"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ernste Musik -

ID 72560
 
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Moderne klassische oder ernste beziehungsweise ernsthafte Musik ist für einen durchschnittlich ungeschulten Geist praktisch nicht zugänglich. Einesteils werden die tonalen Systeme schon seit hundert Jahren kaum mehr angewandt, was das naive Ohr, das von Funk und Fernsehen vollständig auf diese Koordinaten ausgerichtet wurde, schon mal verzweifeln und verzagen lässt, wobei Verzweifeln und Verzagen eine prononcierte Form annehmen:
Audio
10:39 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.09.2015 / 13:53

Dateizugriffe: 995

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Musik
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.09.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Man hört einfach nicht hin, weil man schon gar nicht begreift, was die Töne und Geräusche sollen, mit Ausnahme vielleicht von gewissen Film-Musiken, aber seit auch die Film-Soundtracks als eigene Warengattung gehandelt und verkauft werden, ist es auch hiermit mehr oder weniger vorbei. Dabei ist der Mangel an Tonalität noch das Geringste, was man einem modernen Komponisten vorwerfen kann. Art, Lautstärke, Dauer, Intensität, Anordnung und Abfolge von Musikelementen werden nach Kriterien zusammen gestellt, denen kein Schwein mehr intuitiv folgen kann, auch wenn es eine ganze Gesellschaftsklasse gibt, welche das von sich behauptet. Um eine moderne Komposition zu verstehen, muss man sie mehr oder weniger selber komponiert haben, weil die Modulationen schlicht und einfach zu umfassend sind, nicht nur Ton- und Geräuschfolgen umfassen, sondern auch Leerstellen oder die Instrumente selber, es ist ein kunterbuntes Treiben, das im Grunde genommen sehr viel Spaß machen kann, aber eben, mit einem intuitiven oder einem vorgeformten Auffassungssystem kommt ein durchschnittliches Gehör so etwas nie und nimmer bei.

Dagegen können solche Sachen auf einer mehr oder weniger außermusikalischen Ebene durchaus verstanden werden und vor allem gut unterhalten. Am letzten Freitag wohnte ich auf einem kleineren Platz in Zürich einer Aufführung von vier Musikstücken bei, wovon zwei Uraufführungen waren, von denen wiederum ich auf eine gar nicht eingehen will, es handelte sich nämlich um die Umsetzung der Schaltfrequenz einer Lichtsignalanlage an einer städtischen Straßenkreuzung, inklusive einiger Parameter aus dem Verkehrsfluss, welche die Schaltfrequenz mit bestimmen, um eine Umsetzung dieser Frequenz in analoge und digitale Töne, und wenn ich nun sage, dass mir mindestens die Idee noch recht sympathisch erschien, so war die Umsetzung um 19 jener 20 Minuten zu lang, welche das Stück dauerte. Die zweite Uraufführung würde ich gerne länger besprechen, aber das kann ich aus dem einfachen Grund nicht, weil es zu regnen begann und ich mich unter den Balkon eines etwas entfernt liegenden Hauses ins Trockene brachte, weshalb ich gar nicht besonders viel mit bekam; es handelte sich um ein Ballett für zwei Klein-Straßenreinigungs­maschinen der städtischen Betriebe, welche sich mit laufenden automatischen Putzbesen und in der hereingebrochenen Dunkelheit aufgeblendeten Scheinwerfern ein Tänzchen lieferten zu irgend einer Musik, eben: aus dem digitalen und analogen Bereich.

Zuvor aber gabs ordentlich etwas zu lachen. Zu Beginn wurde aufgeführt das Stück „Eine Brise“ von Mauricio Kagel aus dem Jahr 1996; es heißt im Untertitel: Flüchtige Aktion für 111 Radfahrer. Nun, soweit ich das mitbekommen habe, waren es nicht 111 Radfahrerinnen und Radfahrer, sondern nur ungefähr 80, und das Stück wurde leicht beeinträchtigt durch den nicht besonders dichten, aber trotzdem halbwegs fließenden Automobilverkehr. Trotzdem erweckte diese Aktion, bei der diese Radfahrer vorbeiradelten und dabei verschiedene Vokale ausstießen und mit Zunge und Lippen ein Flirren zu erzeugen versuchten, welches dem Stück wohl auch den Namen gab, den Eindruck von etwas ganz besonders außergewöhnlich Sinnlosem, zu welchem sich eben eine ordentliche Masse an Velozipedkraft organisierte, wobei die gesamte Aktion nicht viel mehr als 2 Minuten dauerte. Gottseidank wurde sie in der Pause wiederholt, als die Radfahrerinnen und Radfahrer aus einer anderen Richtung herbei und vorbei fuhren. Das war tatsächlich ein in jeder Beziehung berauschender Auftakt des Abends, und wenn ich an die kompositorische Substanz gehen müsste, dann würde ich irgendetwas nuscheln von: Es kann halt in der modernen Musik alles zum Instrument und die ganze Stadt zum Tonträger werden, inklusive Verkehr und vor allem inklusive jener Begleitgeräusche, welche die Stadt gratis und franko mit liefert und im konkreten Fall noch die Begleitgeräusche von jener überschaubaren Menge an Schulkindern, welche von kulturbeflissenen Eltern zum Anlass herbei geschleppt worden waren und die sich nicht nur als kulturfreie, schlecht erzogene Rabauken erwiesen, sondern eben genau dadurch zu einem eigenständigen Element der Aufführung wurden, sowohl beim Stück von Mauricio Kagel als auch beim anschließenden von Dieter Schnebel, wobei besagter Dieter Schnebel höchstpersönlich aus Berlin angereist war, um der wohl nicht alltäglichen Aufführung seiner Komposition aus den Jahren 2000 bzw. 2007 beizuwohnen. - Ich bin übrigens froh, dass es ein so spätes Stück war, sonst hätte man sich die Frage stellen müssen, ob es sich nicht gleich verhalte wie mit gewissen Kompositionen von Kagel und von Cage, deren Instrumente ganz einfach verschwunden sind insofern, als es heute keine Transistorradios und überhaupt keine solchen Glühlampentransistoren mehr gibt, welche die modernen Juxbrüder in den 60-er Jahren sehr gerne für ihre Werke verwendeten.

Wäre das vorliegende Stück hin den 60-er Jahren entstanden, so hätte es damals mit Sicherheit anders geklungen als heute. Der Titel lautet «Harley Davidson», und geschrieben wurde es für 9 Harleys, Trompete und Synthesizer. Ich gehe davon aus, dass die Harley-Davidson-Motoren in den 1960-er Jahren noch so richtige Röhrbrocken waren, was sie heute aus den unterschiedlichsten Gründen einfach nicht mehr sein dürfen, vom Stickstoff-Kohlen-Monoxid-Dioxid-Cocktail bis zum Lärmpegel; ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass diese 9 Maschinen des Pelican Chapter Zurich-City ganz einfach leise waren. Nur zwei bis drei Mal, als der Dirigent die Motoren anschwellen und aufheulen ließ, hatte man überhaupt den Eindruck von Motorrädern, während sich sonst eher der Eindruck von zivilisatorisch bedingter Triebkontrolle einstellte.

Das ändert nichts an der Tatsache, dass es eine ganz ausgezeichnete, wunderbare und spektakuläre Aufführung war, welche mir gerade unter dem Titel einer modernen klassischen Komposition verschiedentlich lautes Gelächter entlockte. Die Trompete und der Synthesizer legten ein relativ einfaches Klanggerüst aus etwas Geräusch und drei Tönen vor, während das Pelican Chapter langsam einfuhr und seine Maschinen vor dem Publikum abstellte. Die Musik wurde etwas lauter , die Fahrerinnen und Fahrer zogen ihre Helme ab, und gleich zu Beginn musste das Publikum sie mit Applaus begrüßen, während sie sich mehrmals verneigten und dann wieder auf die Motorräder setzten. In Dreiergruppen wurden dann die Motoren angelassen und wieder abgestellt, die Scheinwerfer blinkten, die Motorradhupen erklangen, es gab ein Aufheulen und Abschwellen, im Einklang mit Synthesizer und Trompete. Dann wurden die Helme aufgesetzt, und die 9 Harleys drehten zwei Runden um das Publikum, um sich dann wieder aufzustellen für das Finale, in welchem neben einem abermaligen An- und Abschwellen der Motoren und des Synthesizers auch die Scheinwerfer der Räder in bestimmten Rhythmen mit der Lenkstange geschwenkt wurden, was nicht zuletzt deshalb einen guten Eindruck machte, weil unterdessen die Nacht hereingebrochen war. Der Lärm verdichtete sich erneut, die Trompete begann ein Polizeihorn zu intonieren, und irgendwann war dann mal Schluss. Die ganze Zeit über floss unmittelbar daneben ein gedrosseltes Verkehrsaufkommen vorbei, und für einen kurzen Moment erfasste mich tatsächlich das Bewusstsein davon, dass aufgrund der Komposition die Harleys tatsächlich zu einem Instrument geworden waren, nicht einfach im städtischen Verkehr, dessen Zufälligkeiten oder eben Planbarkeiten, wie mit dem anschließenden Lichtsignal-Konzert auch thematisiert, natürlich ebenfalls einen Klangkörper ergeben, aber hier war es eben Herr Schnebel beziehungsweise als seine sichtbare Verkörperung der Dirigent, welche aus einer bloßen Geräuschequelle ein Orchesterinstrument machte, in einem ziemlich weiten Sinne halt.

Und das ist somit der Trost für alle, die absolut keinen Zugang finden zu modernern klassischer Musik: Die Komponistinnen und Komponisten sind hin und wieder absolut offen und großherzig und erlauben auch einem wenig gebildeten und von tonalen Systemen absolut vergifteten Publikum einen Einblick in die Wirklichkeit der Anordnung und Verdichtung von Klangkörpern, -räumen und -welten.

Ich widme dieser Aufführung nun nicht einfach deshalb so viel Raum, weil ich selber stark gelacht und genossen habe, sondern weil ich meine, dass man solche Konzerte öfter aufführen sollte und eben auch aufführen kann, vielleicht müsste man sie sogar zum Teil vollständig selber komponieren, und das, geschätzte Hörerinnen und Hörer, wäre somit meine Empfehlung aus neutraler Sicht: Wenn ihr das nicht sowieso schon jede Woche einmal macht, so beginnt doch einfach damit. Solche Aktionen kosten kaum Geld, soweit sie bewilligungspflichtig sind, stößt man bei den zuständigen Behörden gerne mal auf offene Ohren, und eben: Man kann sie absolut problemlos selber zusammen nageln, moderne Kunst und moderne E-Musik sind in diesem Sinne absolut demokratisch. Wer genug hat von der Volksdummheit der volksdümmlichen Musik, der soll sich zum Ausgleich einfach mal in ein solches Kompositions-Sprudelbad begeben, sowas ist schlicht und einfach lustig.

Im Kern steht dann nämlich der Umstand, dass die Komposition zwar als solche stattfindet, will sagen, der Komponist reiht tatsächlich Harley an Harley, lässt die FahrerInnen in bestimmten Rhythmen den Helm abnehmen und aufsetzen, arbeitet mit Licht, Motor und Gebrumm etcetera etcetera, aber so etwas wie ein tieferer Grund für die kompositorische Leistung oder gar ein Sinn darin entfällt vollständig. Und wenn wir das auf all die bekannten tonalen Leistungen umlegen, dann könnten sich gewisse Einsichten abzeichnen, zum Beispiel dass das tonale System selber eine mehrheitlich zufällige Einrichtung sei, welche sich aber in unseren Köpfen derart fest etabliert hat, als ob es sich um eine Naturwissenschaft handle. Das ist die Musik aber ohne jeden Zweifel nicht, und somit haben wir anhand der neuen Klassik schon wieder eines der kostbarsten Güter am Menschen heraus gekeltert, nämlich eben, den Zweifel.

Wunderbar. Während der Sonifizierung der Lichtsignalanlagen-Impulse, welche übrigens mit einem Referat eingeleitet worden war, fragte mich ein Mitmensch indischen oder tamilischen Zuschnitts, worum es sich hier handele. Soweit ich aus den Augenwinkeln gesehen habe, entschwand dieser Mitmensch relativ schnell wieder, und ich weiß nicht richtig, was für einen Eindruck er sowohl von der Vorstellung als auch von meiner Erklärung mitgenommen hat. Allein dies war den Abend wert.

Kommentare
22.09.2015 / 07:59 hikE, Radio Unerhört Marburg (RUM)
in der Frühschicht 22.9.2015
gesendet. Danke!