Habe Mut...

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Am 18.03.2015 war Frankfurt in einer Art Ausnahmezustand. Blockupy rief zu Protesten an dem Tag auf, an dem die EZB in einer Zeremonie ihren Neubau einweihte. Vor den eigentlichen Kundgebungen von Blockupy, also der eigentlichen Demo, wurde in Frankfurt morgens massiv randaliert und es gab Zusammenstöße mit der Polizei. Bilanz: Verhaftungen, brennende (Polizei)Autos, weitere Beschädigungen und etliche Verletzte auf Seiten der Polizei und der Demonstranten.

Genau das war auch der Fokus der Medien. Nicht etwa die eigentliche Kundgebung, die erst mittags stattfand, sondern unverhältnismäßig viel Gewalt und Zerstörung. Die Botschaft von Blockupy, ihre Kritik am Kapitalismus, ging völlig unter in der Flut an Gewaltmeldungen der Gazetten und der TV-Berichte.

Doch wer hat an dieser Unverhältnismäßigkeit schuld? Die Randalierer, die diese Gewalt überhaupt erst initiierten? Klar! Die Medien, die diese Gewalt in den Mittelpunkt gerückt haben? Auf jeden Fall! Aber auch jeder einzelne, da wir unser Weltbild vor allem von den Mainstreammedien formen lassen. Dabei gibt es auch alternativen Medien als Kontrast. Wir haben aber auch eigene Augen und einen eigenen Verstand. Hier also ein Plädoyer, das vielleicht auch im Sinne von Immanuel Kant wäre.
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09:32 min, 22 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.03.2015 / 15:18

Dateizugriffe: 678

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Kultur, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Emanuel
Radio: RUM-90,1, Marburg im www
Produktionsdatum: 23.03.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“! Diese ermutigenden und äußerst bekannten Worte von Immanuel Kant, sind in unserer Zeit umso bedeutender geworden. In Zeiten, wo wir die Möglichkeit haben, dank der Technik, zu jeder freien Minute Informationen zu empfangen. Ob nun beim Scheißen auf dem Klo, in Bus und Bahn, in einer Warteschlange oder auch beim Sex, unsere Smartphones können uns theoretisch zu jeder Zeit mit einer Vielzahl von vorgekauten Gedanken versorgen. Naja, es sei denn der Akku ist leer, versteht sich. Das Angebot reicht von Inhalten, die zu unserer Unterhaltung dienen, für unser eigenes Leben aber keinerlei Bedeutung haben, bis hin zu Nachrichten, die unser Weltbild beeinflussen und formen können. Doch ob wir nun Details über das Leben von Prominenten erfahren oder wir Nachrichten über Politik aus aller Welt empfangen, eines bleibt stets gleich. Es sind keine Produkte unserer eigenen Gedanken. Wir bekommen appetitliche Snacks der Realität aufgetischt und müssen uns darauf verlassen, dass wir ein möglichst authentisches Bild der Welt durch unsere Medienberichterstatter erhalten. Doch auch bei Medien, neben anderen Bereichen wie z.B. Lebensmitteln, ist kritischer Konsum gefragt. Das zeigte wieder mal ein noch sehr junges Beispiel.

In Frankfurt brannte ja bekanntermaßen am 18.03.2015 die Luft. Das Blockupy Bündnis hatte wegen der Eröffnung des neuen EZB-Turmes, im Frankfurter Ostend, zu Demonstrationen aufgerufen. Die EZB eröffnete in einer Privatfeier mit einigen erwählten Gästen das neue EZB Gebäude, darunter Hessens Wirtschaftsminister Al-Wazir, EZB-Präsident Draghi und Frankfurts Oberbürgermeister Feldmann. Nur Presseagenturen und der Hessische Rundfunk hatten Zutritt, zu dieser Zeremonie. Andererseits: Was hätte es da schon zu sehen gegeben, außer Draghi, der stolz wie Oskar ein Band durchschneidet. Fun-Facts: Mit Antenne ist dieser neue Koloss 201m groß und sein Bau kostete günstige 1,2 Millarden Euro. Man gönnt sich ja sonst nix.

Was am 18.03. auf den Straßen von Frankfurt passiert ist, da sind sich Politik und Medien fast einig, geht einzig und alleine auf das Konto der Kapitalismuskritiker von Blockupy. So wurde auch darüber getwittert, bis die Internetleitungen glühten. Differenziert wurde mal wieder so gut wie gar nicht. Fairness Fehlanzeige. Klar, immerhin sind progressive Gedanken, die eigentlich wichtigen Inhalte jeder Bewegung, die das aktuelle System anzweifeln, von den Herren des Systems nicht gern gesehen oder werden einfach nicht verstanden. Denn wer sollte ein System denn bitte kritisieren wollen, das für ihn funktioniert? Vor allem wenn man dann noch gläubiger Egozentriker ist. Quasi DIE Tugend unserer herrschenden Klasse.

Doch kurz den eigenen Verstand genutzt: Wie wahrscheinlich ist es, wenn mehr als 10.000 Menschen in Frankfurt zusammenkommen, dass einige davon ihren Protest in Gewalt ausdrücken? Sie denken nicht darüber nach, dass Sie nicht nur ihre „Waffenbrüder“, nämlich alle anderen Kapitalismusgegner ihrer Bewegung, sondern auch deren gerechtfertigte Kritik am System und ihre Lösungsansätze diskreditieren. Sie sollten es mittlerweile besser wissen, wie Medien und Politik funktionieren. Nach solchen Gewaltexzessen werden Bewegungen dann nämlich nur noch ungern angehört, weil man stets auf die Gewaltbereitschaft einiger Blockupy-Anhänger verweisen kann. „Mit solchen Leuten führen wir keinen Diskurs!“ sagen die Politiker und „Über Krawallmacher und deren Standpunkte berichten wir nicht!“, sagt die Presse. Oder es wird noch über sie berichtet, dann aber mit negativem Anstrich.

Sicher! Das aktuelle politische Klima in Europa bietet viel Platz für Kritik und auch Wut. Doch was rechtfertigt es, einen ganzen Lebensraum von Mitmenschen zu verwüsten und verbrannte Erde zu hinterlassen? Was bringt es, Autos, Geschäfte und andere Dinge zu zerstören, die im näheren Sinne nichts mit der EZB zu tun haben? „Gewalt ist immer eine Bankrotterklärung an die eigene Intelligenz!“, hat mal Oliver Kalkofe gesagt. Die feinen Herren in Ihrem Elfenbeinturm hingegen, der übrigens weiträumig von all den Straßenschlachten abgeschirmt war, hat das sicherlich nur peripher gejuckt. Vielleicht nur dahin gehend, dass man wegen all dem Rauch in der Stadt nicht die schöne Aussicht aus knapp 200 Meter Höhe genießen konnte. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Ausrüstung der Polizei und ihre schiere Anzahl noch weiter aufgestockt werden wird, blickt man in Richtung G7-Gipfel im Juni. Und genau das plant Bundesinnenminister DeMaizere schon länger. Nun bekommt er da sicherlich noch mehr Zuspruch.

Doch wenn man mal darauf geachtet hat, wie umfangreich die Polizei bereits an diesem Mittwoch ausgestattet war und wie viele Beamte aus anderen Bundesländern nach Frankfurt bestellt wurden, dann wird schnell klar: Die Polizei ist für solche Fälle bereits bestens ausgerüstet! Wir konnten gepanzerte Fahrzeuge zum Brechen von Straßen-Blockaden erleben, zahlreiche Wasserwerfer und ein sehr modernes RIOT-Gear, also eine Ganzkörperpanzerung, der ein Normalbürger kaum etwas entgegen zu setzen hätte, sollte es zum Nahkampf kommen. Es gab zahlreiche Hubschrauber in der Luft, die jederzeit zu hören waren. Insgesamt gesehen war die Polizeipräsenz sehr eindrücklich. Machen wir uns also nichts vor: Im Konfliktfall, und davon hat man in Frankfurt neulich einen Vorgeschmack erlebt, zieht der Bürger den Kürzeren. Nach der Aufrüstung in nächster Zeit sowieso.

Es führt also kein Weg an friedlichen Protesten vorbei. Das Ziel sollte sein, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und sich nicht provozieren zu lassen. Es muss auch klar sein, dass man immer, je größer eine Bewegung eben ist, ungewollte Mitläufer hat. Damit ist natürlich nicht der nervige kleine Bruder oder die Schwester gemeint. Gemeint sind, neben Extremisten aus links und rechts, eben auch Krawalltouristen, wie neulich in Frankfurt. Unzufriedene Europäer, aber auch Adrenalinjunkies.

2011 war es ein ähnliches Spiel, als Blockupy noch Occupy Germany hieß. Die gesamte Bewegung aus hunderttausenden von Menschen über ganz Deutschland verteilt, wurde in eine rechte Bewegung mit antisemitischen Tendenzen klassifiziert. Von Medien und Politik. Wie soll das gehen, wenn wir von einer heterogenen Masse sprechen? Begründung: Es wurden auf Kundgebungen von Occupy, Mitglieder aus rechtsextremen Lagern gesehen. Außerdem: Ist man gegen eine Finanzelite, kritisiert man das monetäre System, dem auch jüdische Geschäftsmänner angehören, dann ist man zumindest tendenziell Antisemit. Vor allem eben auch, weil Nazis gerne das Finanzsystem kritisieren und vor allem Juden die Schuld an allem Elend geben. Ist man jedoch Kapitalismusgegner oder EU-Kritiker ohne Nazi zu sein, kritisiert man die Politik der NATO, speziell die der USA oder Israel, fliegen Aktivisten viel zu oft auch die Anschuldigung Rechtspopulist oder sogar Nazi zu sein entgegen. Reflexartig, nicht nur aus Reihen der Politik oder Medienvertretern, sondern auch unter Bürgern, die diese Meinungen z.B. aus TV, Zeitung, Internetforen, ihrem Stammtisch oder aus ihrer Partei übernommen haben.

Ich war 2011 bei Occupy dabei. Es war laut, aber friedlich, es war bunt und vielschichtig, aber ich habe nicht einen Nazi getroffen oder eine rechtsradikale Meinung gehört. Ich war live vor Ort, musste mich nicht auf die Bewertungen aus den Medien verlassen, sondern konnte mir eine eigene Meinung bilden. Was ich dort gehört habe, war vor allem berechtigte Kapitalismuskritik, die irgendwann von einseitiger Medienberichterstattung im Keim erstickt und diskreditiert wurde. Auch aus linken Lagern kamen immer wieder die Vorwürfe, Occupy habe rechtsradikale Einflüsse. Was ist da los, wenn bekennende Linke anfangen, auf Leute zu schießen, die sie eigentlich ihre Brüder und Schwestern im Geiste nennen müssten? „Teile und herrsche“ in Bestform ist da los und alle fallen darauf rein!

Man sollte sich aber folgendes vor Augen führen: Ist mensch Nazi, nur weil er z.B. auf eine gesunde Lebensweise achtet, wie damals in der NS-Zeit, als man den Bürger aufforderte Vollkornbrot zu essen und Sport zu treiben? Wenn es nach einem SPIEGEL-TV-Beitrag namens „Reise durch eine essgestörte Republik“ geht, dann ist zumindest hier der Vergleich mit der NS-Zeit, absolut angebracht. Ist mensch auch Nazi, wenn er Autobahnen, für eine gute Erfindung hält? Ist mensch Nazi, wenn er die US-amerikanische Innen- und Außenpolitik an vielen Stellen kritisiert? Ist mensch Nazi, wenn er die Regierung Israels z.B. wegen Zwangsumsiedlungen von Palästinensern kritisiert, den letzten Gaza-Konflikt (2014) nicht als Krieg empfindet, sondern als Massaker der israelischen Armee an der palästinensischen Bevölkerung? Nazis sind übrigens auch gegen Kapitalismus, setzen sich auch für die Umwelt ein, gucken auch Filme aus Hollywood, kaufen in den gleichen Supermärkten ein und gucken Fernsehen mit einer Tüte Chips in der Hand, während sie das, was sie im TV sehen, teilweise auch scheiße finden. Doch nur weil wir alle ähnliche und alltägliche Dinge, wie Rechtsradikale tun, haben wir noch lange nicht dasselbe gestörte Weltbild und halten Hitler für einen Helden und seine Taten für eine gerechte Sache.

PEGIDA hingegen war tatsächlich ein Beispiel für eine fremdenfeindliche, aber auch rechtsextreme Bewegung und sollte allen als mahnendes Exempel dafür dienen, wie rechtsextreme Bewegungen in der Mitte der Bevölkerung aussehen. So sieht es aus, wenn versteckter Fremdenhass seine Hüllen fallen lässt. So sehen Menschen aus, die sich teilweise nicht einmal bewusst sind, dass sie rechtsradikale Ansichten vertreten.

Organisatoren, seien es die der Blockupy Bewegung mit ihrer Kapitalismuskritik oder die der Montagsmahnwachen mit ihrem Einsatz für Frieden, haben kaum bis gar keinen Einfluss darauf, wer sich an ihren Demonstrationen beteiligt und welche Themen dort besprochen werden. Doch selbst wenn ein Rechtspopulist auf ihren Veranstaltungen spricht, dann muss das noch längst kein Beweis dafür sein, dass eine komplette Bewegung rechts-populistisch, rechtsextrem, antisemitisch oder sonst was ist. Das sollte man fairerweise anerkennen. Bin ich Nazi, wenn einer zufällig gerade im gleichen Bus mit fährt, in dem ich auch sitze?

Am Mittwochmorgen legte man seitens der Presse besonderen Wert auf die Gewalt und das Chaos. Nicht selten erwähnte man in diesem Zusammenhang das Bündnis Blockupy, was stets in direktem Zusammenhang zu diesen Krawallen zu stehen hatte. Die friedlichen Kundgebungen von Blockupy, die erst mittags stattfanden und bei der es um Inhalte und nicht um Gewalt ging, wurden zwar medial auch erwähnt, aber wesentlich unverhältnismäßiger. Bin ich nun PEGIDA Anhänger, wenn ich zwar nicht den Begriff „Lügenpresse“ benutze, aber schon die Presse kritisiere, wenn ich mit ihrer falsch erzeugten Realität nicht einverstanden bin? Ich würde behaupten, ich nutze nur meinen eigenen Verstand und verlasse mich nicht blind auf Aussagen der Presse, egal ob sie nun bewusst erlogen oder nur mies recherchiert und fehlerhaft sind.

Im Idealfall macht man sich selbst ein Bild vor Ort und nutzt, neben den Mainstreammedien, auch alternativen Informationsquellen. Schließlich bieten unsere Smartphones auch die Möglichkeit, dass jeder zu einem Bürgerreporter werden kann. Empören wir uns, lasst uns aktiv sein und dabei friedlich bleiben. Das Smartphone kann zu einer effektiven Waffe dabei werden. Es müssen ja nicht immer nur Videos von trotteligen Kätzchen, Let's Plays, Schminktutorials und peinliche Videos von Betrunkenen sein, die das Internet fluten.

Kommentare
23.03.2015 / 15:52 Emanuel, Radio Unerhört Marburg (RUM)
Gesendet am...
...20.03.2015 bei Radio Unerhört Marburg in der Sendung "Gleis 16".
 
28.03.2015 / 01:02 J, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
gesendet bei Sonar am 24.3.2015
Danke