"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Total Recall -

ID 72190
 
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Am Sonntag habe ich zum ersten Mal die nunmehr drei Jahre alte Neuverfilmung von «Total Recall» gesehen, mindestens teilweise, nehme ich an, denn streckenweise hatte ich Mühe, den Film von der ihm beigegebenen Werbung zu unterscheiden, der Anfang ist mir ohnehin völlig entgangen, und insgesamt war ich überhaupt nicht enttäuscht, weil ich sowieso davon ausgegangen war, dass das Original mit Arnold Schwarzenegger nicht zu überbieten ist, und so ist beziehungsweise war es am Sonntag denn auch.
Audio
10:34 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 25.08.2015 / 11:04

Dateizugriffe: 676

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 25.08.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die paar läppischen Reverenzen an das Original, zum Beispiel mit der dreibusigen Prostituierten oder mit dem Auffliegen der künstlichen Persönlichkeit bei der Passkontrolle, vermochten die rein handwerklichen Mängel nicht im entferntesten wettzumachen, und da, wo der Film allenfalls noch hätte punkten können, nämlich bei den mehrstöckigen Infrastrukturwegen einer Stadt in 300 Jahren oder so, werden anstelle der Ebenen selber nur gerade Straßen oder Leitschienen gezeigt wie in einem CAD-Programm aus den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts. Durch die Löcher in der Story pfeift ein schneller Wind, und die Tatsache, dass die beiden weiblichen Gegenspielerinnen, nämlich die Rebellin und Freundin von Hauser zum einen, die vermeintliche Ehefrau von Quaid zum anderen mit praktisch identischen Schauspielerinnen besetzt sind, trägt nichts dazu bei, diese Löcher zu stopfen. Colin Farell schließlich ist nur zu bedauern, dass er ausgerechnet im Vergleich mit dem schlechtesten Filmschauspieler aller Zeiten den Kürzeren zieht, denn Arnold Schwarzenegger hat seine schauspielerischen Defizite entweder umgesetzt in Rollen, in welchen er Maschinen spielte, wo aus dem Defizit ein unschlagbarer Vorteil wird, und in den anderen Fällen wurde das Defizit wettgemacht mit einer massiven Schicht an Ironie, auch in Total Recall, während Colin Farrell einfach sein ausdrucksloses Gesicht in die Kamera hält und weder Mimik noch Muskeln spielen lässt. Schade drum.

Aber eine Frage beschäftigt mich ein wenig: Weshalb muss Colin Farrell beziehungsweise Hauser/Quaid auf einem Flügel, dessen Marke mich eigentlich interessiert hätte, die ich aber nicht entziffern konnte, warum muss er also darauf ausgerechnet den dritten Satz von Beethovens Klaviersonate Opus 31 Nr. 2 spielen, die ihrerseits seit mindestens zwei Jahrhunderten und vierzehn Jahren die PianistInnen der ganzen Welt durch ihre vertrackte Rhythmisierung eines Drei-Achtel-Taktes irritiert? Was will uns der Regisseur mit dieser Auswahl mitteilen? – Einmal abgesehen davon, dass die Sache in der Übersetzung ja nicht besser wird; auf Englisch heißt die Tastatur Keyboard und die Taste Key, was in der Neuzeit eher als Schlüssel verwendet wird, sodass der Auftrag «Such den Schlüssel» im Deutschen zum ziemlich schrägen «Such die Taste» wird, weil es sich dann eben um eine Taste handeln muss, aber eben, zusätzlich eine Taste innerhalb eines Werkes von Beethoven, welches Hauser offensichtlich in einer Klavierstunde mal geübt hat –

Dazu kommt noch, dass bereits Beethoven in diese Sonate ein weiteres Geheimnis eingewebt hat, indem er im ersten Satz, völlig abseits von allen Normen für Klaviersonaten, in den Takten 144 und 154 ein komplett frei stehendes oder fliegendes Rezitativ einfügt, wie aus einer Oper oder aus früheren Barock-Vortragswerken – Was will uns die Regie mit der Wahl dieser Sonate mitteilen?

Vermutlich nichts, ebenso wie alle anderen Utensilien bis hin zu den Schauspielern und Schau­spie­le­rin­nen völlig bewusstlos zusammen genietet wurden aufgrund von Kriterien, die ich hier aus Gründen des Jugendschutzes gar nicht diskutieren will.

Dabei bringt doch das Kino immer wieder sehr große Freude ins Leben. Mein jüngstes und überaus positives Erlebnis war der Film «Men and Chicken» vom Regisseur Anders Thomas Jensen, von dem ich bisher nur «Adams Äpfel» gesehen hatte, der mir ebenfalls sehr gut gefallen hat, der aber viel düsterer war als «Men and Chicken». In diesem Film habe ich nach einer gewissen Ein­füh­rungs­phase praktisch ununterbrochen unter dem Bauchfell gelacht und manchmal auch laut heraus; der Film speist sich aus dem Aufeinandertreffen von infantilen, pubertären und präpubertären Gemütslagen bei erwachsenen Männern mit durchaus rationalen Strukturen und intelligenten Argumenten. Die Grundlage oder der Morast, auf welchem die Geschichte schwappt, ist radikal abartig, aber immerhin solide genug, um auch noch eine Erlösung für diese Männerwelt bereit zu halten in der Form verschiedener Frauen, die zum Teil richtige und ausgewachsene Frauenzimmer sind, und all das sauber ausgeleuchtet und montiert mit Schauspielern einer eigenen, skandi­na­vi­schen Stärkeklasse, unter welchen als bekanntester Mads Mikkelsen zu nennen ist. Eine rundum wunderbare Sache mit Verweisen auf die Physiognomiker, wenn man mal all die Genetiker beiseite lässt, die natürlich im Vordergrund stehen. Allerdings kommt es in diesem Film auf Vordergrund und Hintergrund nicht so besonders an, er ist einfach umwerfend komisch, bei aller Brutalität.

Ich gehe mal davon aus, dass solch ein Film in den Vereinigten Staaten nur noch in Underground-Kinos gezeigt werden darf nach dem Terror-Feldzug der politischen Korrektheit, welche unter­des­sen auch die kleinsten Keimzellen von was auch immer erfasst unter dem Titel «Mikro-Aggres­sio­nen». Offenbar ist es an zahlreichen US-amerikanischen Universitäten in Mode gekommen, sämt­liche Sprachformen, aber auch sämtliche wissenschaftlichen und kulturellen Erzeugnisse aus dem Verkehr zu ziehen, welche die Befindlichkeit von Studentinnen und Studenten entfernt verletzen könnten. So darf man offenbar einer Studentin, die aus Asien stammt, nicht mehr sagen: «Du bist wohl sehr gut in Mathematik», weil so etwas irgendein Vorurteil gegenüber eben Asiatinnen und Asiaten zum Ausdruck bringt oder bekräftigt, so im Stil von: gut in Mathe, aber Schweiß in den Achselhöhlen. Wenn ich so etwas höre, beginne ich plötzlich zu verstehen, weshalb der dumme Polterer Donald Trump bei Umfragen derart gut abschneidet – unter uns gesagt ziehe ich persönlich einen rüpelhaften Idioten einem weichgespülten Demokraten um Welten vor, ja genau, weil der eben noch Schweiß hat unter den Achseln. – Aber das ist wieder ein anderes Kapitel.

Am Hauptkapitel in diesem Sommer, nämlich am Flüchtlingsthema und an der Realität der Flüchtlingsströme, wird munter weiter geschrieben, wobei ich einigermaßen Dispens habe von der Pflicht, mich zu äußern, zum einen, weil ich mich schon verschiedentlich habe verlauten lassen, wobei ich offenbar das aktuelle Ausmaß des Phänomens unterschätzt habe. Von achthunderttausend Flüchtlingen allein in diesem Jahr allein für Deutschland spricht die Bundesregierung, und ich gehe mal davon aus, dass es ihr nicht übermäßig Ernst ist mit dieser Zahl, aber auch die Hälfte oder sagen wir mal 500'000 Menschen entsprechen jener Menge, welche ich für ganz Europa völlig problemlos für verkraftbar halte, nicht für Deutschland alleine, auf Deutschland würden davon nur um die 100'000 Stück abfallen. Wie es sich mit 500'000 Flüchtlingen verhält, weiß ich nicht. Probleme wirtschaftlicher Natur entstehen daraus nicht, aber offensichtlich befeuert so etwas den rechtsextremen Karneval in den geschützten Werkstätten des Elbtals und der umliegenden Gegenden. Und in einem Punkt hat die Bundesregierung mit ihrer wohl überrissenen Prognose trotzdem recht: Von einer bestimmten Menge an muss sich der europäische Kontinent beziehungsweise jene Vielfalt, die den europäischen Kontinent ausmacht, nicht mehr mit Flüchtlingsströmen befassen, sondern mit einer Völkerwanderung. Kann und will Europa eine solche Völkerwanderung empfangen und integrieren? – Und hier geht es nicht um moralische Fragen oder um eine großhumanitäre Ethik, sondern ganz einfach um praktische Fragen, von den Mechanismen der wirtschaftlichen Möglichkeiten bis hin zur Belastbarkeit der sozialen Sicherung. Als man solche Themen noch im Rahmen der Flüchtlingsfrage diskutierte, versuchten die neoliberalen und die rechtsnationalen Kräfte gemeinsam, damit den Sozialstaat zu schwächen, um mehr Knete für ihre eigenen Projekte abzweigen zu können. Vor dem Hintergrund einer möglichen tatsächlichen massiven Zuwanderung stellen sich diese Fragen völlig anders; gleichzeitig entspannt sich dabei glücklicherweise der rechtsnationale und der neoliberale Druck, auch wenn die Neonazis die Zeit für gekommen halten, wieder lauter «Heil Hitler» zu schreien.

Das erinnert mich übrigens daran, dass das Satiremagazin Titanic die Gelegenheit nicht versäumt hat, auch in der August-Ausgabe den Kamerad und Volksgenossen Adolf Hitler aufs Titelblatt zu stemmen, während er es in der Juli-Ausgabe nur auf Seite 3 geschafft hat, und die Mai-Ausgabe musste gänzlich ohne Hitler auskommen. Im April 2015 dagegen hatte der einhundertprozentig bewusstlose Witz die inhaltsschwere Zeichnung «Merkel enthüllt Hitlerstatue» zum Verkaufs­haupt­träger bestimmt, neben einer ganzseitigen, wirklich überfälligen Satire-Anzeige für «Mein Kampf», natürlich mit Führerbild. Hier musste die Titanic wohl die völlig Hitler-freie Ausgabe vom März kompensieren, nachdem der Februar schon ganz mit den Charlie-Hebdo-Themen voll gekleistert war.

In der Flüchtlingssache aber habe ich Dispens, wie schon gesagt, und zwar aus dem einfachen Grund, weil zu meiner einhundertprozentigen Verblüffung ein völlig unverdächtiger Mensch in Form und Farbe und Inhalt die richtige Reaktion popularisiert hat, nämlich der Schauspieler und Regisseur Til Schweiger, dessen künstlerisches Schaffen ich bisher eher weniger beachtet hatte und dessen politische Stellungnahme in dieser Frage umso erfreulicher ist. Anscheinend gibt es Leute, die ihm Populismus oder Mediengeilheit vorwerfen – da muss ich aber meinerseits tüchtig lachen, aber nicht etwa herzlich, sondern hier lache ich mit der Galle. Til Schweiger ist mein Mann, mindestens in diesen Stunden, und wenn das so weiter geht mit ihm, werde ich mir sogar demnächst mal seine Filme anschauen.

Was haben wir sonst noch? Endlich haben Griechenland und die Türkei ihre Wahlen, mindestens ihre Neuwahlen einigermaßen synchronisiert, das ist eine weitere positive Entwicklung, und ich sehe keinen Grund, weshalb Alexis Tsipras sich nicht dem Kampf gegen die kurdische PKK anschließen sollte, das würde ihn nämlich weder einen Euro noch eine Drachme kosten. Sein ehemaliger Finanzminister Varoufakis hat zusammen mit dem ehemaligen französischen Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg über Möglichkeiten zur Demokratisierung Europas diskutiert, was auch nicht zum Vornherein schlecht sein muss, vor allem, wenn sich die Diskussion nicht auf den Austausch von Floskeln und Höflichkeiten beschränkt. Konkrete Ergebnisse und Forderungen sowie Hinweise auf realistische Wege ihrer Realisierung liegen mir bisher aber nicht vor. Naja, das Gespräch war ja auch erst am Wochenende, also während ich mir das Total-Recall-Remake zu Gemüte führte. Nochmals: das Remake eines Total Recall. Das tönt eigentlich sehr gut.