"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Schuldenschnitt -

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Das auf der ganzen Welt erzeugte Brutto-Inlandprodukt hat einen Wert von ungefähr 70 Billionen Euro. Die öffentliche Verschuldung steht bei etwa 45 Billionen Euro. Das macht ein Verhältnis von Schulden zu BIP von etwa 65%.
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10:48 min, 20 MB, mp3
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Upload vom 15.10.2013 / 12:58

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.10.2013
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Im Vergleich dazu stehen einzelne Länder erstaunlich gut da, zum Beispiel Argentinien mit 38% und der Frage, welcher Minister hier gerade die Statistik gefälscht hat – es sei denn, die Argentinier könnten ganz einfach keine Schuldpapiere mehr ausgeben, weil sie ihren Ruf schon längstens verspielt haben. Wohl kaum auf Tricks beruhen die 24.5% von Australien oder die 23.3% von China oder gar die 11.3% von Saudiarabien. Russland mit 15% hat im Moment wohl einfach noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, sich von seinen Rohstoffen zu ernähren, ähnlich wie Saudiarabien. In den USA, wo gegenwärtig die Alarmglocken klingeln wegen des Gezerres um die Schulden-Obergrenze bzw. ihre Anhebung beziehungsweise der möglichen teilweisen Zahlungsunfähigkeit, beträgt das Verhältnis 78%, was eigentlich noch übersehbar erscheint. Mexiko und Südkorea stehen bei etwas über 30%, Indien weist 45% aus, aber in Europa, oho, in Europa, da liegt Deutschland mit knapp 78% ungefähr gleichauf mit den USA, aber weit vor Frankreich und England mit je rund 94%, Spanien mit 121%, Irland 133%, Italien 145%, Portugal mit 154% und natürlich Griechenland mit 186.4%. Mit großem Abstand an der Spitze läuft global gesehen aber Japan vorneweg mit vollen 230%; die japanischen Staatsschulden machen also rund das Zweieinhalbfache des japanischen Bruttoinland­produktes aus.

Etwas anders sieht es aus, wenn man die Außenverschuldung mit dem Bruttoinlandprodukt vergleicht. Bei dieser Zahl werden allerdings auch die Schulden der Privaten mit einbezogen, aber immerhin: Japan liegt hier auf der Rangliste der US Debt Clock auf Rang 7 mit 59% vor Südkorea mit 29%, den Rohstoffproduzenten Saudiarabien, Russland und Brasilien mit 18.6, 17.5 und 16.7%, Indien mit 15% und dem Spitzenreiter China mit einer Außenverschuldung von nur gerade 7%. Auf der anderen Seite an der Spitze schwingt mit riesigem Abstand Irland oben aus und weist eine Außenverschuldung von 1104% aus, also das 11-Fache des Bruttoinlandprodukts. Auf den nächsten Plätzen folgen England mit 473%, Portugal mit 290% noch vor Griechenland mit 264%, dann kommt Frankreich mit 260% und dann die Bundesrepublik Deutschland mit 207%. Italien hält sich in dieser Beziehung ganz anständig mit 107%.

Die Schätzungen zu den globalen Privatvermögen hängen offensichtlich von der Erhebungsart ab, aber wohl auch noch von anderen Faktoren. Laut Angaben der Boston Consulting Group waren es im Jahr 2011 rund 100 Billionen Euro, der Spiegel und Focus wiesen für das Jahr 2010 eine ähnliche Summe aus; der Global Wealth Report der Credit Suisse bezifferte das Vermögen sämtlicher erwachsener Personen weltweit, also nicht nur des Anlagevermögens, sondern auch mit Immobilien usw., auf etwa 210 Billionen Euro.

Das sind so einige Eckwerte für eine Diskussion über die Schuldenfrage. Ihr mögt Euch vermutlich nicht mehr dran erinnern, aber ich hatte so ziemlich mitten in der großen Finanzkrise darauf hingewiesen, dass sich Deutschland noch drei weitere solche Katastrophen leisten könne, bevor es endgültig pleite sei, und wenn ich jetzt die 210 Billionen globales Privatvermögen den 45 Billionen öffentlichen Schulden gegenüber stelle, dann komme ich sogar auf gut 4 Finanzkrisen, welche sich die Welt gegenwärtig leisten kann. Selbstverständlich ist hierbei unterstellt, dass der Staat Zugriff nimmt auf die privaten Besitztümer, aber das ist im Krisenfall nun mal so vorgesehen, und zudem werden Finanzkrisen bekanntlich gerade von den Privatanlegern selber ausgelöst, mindestens indirekt, indem sie nämlich den Banken oder anderen Anlagegenies ihre Vermögen zur Verwaltung überlassen. Der Staat muss dann die Banken bzw. die investierten Vermögen garantieren, aber zu diesem Behuf muss er eben darauf Regress nehmen.

So einfach ist das, und insofern bin ich nicht wirklich überzeugt von den Vorschlägen jener Ökonomen, welche für die Länder Europas einen Schuldenschnitt verlangen. Erstens ist wie gesagt die finanzielle Stabilität durchaus nicht in dem Ausmaß gefährdet, wie man es in den Diskussionen häufig hört. Zweitens bleibe ich auch hier bei meiner anfänglichen These, dass sich Maßnahmen zur Linderung der Finanzprobleme in den besonders angeschlagenen Staaten nur dann rechtfertigen lassen, wenn eine gewisse Garantie dafür besteht, dass die Missstände nicht sofort wieder das vorherige Ausmaß annehmen. Davon dürfte gerade Griechenland noch ziemlich weit entfernt sein. In Italien sind ebenfalls keinerlei Schritte zur Modernisierung eines im Kern noch antiken Staatssystems zu erkennen, sodass ein Schuldenschnitt allenfalls für Spanien und Portugal in Frage käme.

Ich habe meine Zweifel an den Befürchtungen der besagten Ökonomen, welche an die Schulden­krise vor 90 Jahren erinnern mit den verheerenden Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Das war wirklich noch was anderes. In den 1920-er und 1930-er Jahren waren die Volkswirtschaften noch real national, jedes Land hatte seine eigenen Produktionslinien, von der Schraube bis zum fertigen Automobil oder zur Nähmaschine. Heute ist die globale Verflechtung derart radikal, dass diese Sorte der Weltwirtschaftskrise einfach nicht mehr reproduzierbar ist. Das heißt nicht, dass eine Krise grundsätzlich auszuschließen ist, aber wenn es zu einer kommt, dann verläuft dies nach ganz anderen Mustern und Drehbüchern. Krisenquellen liegen bei uns in erster Linie in der zunehmenden Disparität zwischen sozialer Organisation, die nach wie vor oder immer stärker die meisten Menschen vor dem Popanz der Lohnarbeit tanzen lässt, und anderseits der wirtschaftlichen Organisation, welche je länger desto mehr ohne Massenbeschäftigung auskommt. Respektive: Damit die Massen, welche nichts anderes als den Popanz Lohnarbeit kennen, auch tatsächlich beschäftigt werden, anstatt sich mit vernünftigen und schönen Dingen zu beschäftigen, wird halt dieses Lohnarbeitsspiel weiter gespielt, und alle gut meinenden Menschen lamentieren über die Sockelarbeitslosigkeit. Da wird viel heiße Luft produziert, aber nicht besonders viel analytische oder Denk-Energie investiert. Diese wäre doch eigentlich ein Rohstoff, der auf der ganzen Welt frei zugänglich ist, und erst noch im Prinzip der wichtigste Rohstoff von allen, oder nicht?

Zum anderen müssen wir in den nächsten Jahrzehnten irgendwie durch die gewaltigen Unterschiede zwischen Norden und Süden hindurch kommen. Auch hier geht es in erster Linie um ein soziales Phänomen, nämlich dass in ganzen Landstrichen noch eine Organisationsform herrscht, die vom Stammesverhalten herrührt. Gleichzeitig stehen diese, mit Verlaub: stein- oder eisenzeitlichen gesellschaftlichen Formen unter dem Flächenbombardement der Eindrücke aus den reichen Ländern, welche mit dem Fernsehen vermittelt werden, aber natürlich unterdessen auch mit den Mobiltelefonen, und anderseits in einer Art von Entwicklungs-Tohuwabohu, in welchem Gutmenschen und Schurken auf allen Stufen ihr Süppchen kochen, ohne dass ich dabei irgendwelche Strukturen zu erkennen vermag. Diese Länder brauchen so bald als möglich moderne funktionierende Gesellschafts- und Staatsstrukturen; dem vorgeschaltet sind aber aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin heftige und durchaus blutige Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen aller Herren Länder und auch aus allen denkbaren Zeitepochen der Menschheits­geschichte. Wir brauchen wirklich keine Zeitmaschine, unsere Erde ist selber eine vollwertige solche.

Die Schuldenproblematik ist dem gegenüber völlig nebensächlich. Natürlich wäre es schön, wenn ein schuldenfreies, sozusagen unbeflecktes Staatswesen einen gewaltigen Handlungsspielraum hätte, zum Beispiel um eine ausreichende soziale Grundsicherung zu garantieren. Umgekehrt müssen solche Summen per Saldo eben doch aus der laufenden Rechnung finanziert werden und nicht durch die Erhöhung der Schulden und ihrer Obergrenze, alle Jahre wieder. Aus der laufenden Rechnung finanzieren heißt aber nichts anderes, als einen politischen Konsens darüber herzustellen, wie viele Anteile am Gesamtwohlstand zuerst an den Staat und von dort aus dann in die Umverteilung gehen. Über genau solche Dinge entscheidet Ihr ja auch, wenn Ihr Euren Bundestag wählt.

Nicht aber über Finanz- und Wirtschaftskrisen, das ist dann auch wieder klar. In der Beziehung sind die Wahlen dann eher wieder der Gradmesser dafür, wie die Bevölkerung die Lage einschätzt. Die donnernde Bestätigung der CDU/CSU ist in der Beziehung sehr aussagekräftig. Lang lebe die Sozialdemokratie! – Für meinen Geschmack könnte man sich nun aber bei Gelegenheit mal eine Diskussion darüber leisten, wie das Zeitalter nach dem sozialdemokratischen aussehen könnte. Es geht also nicht um die postindustrielle Gesellschaft – in der leben wir nämlich seit längerer Zeit, auch wenn wir es nicht merken –, sondern um eine Organisationsform, die sich nicht an der Fabrikarbeit orientiert. Allerdings muss man nur schon für den Einstieg in diese Diskussion verschiedene Dinge zu den Akten legen, namentlich sämtliche Formen von Nationalismus und Fremdenfresserei.

Einfach ist das nicht, und zwar deshalb, weil die Xenophobie nicht zuletzt damit zu tun hat, dass der Migrationsdruck das gesamte sozialdemokratische System gefährdet. Da macht man mehr oder weniger reflexartig die Grenzen zu und orientiert sich nach rückwärts, umso mehr, als die angeblichen VordenkerInnen im Land schlicht und einfach vergessen haben, den gesellschaft­lichen Diskurs um die Zukunftsdimension zu erweitern. Vielleicht ist dies die gefährlichste Auswirkung der völlig unumstrittenen Regentschaft Merkel. Wenn auch die Opposition die Segel streichen muss, wie will da eine gedankliche Auseinandersetzung stattfinden, wie will sich der deutsche Geist dazu aufrappeln, auch nur gedanklich in eine Welt ohne Angela vorzustoßen? Vielleicht schreiben wir mal ein Buch unter diesem Titel.