"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Slavoj Zizek -

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Slavoj Zizek ist ein Star des modernen linken Denkens, und deshalb las ich das Interview mit be­son­derem Interesse, das letzte Woche im Zürcher «Tages-Anzeiger» publiziert wurde, und zwar unter dem Titel «Ein neuer Weltkrieg ist nicht ausgeschlossen», was nicht zum Vornherein eine prickelnde Erkenntnis genannt werden kann – schließlich ist auch nicht ausgeschlossen, dass ich morgen zum Chef der Credit Suisse ernannt werde, auch wenn die Wahrscheinlichkeit nicht besonders hoch ist, besonders jetzt, nachdem die tatsächlich einen Frankoafrikaner oder einen Afrofranziskaner an die Spitze berufen haben. Anlass für das Interview war aber das neue Buch von Zizek, das «Islam und Moderne» heißt, auch das nicht gerade eine prickelnd originelle Themen­wahl, aber der Zeitgeist heißt nun mal nicht ohne Grund Zeitgeist.
Audio
11:56 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 24.03.2015 / 11:00

Dateizugriffe: 865

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Umwelt, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 24.03.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
«Das Problem der islamischen Welt besteht bekanntlich darin, dass sie abrupt mit der westlichen Modernisierung konfrontiert wurde», sagt Zizek im Interview und fährt fort: «Nehmen wir zum Beispiel Boko Haram», und damit ist er bei mir natürlich schon unten durch, denn Boko Haram über den gleichen Kamm zu scheren wie den Großmufti in Kairo und die nordafrikanischen Moscheen, die lockeren Sitten in Beirut oder aber die Salafisten und Wahabiten und drittens die Schiiten gleich hintendrein, das zeugt schon von einem Gedankenfehler, der die weitere Ent­wick­lung einer korrekten Argu­mentation kategorisch verhindert beziehungsweise schon aus einer gründlich unsauberen Ge­dan­ken­kette entsteht – wenn man überhaupt von Gedanken sprechen darf, die Vermutung von Slang und Floskeln steht sofort ganz prominent im Luftraum. Zizek und sein Befrager lassen sich nicht mal auf die sonst unter normal gebildeten Leuten übliche Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus beziehungsweise Muslimen und Islamisten herab. Aber für ein Buch oder ein Interview reicht das allemal, man kann guten Gewissens davon ausgehen, dass sowieso kein guter Christenmensch einen Einwand äußert. Zizek wird denn auch sofort gefragt, ob der Islamismus etwa gar die Befreiung der Frauen verhindere. Hoho, hoho, sollte der Islamismus tatsächlich die Befreiung der Frau verhindern? Na so was. So eine saudumme Frage habe ich ja seit Jahren nicht mehr gese­hen, und das will etwas heißen. Allein dafür sollte man den Interviewer mit ein paar islamischen Strafen belegen, zum Beispiel fünf Stockhiebe auf die Fußsohlen, wobei er die Bergschuhe dabei anbehalten darf, wir sind ja keine Unmenschen und auch keine echten Islamerer, beziehungsweise, wo droht diesem anderen Blogger jetzt eben eine solche Prügelstrafe? Im durchaus nicht isla­mis­ti­schen, sondern bloß wahabitischen Saudiarabien vermutlich. Aber zurück. Der Interviewer kommt wohl nicht von ungefähr auf solchen Stuss, weil nämlich Zizek ganz auf diese Frauenfrage fixiert ist. Boko Haram heißt offenbar «Westliche Bildung ist verboten», was vor allem für Frauen gelten soll; auch sonst hätte die Verhüllung der Frau vom Islamischen Staat bis zu den Taliban eine geradezu neurotische Komponente, indem nämlich die Frau damit extrem sexualisiert würde. Auch hier bringt der Interviewer die Sache mit einer Frage brav auf den Punkt: «Es handelt sich also um eine höchst erotisierte Gesellschaft?» Und Zizek spricht: «Das Bedürfnis, Frauen verschleiert zu sehen, spricht für eine extrem sexualisierte Welt, in der das bloße Zu­sam­mentreffen mit einer Frau eine Provokation bedeutet, der ein Mann unmöglich widerstehen kann.»

Was für ein Blödsinn! Hier projiziert der Welt-Analytiker seine nicht mal von einer primitiven Re­flexion über die eigene Stellung gestreiften Vorstellungen auf oder in das von ihm eben leider nicht untersuchte, sondern bloß beschriebene Objekt hinein. Beziehungsweise: Zizek weiß mit seiner auf Marktumfragen basierenden Intuition, was er seinem Lesepublikum schuldig ist. Auf der Strecke bleibt jegliche Kenntnis des Islams, seiner Geschichte, seiner Vielfalt und vor allem, merket auf: seiner Widersprüchlichkeit, wie schon aus dem Buchtitel hervorgeht. «Der Islam», den gibt es nicht. Punkt. Und Blödsinn ist es auch in der Sache. Die Verhüllung der Frau, nur damit dies auch wieder mal gesagt ist, war auch bei uns bis vor nicht übermäßig langer Zeit gang und gäbe, ohne dass dahinter die ganz große sexuelle Neurose steckte. Unsere Großmütter trugen Kopftücher, und sie und ihre Ehemänner waren ziemlich gründlich in Schwarz gekleidet und liefen manchmal ohne Unter­wäsche herum, ohne dabei dauernd an Fickificki zu denken. In der Schweiz wurde das Frauenstimmrecht auf Bundes­ebene so zirka im Jahr 1971 eingeführt, das sind noch keine fuffzich Jahre her, und trotzdem gabs keine verdeckte Pornoszene. In armen Gesellschaften, so lautet das Verdikt, haben die Menschen ganz einfach keine Zeit für mehr als Sex. Unsere eigene Geschichte ist bezüglich der Sexualität ziemlich einfach widersprüchlich: einerseits derb, in den größeren Städten durchaus sittenlos, je nach Epoche und sozialem Stand, und anderseits gespickt mit Tabuisierung und Verboten des Geschlechtlichen, welche aber die Praxis des Geschlechtsaktes im Alltag überhaupt nicht beschlagen. Und dann gleitet Zizek wieder in den alten Soziologen- bzw Psychologenslang hinein: «Die Abhängigkeit vom Weiblichen ist die verdrängte Grundlage des Islam, sein Ungedachtes, das, was er auszuschließen, auszulöschen oder doch wenigstens mithilfe seines komplexen ideologischen Gebäudes zu kontrollieren versucht.» Diesen Ton kennen wir doch irgendwie und irgendwo her: Natürlich, Zizek ist ein alter Lacanianer, ein Dampfschwafler der französischen Sorte, und irgendwie möchte man einer Linken, welche sich solcher Schwurbeleien bedient, nicht mehr viel Glück wünschen.

Es gibt in Frankreich aber auch andere Figuren. Ganz anders als Zizek, nämlich fundiert und kenntnisreich tritt uns ein Herr Oliver Roy entgegen, der sich seit langer Zeit mit dem Islam beschäftigt und schon im Jahr 1992 ein Buch veröffentlicht hat mit dem Titel «Das Scheitern des politischen Islam». Er behauptete darin, dass der Islamismus als politisches Projekt eben gescheitert sei. Nach dieser Lesart müsste man heute gar nicht vom Islamismus, sondern vom Neoislamismus sprechen, wobei sich die Natur der Bewegung offensichtlich massiv verändert hat. Heute versteht er diesen Neoislamismus als Reaktion auf, ja sogar als Ergebnis des allgegenwärtigen Einflusses des Westens in den isla­mi­schen Kernregionen. Mit dem Koran und seiner Exegese hat der Islamismus dabei nicht viel zu tun, am wenigsten bei der moslemischen Jugend in den Vorstädten Europas. Oder vielleicht genauer: Es eröffnet sich eine völlig neue Dimension der Exegese, indem der junge Islamerer keine Ahnung hat von Halal und Hadsch und eigentlich bei jeder Handlung im Internet um Rat suchen muss: Ist es auch wirklich im Sinne des Propheten, wenn ich Kaugummi kaue, wenn ich den Arsch mit der linken Hand abwische, ist es unrein, in Gegenwart der Mutter zu furzen, wie ist es mit dem Vater und so weiter und so fort. Für solche Menschen ist die Welt vollkommen auseinander gefallen, es gibt kein sittliches oder moralisches Dach mehr über dem Kopf, und mit solchen Notbehelfen versuchen sie, sich unter dem Begriff des Islam notdürftig eine Bleibe zu zimmern. Offenbar sind Islam-Foren voll von solchen Lebenshilfen. Daneben widersprechen sich auch Herrn Roys Angaben zum Teil, so behauptet er zum einen, die Rekrutierung für den IS fände in Frankreich nicht in den Vorstädten statt, sondern hauptsächlich in den Gefängnissen, und anderseits meint er, in Marseille gebe es keine IS-Strukturen, da werde sich die unterprivilegierte Jugend direkt vom Drogenhandel mit den entsprechenden Infrastrukturen absorbiert, was ja umgekehrt bedeutet, dass es in anderen Städten diese Strukturen dann doch gibt. Trotzdem und auf jeden Fall: Wie eigentlich zu vermuten war, gibt es in der französischen Intelligenz eben nicht nur Scharlatane, sondern durchaus auch Köpfe, welche den Ansprüchen eines normalen kritischen Geistes genügen.

A propos Frankreich: Der allgemein erwartete Umsturz durch den Front National ist vorerst mal ausgeblieben, stattdessen haben wir die Wiedergeburt von Niklaus Sarkozy erlebt. Für Menschen mit Humor ist das natürlich schön; wir haben dieses Louis-de-Funès-Imitat tatsächlich vermisst, der François Hollande hat zwar durchaus Skandalgeschichte geschrieben, aber humoristisch gibt er ein­fach nichts her, und der nationale Sozialismus der Familie Le Pen erinnert eben schon nicht nur an Ungarn. Anderseits ist mir diesbezüglich in guter Erinnerung, welchen Weg der italienische Neo­faschismus zurückgelegt hat bis zu jenem Zeitpunkt vor mehr als zehn Jahren, als der damalige Chef Fini als einziger Politiker in Italien zu einer Art von Solidarität mit den Immigranten aufrief. So könnte es sich auch beim Front National verhalten. Generell interpretiert man ja die Zwistig­kei­ten zwischen dem senilen Gründerchef Jean-Marie Le Pen und seiner Tochter Marine als reine Spie­gelfechterei zwecks Mobilisierung einer breiteren Wählerbasis; aber es könnte eben durchaus mehr dran sein, indem sich der Front National, je stärker er wird, desto mehr den Zwängen eines modernen sozialdemokratischen Staatswesens anpassen muss. Gesetzt der Fall, der Front National geriete bei den nächsten Wahlen an die Macht – wie würde der sich wohl der Probleme in den Vorstädten annehmen? Etwa mit der Armee oder mit eigenen Stürmertruppen? – Wohl kaum.
Wenn wir in letzter Zeit manchmal von Weltkrieg sprechen, zusammen mit Slavoj Zizek, so weniger wegen des Islamischen Staates als vielmehr wegen der Ukraine. Der Nato-Oberbefehls­haber Breedlove spricht sich für Waffenlieferungen aus, obwohl das destabilisierend sein könnte, wie er selber zugibt, um anzufügen, dass Nichtstun ebenfalls destabilisierend wirken könnte. Wie idiotisch es ist, dort in den Kategorien von Gut und Böse zu denken, zu sprechen und zu schreiben, zeigt eine andere Meldung, die am Sonntag publiziert wurde: Die Schweizer Bundesanwaltschaft führt ein Strafverfahren durch gegen Nikolai Martinenko wegen Korruption, und zwar hat Marti­nenko als Vorsitzender des ukrainischen Parlamentsausschusses für Energie einen Millionenauftrag für Brennelemente ohne Ausschreibung an die tschechische Firma Skoda vergeben, offenbar gegen Schmiergeld in der Höhe von rund 30 Millionen Franken. Martinenko ist ein Kumpel des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und auch des Premierministers Arseni Jazenjuk. Die Firma Skoda ihrerseits, welche die Schmiergelder bezahlt hat, übrigens wie ich annehme, in durchaus handelsüblicher Höhe, gehört dem russischen OMZ-Konzern und damit dem russischen Staat. So läuft das nun mal in dieser Weltgegend. Zur Ehrenrettung von Martinenko und der Ukraine kann man vielleicht noch anfügen, dass die ukrainischen Atomkraftwerke nun halt mal leider mit russischer Technologie und mit russischen Betriebsstoffen laufen, sodass der Ukraine gar nicht viel anderes übrig bleibt, als das Embargo des Westens gegen Russland irgendwie zu umgehen. Dabei erfolgten die inkriminierten Schmiergeldzahlungen offenbar noch im Jahr 2013, also vor den Sanktionen. Man kann sich vorstellen, welch wunderbare Einnahmenquellen sich den Freunden von Poroschenko und Jazenjunk seit der Verhängung der Maßnahmen neu eröffnet haben.

Umgekehrt scheint der Waffenstillstand im Moment zu halten, was mich, ehrlich gesagt, fast ein wenig verblüfft; die Sache dort ist noch lange nicht ausgestanden, weder vom Geiferer Jazenjuk her noch von den Russen, welche sich mit Sicherheit einen Landweg nach der Krim sichern möchten. Ob sie es auch tatsächlich tun, das ist wieder eine andere Frage.