"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Carven -

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Hurra! Das Menetekel einer Koalition der reinsten Langeweile ist gebannt, ihr habt's gehört und gelesen, der erste Ministerkopf ist gerollt, und zwar jener des CSU-Agrarministers Friedrich, und zwar wegen einer Affäre, die für mich zu hoch ist, aber Hauptsache, Stimmung. Karneval, Europawahl, alles paletti. Weiter so.
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10:48 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.02.2014 / 14:02

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.02.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Auch Italien hat sich wieder in Bewegung gesetzt, nachdem sich mit dem Abgang von Berlusconi eine ähnliche Fadheit im Land verbreitet hat wie bei euch mit der großen Koalition. Der Berlusconi selber krächzt aus dem politischen Grab heraus weiterhin herum, aber für das wirkliche Spektakel sorgt der Frischling auf dem politischen Parkett, Matteo Renzi aus Florenzi, der neue Chef des Partito Democratico, von dem ich partout nicht weiß, was ich von ihm halten soll. Programmatisch ist er mir komplett unbekannt, aber das will nichts heißen, denn die Zeiten, in welchen ein Programm Hinweise auf die konkrete Politik gab, sind schon lange vorüber. Dagegen stimmen mich zwei Dinge skeptisch. Einerseits hat er eine Wahlrechtsreform vor, die ich ebenfalls nicht im Detail kenne, zu welcher sich aber mein italienisches Referenz-Magazin «Espresso» ziemlich skeptisch äußert und die er in erster Linie mit niemand anderem als mit dem Zombie Berlusconi selber aufgesetzt hat. Zum zweiten stürzt er zwar den Ministerpräsidenten aus der eigenen Partei, macht aber unverdrossen mit dem Ex-Berlusconianer Angelino Alfano weiter. Drittens bekennt er sich ganz unverfroren dazu, übertriebene politische Ambitionen zu haben, und dies verweist auf die bisher plausibelste Erklärung: Renzi macht auf Berlusconi, ohne über dessen Milliarden zu verfügen. Anderseits ist Renzi nicht in die Politik gegangen, um seine eigenen illegalen Geschäfte zu retten. Was also bei Berlusconi die aus der Not geborene Untugend war, könnte bei Renzi einfach nur Ernst sein. Zu seinen Gunsten meinen einige Beobachter, dass er mit den bestehenden Seilschaften radikal aufräumen wird, und dies wäre allerdings eine wesentliche Voraussetzung, um politische Veränderungen vorzubereiten. Mal sehen, was daraus wird.

Während sich Präsident Hollande in Frankreich mit seiner Politik in voller Rechtsumkehrt-Bewegung befindet und demnächst die Unternehmenssteuern völlig abschafft, beobachten wir in England das Heranwachsen eines bisher unbekannten Begriffs im Sprachkörper, nämlich: der Klimawandel. Tatsächlich, die Briten entdecken mitten im Regen die Umweltproblematik! Logisch ist das nun nicht, denn die größten Überschwemmungen seit 250 Jahren beweisen ja gerade, dass es um 1774 herum zwar eine sehr unenglische Tea Party in den englischen Kolonien, aber durchaus keinen Klimawandel gab. Die Engländer wieder! – Wir dagegen nehmen in diesem Zusammenhang etwas verblüfft zur Kenntnis, dass die Automarke Subaru ihr neues Modell in der Schweiz Eisbär nennt. Das ist schon etwas mehr als putzig, nachdem all die Auspuffgase dem Eisbären nach­weis­lich den Boden unter den Füßen weg schmelzen. Bei den Niederschlägen in England behaupten gewisse Klimaforscherinnen, dass sie damit zu tun hätten, dass die Luftströmungen anders verlaufen, seit die Polareiskappe schrumpft. Wenn sich das weiter so entwickelt, dann kann die Kreativabteilung von Subaru ihr nächstes Modell geradeaus England nennen. Den Nationalistinnen von der Insel aber empfehlen wir, Schwimmkurse zu nehmen, denn gegen diese Klimaveränderung nützen Sandsäcke längerfristig nichts. Sie müssen dann nur noch aufpassen, dass sie links raus schwimmen, weil rechts lang geht’s zum Kontinent. Und so versinkt diese Insel, noch bevor sich Schottland definitiv von England abspalten konnte.

Jaja, der Klimawandel. Bewiesen ist bekanntlich rein gar nichts; die Überschwemmungen in England und die Stürme in den Vereinigten Staaten sind keine empirischen Beweise, weil solche Daten über mindestens 2000 Jahre hinweg gesammelt werden müssen, bevor sie unumstößliche Schlüsse zulassen. Deshalb können wir unsere Automobile weiterhin spöttisch Eisbär nennen, oder wir lassen diese moderne Hülle für das Individuum völlig los von der Leine, die brauchen ja keine Straßen mehr, es sind eben keine Land Cruiser mehr, sondern Offroader, und wie es mein Lieb­lings­hersteller so schön auf den Punkt bringt: Andere nennen es Carven, wir nennen es Quattro. Und während der Audi auf Kunstschnee ins Tal brettert, trinkt sich die Umwelt in der Skihütte einen Rausch an.
Es ist wirklich faszinierend, wie die Umweltfragen aus der politischen Diskussion verschwunden sind; es liegt so etwas wie ein Tabu darüber, was vielleicht damit zu tun hat, dass die Politik heute die Energiewende vor allem als Atomausstieg begreift, zu welchem Zweck man halt auch auf die guten alten Kohlekraftwerke zurückgreift, bis die erneuerbaren Energien im vollen Umfang zur Verfügung stehen. Und das heißt halt wieder Treibhausgase, im Gleichschritt mit den Verbrennungs­motoren.

Nun gut, wir alle wissen, dass es beim Automobil nicht allein um Umweltfragen geht. Rund die Hälfte der AutomobilistInnen empfindet das Fahrzeug unterdessen als eine faktische Erweiterung des eigenen Ichs, es ist so etwas wie eine zusätzliche, sehr intime Zweit- oder eben fast Erst­woh­nung geworden oder eben schlicht und einfach zum bewohnten Werkzeug. Zudem ist das Auto ein Synonym für schrankenlose Mobilität, anders gesagt: für die individuelle Freiheit. Auf der anderen Seite übernehmen die Fahrzeuge immer mehr Aufgaben der Inhaberinnen oder Fahrerinnen selber, vom Distanzhalter bis zur Einparkhilfe, sodass man am Schluss gnadenlos unselbständig in diesem Innenraum sitzt und vielleicht noch ein Display anstarrt. Auch diese Entwicklung muss das Subjekt verinnerlichen. Unter diesen Voraussetzungen, also unter der Bedingung, dass das Fahrzeug voll integrierbar ist in ein Verkehrsleitsystem, wird es möglicherweise bald einmal gelingen, die Gefährte auch fliegen zu lassen. Da stehen wir vor der Vision einer Stadt, wie sie es im Film Das fünfte Element ausgezeichnet schön skizziert wird. Dafür ist neben der Herstellung der Flugtüchtigkeit allerdings nochmals ein Energieschub notwendig, an dem allerdings seit längerer Zeit an verschiedenen Orten geforscht wird, und ich spreche jetzt nicht von Braunkohle.

Wie auch immer: Im Moment sind es eben doch noch vor allem die fossilen Treibstoffe, die nicht nur zur Neige gehen, sondern hauptverantwortlich sind für die Klimaerwärmung, und ich entschuldige mich in aller Form, dass ich diesen alten Heuler hinter dem Ofen hervor gezerrt habe, während man sich im Moment doch allgemein einig ist, dass diese Gespräche nur für Fachleute reserviert sind. Daneben ist der Klimawandel allzu offensichtlich ein politisches Kampagnenthema für die Grünen, und deshalb gibt es ihn nicht, Punkt. Und sowieso: Der nächste Sommer wird den Klimawandel ohnehin widerlegen.

Carven auf der Straße! Die Werbeabteilung der Audi AG fällt immer wieder mit erstklassig originellen Leistungen auf. Dabei stehen die Automobilhersteller durchaus noch vor anderen Gefahren, nämlich eben dem Verlust an gesellschaftlicher Relevanz, aber weniger aus umwelt­tech­nischen Gründen als vielmehr wegen des Rückgangs ihrer Bedeutung als Beschaffer von Arbeits­plät­zen. Das spüren nicht zuletzt die Gewerkschaften. Die United Auto Workers Union in den Vereinigten Staaten hat letzte Woche eine verheerende Niederlage erlitten, als sich die Belegschaft in einem VW-Werk in den Südstaaten in einer Urabstimmung gegen eine gewerk­schaft­liche Orga­nisie­rung ausgesprochen hat. Dabei wäre die Werksleitung einer gewerk­schaft­lichen Präsenz gemäß dem deutschen Muster gar nicht abgeneigt gewesen; aber die dominierenden republika­ni­schen Politiker sehen bei solchen Dingen rot und versprachen den Arbeiterinnen und Arbeitern, dass sie garantiert ihre Stellen verlieren würden, wenn sie sich für die Einrichtung von Betriebsräten aussprechen würden. Haben die halt drauf verzichtet. Und so rutscht die UAW ab, von der einst mächtigsten Arbeitnehmer-Organisation in die Bedeutungslosigkeit.

Man erinnert sich bei dieser Gelegenheit daran, dass die Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten nicht immer eine besonders emanzipatorische Rolle spielten. Oft, wo nicht in der Regel ging es eher darum, den Gewerkschaftsfunktionären einträgliche Jobs zu verschaffen, als um die klassische Interessenvertretung, die neben den Lohnkämpfen in der Regel auch die Pflege eines kollektiven Arbeiterbewusstseins umfasste. In den USA war das nur ganz selten der Fall. Wir haben die Blütezeit der legendären Teamsters in Erinnerung, die Gewerkschaft der Transportarbeiter, welche direkt von der Mafia gesteuert war, während bei den anderen Gewerkschaften vielleicht die Strukturen mafios waren, aber die Mafia selber hatte nichts zu sagen. Immerhin.
Ich habe noch einen Nachtrag zur Masseneinwanderungs-Initiative vom letzten Wochenende. Natürlich läuft jetzt in der Schweiz die Diskussion heiß über den so genannten Röstigraben, also den Unterschied zwischen der Deutschschweiz und der französisch sprechenden Schweiz, welche die Initiative einhellig und massiv abgelehnt hat; zwischen den Städten, welche sie ebenfalls abgelehnt haben, und den Landregionen, wo nur wenige Ausländer wohnen und wo die Initiative angenommen wurde. Aber darüber braucht man gar nicht zu diskutieren, diese Unterschiede gibt es seit der Erschaffung des Schweizer Nationalstaates. Was geflissentlich übersehen wird, ist die Tatsache, dass diese Initiative für einmal an einem exotischen Ort entschieden wurde, nämlich im Kanton Tessin. Dieser zählt in der Regel zu den lateinischen Kantonen und stimmt auch ent­sprechend ab. Die Masseneinwanderungs-Initiative aber hat der Kanton Tessin im Gegensatz zu den Westschweizer Kantonen mit 82'652 Ja-Stimmen gegen 38'589 Stimmen angenommen. Das sind 34'000 Stimmen Differenz. Zur Erinnerung: Der Unterschied auf nationaler Ebene betrug nicht einmal 20'000 Stimmen. So ist das nämlich. Die Gründe dafür sind praktisch ausschließlich wirtschaftlicher Art: Kein anderer Kanton ist einem derartigen Gefälle bei den Löhnen und Arbeitsbedingungen ausgesetzt wie der Tessin als Grenzkanton zu Italien. Und so hat unser italienischsprachiger Teil für einmal über eine Volksinitiative entschieden. Das ist eine absolute und echte Ausnahme in der Geschichte unserer direkten Demokratie, in welcher die lateinischen Kantone und vor allem der Kanton Tessin eine lange Leidenstradition der unterliegenden Minderheit haben. Hier haben unsere Italiener für den Durchbruch gesorgt.