-Aus neutraler Sicht- von Albert Jörimann - Philosophie Hohe Luft

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Manchmal hat man so etwas wie geistigen Hunger, man fragt sich, wann habe ich zum letzten Mal etwas Neues erkannt, etwas gelernt, etwas entdeckt, und oft stellt man fest, dass es damit nicht weit her ist, in der Regel befriedigt man diesen Hunger mit Schnellfutter, ich zum Beispiel bevorzuge knifflige Sudokus, die ich gerade noch knapp zu lösen vermag, warum, weil ich mir da mehrere Zahlensequenzen merken muss beim Durchspielen möglicher Varianten, und hier stoße ich immer wieder an Grenzen, und manchmal merke ich es nur schon, wenn ich etwas müder bin als üblich.
Audio
11:44 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 09.06.2014 / 12:40

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 09.06.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Aber eigentlich möchte ich gar keine Sudokus lösen, sondern die großen Fragen der Welt, und damit unterstelle ich bereits, dass ich nach wie vor davon ausgehe, dass es sie gibt, diese großen Fragen, und dass sie theoretisch lösbar wären, vielleicht nicht unbedingt von mir oder von mir allein, aber immerhin. Was treibt die Welt an, und vor allem: Was treibt die moderne Welt an? – Denn dass die aktuelle Gesellschaft gründlich anderen Spielregeln unterliegt als noch jene vor dreißig Jahren, geschweige denn jene vor hundert oder hundertfünfzig oder zweihundert Jahren, das liegt klar, sozusagen empirisch erfahrbar auf der Hand.

Aber mir steht der Sinn durchaus nicht einfach nach einer empirischen Untersuchung, von der ich mir die Klärung und Erklärung des gegenwärtigen Seins erhoffe. Allzu gut mag ich mich noch des ehrfürchtigen Erstaunens erinnern, als ich begriffen habe, was der Unterschied ist zwischen einer empirischen Gegebenheit und einer, die a priori da ist. Wie so oft, war es die Geometrie, die mir zu dieser Einsicht verholfen hat. Ein rechter Winkel, habe ich gelernt, lässt sich nicht empirisch erklären. Ein rechter Winkel ist mit dem gesamten ihn umgebenden geometrischen Regelwerk eine Systematik, die außerhalb des in der Natur Erfahrbaren liegt. Auch, wenn sich die Geometrie in der Natur letztlich bewahrheitet, oder gerade wenn sie sich in der Natur bewahrheitet: Sie lässt sich für den Menschen nicht aus der Natur ableiten. Und aus dieser Erinnerung heraus suche ich auch heute noch immer wieder nach irgendeiner Regel a priori, welche möglicherweise einen Teil oder auch das Ganze unserer Gesellschaftsgeometrie zu erklären vermag.

Dabei bin ich natürlich nicht der Einzige mit der Vermutung, dass es so eine Regel geben könnte. Viele Menschen verwechseln die Prinzipien a priori mit irgendeiner Form von Weltgeist oder Gott oder Mantra, Manta und Tantrum oder Trari Trala und werfen sich deshalb gerne Menschen oder Bewegungen in die Arme, welche alle möglichen Erklärungen außerhalb des real Erfahrbaren und außerhalb der Empirie anbieten. Und dann gibt es natürlich Philosophen und Soziologen, welche die Existenz von Prinzipien a priori missbrauchen zur Konstruktion eines geheimen oder mindestens halb geheimen, mindestens verschleierten Weltbildes, über welches in erster Linie gemurmelt und gemunkelt oder kurz gesagt geschwurbelt wird, bis den Zuhörerinnen und Leserinnen die Ohren sausen und die Murmelmunkler mindestens einen Philosophie-Lehrstuhl an einer Pariser Universität inne haben. Das lässt einen dann wieder daran zweifeln, ob die reine Existenz von Konstrukten a priori wirklich einen Zusammenhang hat mit der Konstruktion der realen Welt.

Neben den verschiedenen Weltraum-Teleskopen sucht die Menschheit im ebenfalls endlichen Geistesraum auch immer wieder nach neuen Erzeugnissen des menschlichen Geistes, und auch wenn ich nicht Zugriff habe auf all die verschiedenen Daten aus allen Labors, so habe ich doch seit einiger Zeit den Eindruck, dass die wesentlichen Erkenntnisse der neueren Zeit nicht mehr aus den philosophischen Fakultäten, sondern aus der Physik stammen. Aber auch seit dieser Feststellung sind nun einige Jahre verflossen, so dass es mir an der Zeit scheint, wieder mal eine kritische Revision des Weltbildes vorzunehmen, und zu diesem Behuf wandere ich hin und wieder im Internet herum. Aber angesichts von Vorschlägen wie Poststrukturalismus, Dekonstruktion, Pragmatismus oder den tausend möglichen Ethik-Variationen fehlt mir die Grundenergie, mich an einen Einstieg zu machen. Stattdessen blättere ich hin und wieder in einem alten Bändchen von Georg Simmel, der sich mit dem Geld befasst, und letzthin habe ich sogar eine Zeitschrift erworben, die «Hohe Luft» heißt und sich ausdrücklich als Philosophie-Heft ausgibt. Sie tritt verdächtig-unverdächtig auf, nämlich in einem ordentlichen Zeitschriften-Layout und durchaus nicht als jene Buchstaben-Unendlichkeiten, die ich gemeinhin mit einem philosophischen Text assoziiere. Die mir vorliegende Ausgabe befasst sich schwergewichtig mit der Wut und verweist im entsprechenden Artikel auf die Spannung zwischen Gefühl und Vernunft, wenn ich da mal kurz zitieren darf: «Gefühle haben also nicht nur eine rationale Komponente – das hatte schon Aristoteles zugestanden –, sondern bestimmte höherrangige Gefühle wie Scham, Groll und Furcht beruhen fundamental auf Rationalität, weil es sie ohne diese Rationalität gar nicht gäbe. Es sind soziale Gefühle, könnte man sagen. Und sie sind ziemlich schlau. Das aber bedeutet: Es kommt nicht darauf an, ob der Beweggrund einer bestimmten Handlung rational oder emotional ist, dieser Unterschied lässt sich nämlich so gar nicht aufrechterhalten. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Überzeugungen, die dieser Handlung zugrunde liegen, zutreffen oder nicht. Wenn Gefühle mehr sind als nur verschwommene «Feelings», zerbröselt der Dualismus von Fühlen und Denken. Das heißt aber auch: Nicht allein Gefühle sind rational, sondern auch die Rationalität ist in gewisser Weise emotional.» – Nun, ich weiß nicht – dass Gefühle ihre Rationalität haben können, will ich sowieso nicht bestreiten, aber mit der Fragestellung, ob der Beweggrund einer bestimmten Handlung rational oder emotional sei, hat dies ja zunächst noch überhaupt nichts zu tun, und der Zusammenhang mit den allen Handlungen zugrunde liegenden Überzeugungen – also nicht die direkte Handlungsbegründung oder -auslösung, sondern erworbene Prinzipien einer psychologisch-geistigen Mittelebene – spielt erst recht keine Rolle dafür und insonderheit nicht jene, ob diese Überzeugungen zutreffen oder nicht – als Überzeugungen können sie nämlich gar nicht «nicht zutreffen». Aber dies nur am Rand; grundsätzlich geht es um die Wut als «produktive Ressource, wenn sie moralische Stellvertretung übernimmt», um Zorn und Empörung, um die Wutbürger und solche Sachen, und per Saldo bin ich nicht ungeheuer viel gescheiter, aber ich habe mich doch problemlos durch ein paar gedankliche Serpentinen bewegt, sagen wir: ein Sudoku mittlerer Schwierigkeit, das durch den Verweis eben auf den Urvater der Philosophie und weiterer Dinge, nämlich Aristoteles, sowie auf andere Klassiker wie Hume oder Norbert Elias den Einstieg und die Orientierung durchaus einfach macht und ergänzt wird durch nicht wirklich bedeutende Zitate einiger aktueller Philosophiedozentinnen an der und an jener Universität auf dem Globus. Auch die Ethik hat ihren Auftritt, und zwar in einem Gebiet, das ich für die Ethik reservieren bzw. wo ich der Ethik ausschließlich Ausgang gewähren möchte: «Die Ethik des Stils» heißt ein Beitrag, den ich natürlich nicht gelesen habe, obwohl er lockt mit dem Untertitel «Eine Frage der Haltung: Stil hat nicht nur mit Geschmack zu tun, sondern auch mit Moral». Meinetwegen. Dann gibt es Miniaturen, acht Beiträge, die ich unter das Rubrum «Geistreich» subsumieren würde, Denkstücke, unter anderem und offensichtlich unentbehrlich zur Quantenphysik, wobei mich hier weniger die Quantenphysik irritiert als der Schluss, dass das unberechenbare Verhalten von Elektronen in der Quantenbereich sich mindestens metaphorisch übertragen lasse auf die menschliche Existenz, was ich für einen überhaupt nicht lustigen, weil die Realität der Quantenphysik selber negierenden Kalauer halte. Leider gibt es auch ein paar Sätze oder Seiten zur Philosophie des geglückten Lebens, was per Definition überhaupt nicht geht, ein Leben kann nicht und niemals glücken, tut mir Leid. Und verschiedene andere Beiträge, alle in genießbarer Form und leserlich verfasst und auch ziemlich transparent geschrieben, sodass ich mich schon wieder frage: Ist das jetzt echte Philosophie? Ich habe ja gar kein Kopfweh danach? Bisher bestand für mich immer eine enge Verbindung zwischen Denken und Aspirin.

Nein, wirklich philosophisch tief schürft dieses Heft nicht, aber vielleicht ist dies der Status quo, vielleicht habe ich tatsächlich selber versucht, eine Quantenphysik dort aufzubauen, wo es sie gar nicht gibt; vielleicht zeigt dieses Heft in der Praxis einen Ansatz, wie philosophische Auseinander­setzung, philosophische Diskussion möglich ist, ohne dass man sich gleich in einen Weltkrieg von Systemen und Ideologien verbohrt, und insofern oder vielleicht auch nur für die geglückte Popularisierung einiger Fragestellungen ist das Heft so oder so zu loben. Nochmals: «Hohe Luft», vor mir liegt die Ausgabe 4/2014 für gut 9 Euro, falls Ihr da mal reinschauen wollt. – Dieser Ausgabe liegt übrigens noch ein Spezialheft bei zum Thema «Was ist gute Arbeit?» – Das allerdings ist ziemlich frivol angesichts des herrschaftlichen Imperativs des Arbeitsplatzes an und für sich. Gut muss der nicht sein und die Arbeit als solche interessiert eh niemanden, es muss einfach ein Arbeitsplatz her, welcher Lohn abwirft. Hier aber werden Themen behandelt wie die «Revolution Y», ich zitiere den Aufmacher: «Eine neue Generation soll unsere Arbeitswelt revolutionieren – die Generation Y, die auf die Babyboomer und die Generation X folgt. Sie fordert: Selbstbestimmung, sinnvolle Arbeit und mehr Flexibilität. Kann sie halten, was Soziologen sich von ihr versprechen?» – Nun, dieses Thema wird uns auch außerhalb der Höhenlüfte weiter begleiten.

Was haben wir noch – Israel, selbstverständlich, wo Premierminister Netanjahu als Reaktion auf die Wiedervereinigung von Fatah und Hamas umgehend mit Bauplänen für neue illegale Siedlungen in den besetzten Gebieten reagiert hat, was man durchaus mit einem militärischen Manöver gleichsetzen kann; dafür hat die Schweizer Armee nach dem Volks-Nein zu den schwedischen Gripen-Abfangjägern bei Israel einen Posten an Drohnen bestellt. Dann die unvermeidlichen und immer gleichen Ansprachen anlässlich des D-Days der Landung der Alliierten in der Normandie vor nunmehr siebzig Jahren, die Eröffnung der dritten Front auf dem europäischen Kontinent nach dem Osten und im Süden, und man ist versucht, auch noch nach siebzig Jahren zu stöhnen: Gottseidank; die Besetzung des Chefpostens der EU-Kommission scheint unklarer denn je, Juncker wird nicht mehr so hoch gehandelt wie auch schon, während von Martin Schulz im Moment überhaupt nicht mehr die Rede ist; Hillary Clinton scheint im Ernst die Kandidatur als erste Frau im Präsidentenamt der Vereinigten Staaten zu betreiben, wofür ich die gleiche Beurteilung habe wie für Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident, nämlich: Nicht schon wieder ein Familienmitglied! – Was ist denn das für eine Saubande in den Vereinigten Staaten, das lässt sich ja an wie in Griechenland mit den Karamanlis und den Papadopoulos. Boko Harem in Nigeria spielen nach wie vor Islamistik, sodass sich unterdessen scheint’s sogar Al Qaida von diesen Steinpilzen distanziert – das hat mit Islam wahrlich nichts zu tun, soviel kann auch ich feststellen, der ich gegen Religionen aller Gattungen geimpft bin; und in Brasilien werden die Proteste gegen die Fußball-WM vermutlich vor dem Anpfiff des ersten Spieles abklingen, und ich wünsche hier allen gutes Gelingen, sowohl euch als auch uns in der neutralen Schweiz, die wir eine Hagazussa, nämlich einen deutsch-schweizerischen Grenzgänger als Trainer verpflichtet haben, um wenigstens in die Achtelfinals vorzustoßen. Naja, schaun wer mal.