"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Nationalismus -

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In China versucht man der Automobilflut unter anderem durch die Beschränkung der Zulassungsschilder Herr zu werden. Offiziell erfolgt die Vergabe durch eine Lotterie, also nach dem Zufallsprinzip, aber in der Regel erweist sich Geld auch hier stärker als der Zufall, und so kostete in den letzten Monaten ein Zulassungsschild zum Beispiel in Schanghai 15'000 US-Dollar.
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10:49 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.04.2013 / 08:30

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 30.04.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Neuwagen aus einheimischer Produktion kostete mit 3700 Dollar gerade mal ein Viertel. Was ist die Folge? Im Moment können sich bloß die reicheren Schichten ein Zulassungsschild kaufen, und diese benutzen als Träger des Schildes keine billigen Inlandmarken, sondern die teuren ausländischen US-amerikanischen, europäischen und japanischen Marken. Mit anderen Worten: Die Versuche zur Eindämmung des Straßenverkehrs in den Großstädten fördern den Absatz ausländischer Automobilmarken. In Peking ging der Anteil der verkauften Fahrzeuge aus chinesischer Produktion nach Einführung der Plaketten-Lotterie im Jahr 2011 um 50% zurück auf etwas unter 10%. Im ganzen Land macht der entsprechende Prozentsatz doch immerhin ungefähr 25% aus.

In Russland fährt die Justiz nicht nur den Oppositionellen an den Karren, welche mit westlichen Parolen und westlichen Geldern Politik zu machen versuchen, sondern zum Teil auch den nationalistischen Kräften. Zunächst ist man versucht, diese Sorte von Bewegungen mit den begrifflichen Ellen des Faschismus zu messen, vor allem wegen der manifesten Fremden­feind­lichkeit. Aber das erfasst eine durchaus weniger bedeutende Facette der Problemlage. Russland ist derart groß, dass sich Fremdenfeindlichkeit eigentlich nur gegen Außerirdische richten kann. Im Wesentlichen geht es nach wie vor um die Frage, wie man in diesem Land die geeigneten staatlichen Strukturen und Institutionen einrichten kann, zusammen mit den geeigneten wirtschaftlichen Grundlagen. Erdöl und Erdgas spielen dabei eine Nebenrolle; sie sorgen für Deviseneinnahmen, welche wohl zu ansehnlichen Teilen in die Taschen der jeweiligen Machthaber fließen. Im Kern geht es um die Versorgung der Bevölkerung mit den notwendigen Gütern, um ihre Produktion und Verteilung, also lauter Sachen, mit denen wir uns schon längstens nicht mehr beschäftigen angesichts des globalen Geflechts unserer Wirtschaftsbeziehungen. Höchstens wenn mal in Bangladesch eine Fabrik einstürzt, in welcher unsere Billigkleider eben zu Billigst­konditionen hergestellt werden, verschwenden wir noch ein paar Gramm Hirnschmalz auf das, was uns abgesehen davon zur völligen Selbstverständlichkeit geworden ist. In Russland gibt es diese Selbstverständlichkeit nicht, beziehungsweise im Plural: diese Selbstverständlichkeiten, und zwecks Einrichtung solcher Mechanismen ist der Nationalstaat mit dem ihm zugehörigen Nationalismus ein durchaus taugliches Mittel, wie unsere eigene Geschichte lehrt. Selbstverständlich war die Sowjetunion auch eine Art von Nationalstaat, aber von diesen Strukturen haben sich wohl nicht viele gehalten, in erster Linie die Verwaltungsbürokratie, welche nun ein echtes Hindernis darstellt bei der Modernisierung bzw. bei der Einrichtung moderner Versorgungsabläufe. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass eine nationalistische russische Bewegung im gegenwärtigen Zeitpunkt durchaus sinnvoll und fortschrittlich sein könnte, wenn sie die entsprechenden Programmpunkte in ihren Grundsatztexten aufführt. Dies zu beurteilen ist mir nun aber leider wieder völlig unmöglich, nicht nur aus sprachlichen Gründen, sondern weil unterdessen in allen Weltgegenden die tatsächlichen Inhalte überlagert werden von einer dicken Schicht an Propaganda.

In den voll entwickelten Ländern dagegen wirkt der Nationalismus völlig grotesk, vor allem wenn man sich die Grundlagen vergegenwärtigt mit der umfassenden, gegenseitigen Abhängigkeit aller Akteure in den jeweiligen Wechselbeziehungen. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Nationalismus seit einigen Jahren mehr oder weniger offen wieder zur Modeströmung geworden ist. Mindestens in der Schweiz führt das zu absurden Kampagnen wie z.B. für Schweizer Zucker oder Schweizer Fleisch, und noch besser wird es dort, wo Swiss Made drauf steht eben auf Textilien, die zur Hauptsache in den bekannten Fabriken in Vietnam, Bangladesch und Pakistan gefertigt wurden. Angesichts solcher Verkrümmungen kommen wir nicht drum rum, den russischen Nationalismus in den höchsten Tönen zu loben. Da ist wenigstens noch etwas dran, im Gegensatz zum höchst virtuellen ideologischen Nationalismus in Westeuropa. Dabei ist er ja nicht virtuell, weil er nicht existiert, sondern er existiert, obwohl er keine direkte Grundlage mehr hat, er existiert, obwohl die Menschen hundertprozentig verinnerlicht haben, dass die Freundinnen und Freunde nicht am Pass gemessen werden können, obwohl keine Kriege mehr auf dem Menü stehen – dieses Zeitalter ist bei uns wohl definitiv abgeschlossen – und obwohl niemand mehr auf Urlaub in anderen Ländern verzichten will. Aber der deutsche, französische, schweizerische, britische und so weiter Nationalismus gedeiht trotzdem prächtig; bloß bei den Italienern ist es anders, die haben keine Zeit für so was.

Immerhin gibt es durchaus eine Ebene, auf welcher sich die Staaten voneinander unterscheiden, nämlich bei der Administration, bei den Institutionen und als finanzieller Ausdruck dieser Ebene bei den Steuern. Die Summe der verschiedenen relevanten Rahmenbedingungen, welche ein Staat anbieten kann, entscheidet oft darüber, ob im einen Land Arbeitsplätze geschaffen werden mit all dem Drumrum, wobei das Drumrum vermutlich ziemlich exakt das umschreibt, was wir Lebensstandard, wo nicht Lebensqualität nennen. Auf dieser Ebene findet der Kampf der Nationen weiterhin statt, und wenn die Wanderbewegung der internationalen Wertschöpfungsketten tatsächlich über das Wohlergehen von ganzen Landstrichen entscheiden, dann weiß man, worum es geht, wenn man in diesem Wettbewerb mithalten will.

Anderseits passt mir diese Terminologie nicht so recht in den Kram; sie unterstellt, dass die Menschen und eben ihre Organisationen, in erster Linie die nach wie vor nationalen Staaten, nichts weiter sind als Opfer, als passive Gegenstände, als Objekte von anonymen Kräften, welche ihre wohl- oder unwohltätige Erscheinung hier oder dort auf völlig rätselhafte Art und Weise aufleuchten lassen. Das dürfte nun erst Recht ein Trugbild sein, welches die Menschen daran hindert, auf vernünftige Art und Weise tätig zu werden und eben Rahmenbedingungen zu schaffen, welche ihnen entsprechen.

Und was heißt das nun genau, «auf vernünftige Art und Weise»? Ich darf diese Frage offen lassen, genau wie verschiedene andere auch. Der Hinweis darauf muss genügen, dass weder die Sache noch die Begriffe eindeutig sind. In diesem Zusammenhang kommt mir übrigens ein anderer Begriff in den Sinn, welcher einen anderen Sachverhalt abbildet bzw. vorgibt, dies zu tun, nämlich das Prekariat. Es ist eines der beliebten Argumentationsmuster im neoalternativen Diskurs, die zunehmende Prekarisierung von Arbeitsbedingungen, Sozialversicherungen usw. usf. anzuprangern, welche als Folge der Globalisierung, Deregulierung und natürlich der Staatsschuldenkrise ausgewiesen werden. Nun gibt es diese Erscheinungen zwar tatsächlich, insofern ist gegen den Begriff noch nichts einzuwenden, aber er taugt nichts zur Abdeckung jener strukturellen Probleme, welche aus der Staatsschuldenkrise entstehen; und vor allem stimmt das Jammern über die stetige Verschlechterung der Welt nur in gewissen Grenzen, nämlich dort, wo alte Beschäftigungs- und Produktionszweige langsam oder schnell vor die Hunde gehen. Abgesehen davon ist generell ein Trend zur Proletarisierung festzustellen, soweit akademische Berufe betroffen sind, aber das hat mit Prekarisierung noch nicht weiter viel zu tun; man kann sich darüber streiten, ob dies die Folge davon ist, dass immer mehr Menschen einen Hochschulabschluss in der Tasche haben oder was auch immer, auf jeden Fall heißt es zunächst nichts weiter, als dass moderne Arbeitsstellen in der Regel höhere Qualifikationen erfordern. Noch nicht einmal ein Hausmeister kann heutzutage einfach das Licht ein- oder ausschalten, er muss dazu vorher das Hausleitsystem aktivieren oder deaktivieren. Beim Prekariat dagegen handelt es sich um Menschen, welche aus alten Produktionsformen ausgeschieden sind, die es nicht mehr gibt, und die jetzt ihr Brot verdienen in Jobs, die alles andere als stabil oder sozial abgefedert sind; umgekehrt macht sich in fast allen aktuellen Branchen ein gewisser Arbeitstourismus breit, bei dem es weder erwünscht noch gängige Praxis ist, dass die Menschen 40 Jahre lang die gleiche Arbeit ausführen. So sieht das unterdessen nicht mehr aus. Wie auch immer: In den meisten Gesellschaften gibt es neben dieser Schicht der ausscheidenden und nicht mehr neu qualifizierten Arbeitnehmenden nach wie vor eine tragende Schicht mit anständig bezahlten Beschäftigungen, ganz egal, ob sie nun produktiv sind oder bloßer Firlefanz. Über die produktive Seite der Beschäftigung äußert sich nämlich auch der Begriff des Prekariats nicht und wird genau in dieser Beziehung furchtbar schwammig und unpräzise.

Naja. In Italien haben wir jetzt eine große Koalition, was mich insofern erstaunt, als Silvio Berlusconi nicht selber einen Ministerposten inne hat – noch nicht, muss man sagen. Sein Statthalter Angelino Alfano macht den Vizepremierminister, aber sobald der nächste Prozesstermin für den guten alten Silvio anberaumt wird, zieht sich der mit Garantie zurück, um seinem Gönner einen Job mit voller Strafimmunität zu verschaffen. Aber das braucht uns nicht zu kümmern; viel interessanter schien mir, dass während den gescheiterten Wahlgängen für die Nachfolge von Giorgio Napolitano immer wieder ein kleiner Anteil an Stimmen für Massimo D’Alema auftauchte. Es waren immer jene Stimmen, welche dem offiziellen Kandidaten des Partito Democratico fehlten, und so sehen wir auch nach Jahren und Jahrzehnten des Ränkespiels bei den Nachfolgern der Kommunistischen Partei Italiens, wie sich die Eitelkeit über sämtliche Räson, von Staatsräson schon gar nicht zu sprechen, hinweg setzt. Je länger das Spektakel dauert, desto eher bin ich geneigt zu sagen, dass mich der Berlusconi unterdessen schon gar nicht mehr aufregt, umso weniger, als ich mich längst an seine Fratze gewöhnt habe, wogegen eben das unwürdige Gerangel um möglichst viele Posten im Parlament und in der Regierung, für das Massimo D’Alema steht wie kein anderer in ganz Rom – und das will bei Gott etwas heißen –, dieses Gerangel also bei den angeblichen Sozialdemokraten, dies ist wirklich komplett unappetitlich.

Nationalismus in Italien wäre vielleicht heutzutage auch eine fortschrittliche Haltung, ich kann das wirklich nicht ausschließen; aber angesichts der komplett verfahrenen Situation muss man stark bezweifeln, dass in Italien die sozusagen echten Patrioten überhaupt noch existieren, einmal ganz abgesehen davon, dass sie sich konstituieren und zur politischen und integren Kraft werden könnten. Die warten wohl lieber darauf, dass wieder einmal zum Marsch auf Rom bläst, und dem werden sie dann allenfalls freudig hinterher rennen.

Aber vielleicht auch nicht.