diese Muskeln dem Bereich Nanotechnologie zugeordnet werden, da sie Elektroden aus Nano-Karbonröhren verwenden, u chemische in mechanische Energie umzuwandeln nebst der Anwendung von Nanopartikel-Katalysatoren. Ort der Handlung war offenbar die Universität von Dallas sowie die Pusan National University in Korea.

Was heißt das? Doch nichts anderes, als dass in den Automobilmotoren der Zukunft nicht mehr Gestänge arbeiten, sondern eben künstliche Muskeln. So, wie man Haushalt-Roboter mit einigen menschlichen Attributen ausstattet, damit die normalen Menschen sie überhaupt aushalten in der näheren Umgebung, so werden die Maschinen demnächst mit Muskelkraft betrieben, künstliche Muskeln zu künstlicher Intelligenz, und die Schadstoffe werden dann in einer künstlichen Leber oder Niere ausgefiltert und in ein Depot abgesondert, in eine künstliche Toilette. Der Originalmensch kann sich dazu Fragen stellen, wenn er will. Zum Beispiel verliert der Spiegel völlig jene Funktion, die er eine gewisse Zeit lang hatte; uns tritt nicht mehr unser Spiegelbild entgegen und auch kein Klon, sondern der rundum künstliche Mensch. Das ist zunächst einfach ein weiteres Mal ein Wegweiser in die Zukunft: Forschung und Entwicklung erschließen nach wie vor Bereiche, über die wir uns üblicherweise bloß lustig machen. Regeneriertes Fleisch zum Essen, treibstoffbetriebene Muskeln für Prothesen, demnächst haben wir eben den völlig künstlichen Menschen aus richtigen Menschenteilen, im Labor erzeugt. Welche Güte hat aber seine künstliche Intelligenz? Der Schreck sitzt tief, wenn man sich überlegt, wie dem gegenüber die nicht künstliche Intelligenz auszusehen hätte: Unsere eigene Intelligenz, ist die nämlich wirklich intelligent und original, sind meine Gedanken wirklich die meinen?– So 100 Pro sicher ist das nicht, vielmehr steht zu vermuten, dass es dem modernen Menschen daran nach wie vor mangelt, es dürfte mit hoher Gewissheit feststehen, dass unsere Ideen zu schönen Teilen alles andere als original sind, sie sind Konstrukte aus in der Luft liegenden Ideenteilen. Wir sind sowieso von Anfang an eingezwängt in vorgeformte Denkprozesse und -Muster, die zum Teil bis in die Antike zurückreichen, sofern sie nicht überhaupt schon an den Höhlenwänden notiert wurden. Ich habe oft den Eindruck, im ausgehenden Mittelalter sei es für ein paar Jungs einfacher gewesen, da konnte man anhand eines globalen Textes wie der Bibel noch halbwegs eigenständige Überlegungen anstellen; heute steht schon der kleinste gedankliche Spaziergang auf einem Sockel vorgedachter Konzepte und führt durch einen Urwald an sogenannter Kommunikation, Falschaussagen, einseitige Interpretation, bewusst falsche Gewichtung, jeglicher Anspruch auf eine neutrale Diskussion über die Sache, über den Gegenstand an und für sich entfällt.

So auch beim arabischen Frühling. Da ist es nun offensichtlich, dass sich die Bevölkerungen einer gesamten Region in einem epochalen demokratischen Akt ihrer Kleintyrannen entledigt haben, und schon maldaunken unsere Orakel und Muezzins, als ginge es darum, Christian Wulff der Bestechung im Umfang von 250 D-Mark zu überführen, mit anderen Worten ohne die geringste Berücksichtigung des Umstandes, dass wir es hier mit historischen Prozessen zu tun haben, die ihre großen Linien halt selber ziehen und viele Elemente enthalten, die wir im feinen Europa nicht, nicht mehr oder noch nicht kennen und nicht einschätzen können, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass es sich um die bürgerliche Revolution in Nordafrika handelte. Soll ich euch mal ein paar Geschichten über die Rolle der katholischen Kirche vor der bürgerlichen Revolution in der Schweiz erzählen? Wisst ihr, dass es bei uns vor 170 Jahren einen kleineren Bürgerkrieg, den so genannten Sonderbundskrieg gab, weil die Reformierten die katholischen Klöster rechtswidrig verstaatlichten, worauf die katholischen Kantone versuchten, mit ausländischer Hilfe die protestantische Mehrheit in die Knie zu zwingen? Und wisst ihr, dass der General der eidgenössischen Truppen niemand anders war als der Urheber der ersten umfassenden Schweizer Landeskarten? Dieser Moslembruder Mursi da, der kann nicht mal Landkarten zeichnen, also bitte. Und dann weisen wir bei allem anderen doch auch noch darauf hin, dass mindestens in Ägypten das Militär offensichtlich doch von einer anderen Güte ist als in einigen Operettenstaaten. Es ist eine Mischung aus einer gut funktionierenden Kommandostruktur, die vermutlich von irgendwelchen Geldgebern geschmiert ist, und anderseits der Berücksichtigung der Tatsache, dass die Mannschaft selber praktisch durchgehend aus der einfachen Bevölkerung stammt; das verhindert grundsätzlich schon mal ein allzu blutrünstiges Vorgehen im Inneren. Ich glaube nicht, dass die neue Verfassung von Bruder Mursi den ersten Schritt in Richtung eines Gottesstaates wie z.B. im Iran darstellt oder gar zu einer steinzeitlichen Konzeption wie bei den Taliban in Afghanistan und in Pakistan; so wird es zwar von unseren Nahost- und Islam-Orakeln dauernd dargestellt, egal, ob ausdrücklich oder nur implizit, aber diese Staaten am südlichen Rand des Mittelmeeres sind im Wesentlichen schon längst europäische Staaten, man muss sie nur auch dazu werden lassen; dazu würde nicht zuletzt eine halbwegs vernünftige Migrationspolitik beitragen. Hier liegt im Moment wirklich einer der gröberen Hemmschuhe: Indem wir uns hier noch die allergrößte Mühe geben, die Mahgrebiner draußen vor der Tür zu halten, sind wir in der Praxis die letzten Hilfstruppen einer allfälligen islamistischen Volksbewegung. Die möglichst rasche Integration, zum Beispiel im Rahmen eines Freihandelsabkommens, würde hier wahre Wunder vollbringen und mit Sicherheit zur Zivilisierung des Islam beitragen, freundlicher gesagt: die relativ laizistischen Tendenzen im Islam stärken. Im Prinzip kann man den Maghreb gleich betrachten wie die Türkei, mit ein paar Jahren Rückstand vielleicht, aber eigentlich genau so ausgerichtet, genau so bestrebt, so rasch wie möglich einen allgemeinen Wohlstand nach europäischem Vorbild zu erreichen unter Beibehaltung eines Mindeststandards an sozialem Ausgleich, wie es eben der sozialdemokratische Standard praktisch überall vorgibt. Wenn man das einmal verstehen täte, dann wäre Europa einen seiner größten Alpträume los.

Allerdings muss die EU vielleicht tatsächlich zuerst die eigenen inneren Strukturen bereinigen und die Macht der zentralen Instanz ausbauen beziehungsweise die Kompetenzen der EU ausweiten, bevor die Expansion in den Süden in Angriff genommen wird. Dass der Ausbau der Zentralmacht Hand in Hand gehen müsste mit der Demokratisierung der Instanzen, ist ebenso selbstverständlich wie dass die Demokratisierung ja auch in den meisten Mitgliedstaaten noch nicht richtig weit gediehen ist. Und so sehen wir eine Unzahl an widersprüchlichen Bewegungen, unter denen mir die anhaltende Konjunktur des nationalstaatlichen Denkens, der nationalistischen Ideologien fast am meisten zu denken gibt. Daneben fehlen weite Teile einer gesellschaftlichen Analyse der modernen Gesellschaft, und das macht das Leben für das moderne Individuum auch nicht eben einfach. Was mache ich überhaupt, wohin soll das Ganze gehen, bin ich letztlich mehr als nur gerade meine Kaufkraft? – Hier gilt selbstverständlich das Gleiche wie seit eh und je, nämlich dass die Menschen nur dann eine historische Dimension entwickeln, wenn sie sich bewegen und versuchen, den Lauf der Geschichte in den Griff zu bekommen. Aber wie wollen sie das anstellen, wenn sie nicht einmal wissen, was das gerade läuft?

Wie auch immer: Lasst die Menschen im Maghreb doch einfach ihre Erfahrungen machen mit ihren Moslembrüdern – sie werden sich kaum längerfristig von denen noch übler auf die Kappe scheißen lassen, als sie es von ihren Diktatoren nicht mehr toleriert haben. Nur Mut.

Kommentare
11.12.2012 / 16:44 Jürgen, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
gesendet in Sonar v. 11.12.2012
danke